Maggi Lidchi-Grassi

Der Große Herr und die Himmlische Frau


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die sie, zusammen mit ihrem halbabgewandten Blick, gesetzt erscheinen ließ, und ganz und gar nicht wie das Mädchen, das er am Abend zuvor gesehen hatte. Und er, der den ganzen Tag an sie gedacht hatte, war stumm vor Furcht. Die ganze Zeit hatte sie wie Psyche in der Mitte des Parks vor seinen Augen gestanden, blaß und in ein mottenartiges Gewand gekleidet.

      Und nun saß dieses Mädchen in einer unendlich verwickelteren und unkontrollierbareren Parkbankwelt vor ihm, für die es keine Vorbilder und keine Bezugspunkte gab. Es war sein eigenes Buch.

      “Ich habe die ganze Zeit an dich gedacht”, platzte er heraus. Seine Ohren waren so heiß, daß er rot gewesen sein muß. Es klang so banal, daß er ihr den verwirrten Blick nicht übelnehmen konnte.

      Schließlich, als er schon dachte, daß es zu spät sei, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, sagte sie mit einer schwachen, unsicheren Stimme: “Was hast du gedacht?” Er konnte ihr nicht sagen, woran er gedacht hatte, und dennoch brannte er in dem Bedürfnis, ihr die Wahrheit zu sagen.

      “Du erinnerst mich an eine Krankenschwester in einem Buch, das ich gelesen habe. Ich hatte sie sehr gemocht.”

      “Ich bin ich.” Er fragte sich, wieviel Vorwurf in dieser Bemerkung lag, und dachte gerade, daß sie eine vernünftigere Person war als er, als sie sagte: “Ich habe auch die ganze Zeit an dich gedacht.” Er wartete, bis ihm der Sinn der Worte klar wurde.

      Eine solche Freude erfüllte ihn, daß der Park in eine andere Welt ausbrach, eine Welt der Märchenreiche, in der magische Laternen schwangen.

      Er war unfähig, etwas zu sagen.

      “Warum hattest du diese Krankenschwester gemocht?”

      “Sie war wie du.”

      Er hatte gelesen, daß die größten Gefahren einen sich selbst näher brachten. Doch brachte es ihn nur einem absurden Leiden näher.

      Kathy hatte gesagt: “Was ist mit jenen Menschen, die für die nächsten paar Jahre Nachttöpfe ausleeren? Wie kommen wir uns selbst näher?” Dann hatte sie sich plötzlich in seinem Arm befunden und ihm die Wange angeboten. Er hatte ihr den Rand des Mundes und das Haar geküßt, das nach Shampoo und Sauberkeit geduftet hatte. So unvergeßlich, daß er es plötzlich hier im Keller roch, wo es einen Augenblick lang die anderen Gerüche überdeckte.

      Die Tür schwang auf. Er nahm das Gewehr fester in die Hand. Es klapperte auf der Treppe, und ein völlig erschöpfter Metter ließ die Taschenlampe aufleuchten. “Ist alles hier in Ordnung, Kelly?”

      “Es scheint so, Sarge. Wie wär’s mit einem Kaffee?” Er grub einen Feldkocher aus seinem Rucksack hervor.

      “Ganz schön einsam hier unten, was?” fragte Metter.

      “Sag, Sarge, was geht vor? Wie lange bleib’ ich hier?”

      Metter zögerte. “Ich kann es dir genausogut sagen. Du wirst nicht viel länger in diesem Keller bleiben. Auf einem Hügel etwa eine Meile zurück ist 374 unter Druck, da, von wo wir gestartet waren. Sie haben Verstärkung angefordert. Das sind wir.”

      “Du meinst, nach all dem ziehen wir uns zurück?”

      “Das ist unsere Flanke. Sie muß gedeckt werden. Würde nicht viel nützen, wenn wir ganz Kreuzbach einnähmen und es dann von da reinkriegten. Wir würden schön dumm aussehen, um nicht zu sagen tot.”

      “Wir würden schön dumm aussehen, wenn wir zurückgingen, und erst recht die zerstörten Klosterbögen.”

      “Es ist ein absolutes Massaker da oben.”

      “Du meinst, es wird noch schlimmer werden, als was wir hinter uns haben?”

      “Das ist alles nur ein Picknick gewesen. Elite-SS-Truppen greifen ihre Stellungen an und kommen direkt in ihre Schützengräben. Das Wunder ist, daß sie sich überhaupt noch verteidigen.” Eine pelzige Ratte eilte durch den Raum und verschwand in einer Ecke. John leerte den Inhalt des kleinen Kaffeepäckchens in das heiße Wasser. Die Flamme tanzte wild herum, bevor sie sank, sprang ein letztes Mal verzweifelt auf und erstarb.

      John zitterte in der Dunkelheit, und der warme Becher spendete seinen Händen Trost. Warum hatte er gefragt? Plötzlich wünschte er sich, er könnte in diesem dunklen, eisigen, blutbespritzten und nach Erbrochenem riechenden aber sicheren Keller bleiben. Metters Stimme war wie die von einem, der mit den Händen rang. Er holte seinen Geist in die Gegenwart zurück. “... hat keinen Sinn ... mit der Reichweite, die diese Kanonen haben, können sie uns . mit der Reichweite, die diese Kanonen haben, können sie uns zu Staub zerschießen.”

      “Jedenfalls sind wir nicht in Form, um eine Kompanie zu ersetzen, die von Pfadfindermädchen belagert wird. Gibt es irgendwelche guten Neuigkeiten?”

      “Wir gehen ein paar Meilen zurück, in Richtung Coquerin, um Munition und neue Leute zu erhalten. Sie haben da oben bald keinen Proviant mehr. Wir werden Wasser und alles andere hinauftragen müssen.”

      “Das ist eine gute Neuigkeit?” fragte John.

      “Wenn wir die Neuen abholen, kriegen wir vielleicht ein warmes Essen und ein paar Stunden Schlaf.”

      Es war zu spät für Selbstmitleid. Es war der 22. Februar. Am 26. würde er neunzehn werden, falls er dann noch lebte. Hör auf, sagte er sich. Aber was er gern tun würde, wäre, einen letzten Brief an Kathy zu schreiben und ihr zu sagen, daß sie Zartheit und Schönheit in sein Leben gebracht hatte, daß, falls es je etwas Gutes an ihm gegeben hatte, es wegen ihr gewesen war – das heißt, falls er am Leben geblieben wäre, dachte er mit verwirrten Zeitformen. Und warum hatte er nie zuvor daran gedacht, ihr das zu schreiben? Wie war es geschehen, daß er nie verstanden hatte, wie sehr er sie liebte? Warum mußte er in eine solche Situation geraten, bevor es wie die Flamme eines Feldkochers aufsprang? Und plötzlich schien es ihm auf absurde aber tröstende Weise, daß das der Grund war, warum er sich hier befand: um sein Leben zu verstehen, was Lieben bedeutete, was das gleiche war wie Geben und in ihren Augen würdig sein. Nichts konnte schiefgehen, solange er Kathy liebte. Sie gab ihm den Mut, von Metters tonlos trauriger Stimme Abstand zu nehmen. Er würde leben.

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