Adrienne Träger

Endstation Containerhafen


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      „Guten Morgen, ihr Lieben, habe ich irgendetwas verpasst?“, fragte Anna, die am Vorabend von ihrer Fortbildung zurückgekommen war. Hektor lief schwanzwedelnd auf sie zu, um „hallo“ zu sagen. Sie kraulte ihm zur Begrüßung den Kopf.

      „Yepp, dank Hektor haben wir einen neuen Fall“, antwortete Peter.

      „Wie? Was meinst du mit ‚dank Hektor‘?“

      „Wir waren gestern mit Pjotr auf dem alten Militärgelände in Kaiserbad und Hektor hat da eine Leiche gefunden.“

      „Ne, komm, du verarscht mich doch. Pjotr hat da Geruchsartikel ausgelegt, das zählt nicht.“

      „Der Köter hat da tatsächlich eine Leiche gefunden“, schaltete sich Handerson ein. „Und Peter dachte wohl zuerst, das Vieh hätte keine Lust zu suchen. Hat Pjotr zumindest erzählt.“

      Peter warf ihm einen giftigen Blick zu. Er wusste, dass Handerson eher ein Katzen- denn ein Hundeliebhaber war, aber dass sein Vorgesetzter sich so abfällig über seinen treuen Partner äußerte, gefiel ihm gar nicht.

      „So, so, du hast also eine Leiche gefunden? Braver Hund.“ Anna streichelte ihm anerkennend über den Kopf. Hektor genoss es sichtlich, gelobt zu werden und im Mittelpunkt zu stehen.

      „Aber bevor wir dich auf den neuesten Stand bringen, erzähl doch mal, wie die Fortbildung war. Worum ging es da noch gleich?“

      „Um illegale Einwanderung. Das war total interessant“, Anna ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen. Ihr letzter Fall hatte die Mordkommission zu einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber geführt, weshalb Anna begonnen hatte, sich für das Thema zu interessieren. Seit Januar hatte sich die Situation in Amberland zudem dramatisch verändert. Es kamen immer mehr Menschen, um Asyl zu beantragen. Vermutlich hatte sich herumgesprochen, dass Amberland eine Alternative zu Deutschland darstellte, wo die Stimmung in Bezug auf die steigenden Asylbewerberzahlen immer gereizter wurde.

      Die Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes waren zunehmend überlastet und mussten teilweise zeitweilig geschlossen werden. Seitdem schossen Notunterkünfte für Flüchtlinge wie Pilze aus dem Boden. Vereine, Schulen und Elternverbände begannen, sich gegen die Umwidmung städtischer Turnhallen zu wehren aus Sorge, die Kinder könnten keinen Sport mehr machen. Während in den meisten westeuropäischen Ländern seit einigen Tagen kaum noch Flüchtlinge ankamen, da die Balkanroute von einigen Staaten vor gut einer Woche geschlossen worden war, blieb der Flüchtlingsstrom nach Amberland konstant, da die Menschen sehr schnell einen neuen Weg gefunden hatten, wenn sie nicht sowieso schon auf einer anderen Route unterwegs gewesen waren.

      „Wusstet ihr, dass weltweit derzeit fast sechzig Millionen Menschen auf der Flucht sind?“

      Peter war beeindruckt. „Sechzig Millionen? Das ist ja fast so viel, wie Amberland an Einwohnern hat!“

      „Und gut die Hälfte davon ist unter achtzehn Jahre alt. Von den sechzig Millionen kommen ungefähr 0,3 Prozent nach Deutschland und nach Amberland kommen etwa 0,05 Prozent. Also zumindest war das bis vor kurzem so; jetzt, wo die Balkanroute dicht ist, könnte sich das Verhältnis umkehren.“

      „Nullkommairgendwas? Das ist aber wenig. Wo bleibt denn der Rest davon?“

      „Die meisten Flüchtlinge beherbergt die Türkei, gefolgt von Pakistan, dem Libanon, dem Iran, Äthiopien und Jordanien. Nach Europa oder in die USA kommen nur ganz wenige. Weltweit werden 86 Prozent aller Flüchtlinge von so genannten ‚Entwicklungsländern‘ aufgenommen. Sollte man ja nicht meinen. Und dann jammern hier einige EU-Staaten herum, wobei doch jeder weiß, dass die Leute dort gar nicht hinwollen, sondern sie nur zur Durchreise nutzen. Einer der Referenten war ein Kollege vom Grenzschutz. Der hat uns in seiner Präsentation unter anderem gezeigt, was die Leute so an die Schleuser bezahlen müssen, wenn die zum Beispiel von Syrien weg wollen. Über die Grenze rüber in den Libanon sind das nur zwanzig bis einige hundert Euro, aber wenn die Menschen nach Europa wollen, dann kostet das bis zu 10.000 und mehr.“

      Peter pfiff leise durch die Zähne. „Kein Wunder, dass die die Leute auf klapprige Bötchen setzen und im Mittelmeer fast ersaufen lassen, wenn das so gut bezahlt ist.“

      „Der Kollege sagte, dass die Schleuser mit Drogenschmuggel viel mehr Geld verdienen könnten. Und wenn ich das richtig verstanden habe, wird wohl zumindest ein Teil der Summe auch erst bezahlt, wenn die Leute an der nächsten Station ankommen. Wenn die Kundschaft im Mittelmeer absäuft, ist das also irgendwie schlecht fürs Geschäft. Aber das Ganze ist wohl nicht so risikobehaftet wie Drogenschmuggel.“

      „Apropos ‚Flüchtlinge‘ — was ist eigentlich aus dieser komischen Sicherheitsfirma geworden?“, fragte Handerson.

      „Oh, hast du das nicht gelesen? Da war doch neulich ein ganz großer Bericht in der Zeitung“, antwortete Peter. „Die sind pleite. Nach dem Skandal haben die keine Aufträge mehr bekommen.“

      „Ich frage mich sowieso, wie die Typen eigentlich da arbeiten konnten“, schaltete sich Anna ein. „Laut Bewachungsverordnung darfst du den Job gar nicht machen, wenn du Mitglied in einer verfassungsfeindlichen Organisation bist oder warst. Da muss das Ordnungsamt richtig gepennt haben.“

      „Na ja, ich habe ja selbst im Computer nachgeschaut. Die waren nicht vorbestraft. Hätte das Amt im Führungszeugnis irgendwelche Vorstrafen mit ausländerfeindlichem Hintergrund entdeckt, hätten die vielleicht weitergebohrt, so aber eben nicht. Und die Wächtermeldung macht ja das Unternehmen und nicht der Mitarbeiter selbst, daher konnten die auch keine Bekanntschaft mit der Einstellung dieser Herren machen.“

      „Und wieso dieser komische Heimleiter da in der Position gearbeitet hat, ist mir auch schleierhaft“, sagte Anna. „Aber das hat man nun davon, wenn man als Bundesland nur die Finanzen sieht und dann einen Dienstleister einstellt, der Soziales und Sicherheit aus einer Hand anbietet. Da braucht man dann nicht einen Träger und ein Sicherheitsunternehmen zu bezahlen. Nur gut, dass dieser komische Saftladen pleite ist. Dann richten die wenigstens keinen Schaden mehr an. Aber bis zum Prozess dauert es wohl noch. Über den Fall haben wir übrigens auch gesprochen. Da hat die Politik wirklich schnell reagiert. Früher reichte es, wenn man die Basisqualifikation hatte, um in einer solchen Einrichtung zu arbeiten. Die besteht darin, dass man eine Schulung macht und sich vierzig Stunden lang irgendwas erzählen lässt. Ob man das auch verstanden hat, prüft keiner. Du musst nur anwesend sein und brauchst am Ende nicht mal einen Test machen. Seit Februar brauchst du dafür eine höhere Qualifikation. Für die musst du eine Prüfung ablegen, bei der immer sehr viele Leute durchfallen. In einem Teil der Prüfung geht es um ‚Umgang mit Menschen‘. Das ist zwar auch keine Garantie dafür, dass so etwas nicht noch einmal passiert, aber wenigstens kann man so sichergehen, dass die Leute zumindest irgendwie mit Menschen umgehen können. So, aber jetzt will ich alles über unseren neuen Fall wissen.“

      Carlshaven, Haus von Monique van Leeuwen, 15. März 2016, 10 Uhr

      Nachdem Björn und Peter ihre Kollegin auf den neuesten Stand gebracht hatten, war die Mordkommission zur Wohnung der Toten gefahren. Das Haus stand in einem gutbürgerlichen Stadtteil von Carlshaven. Bis Ostern waren es nur noch zwölf Tage und die Verstorbene hatte ihr Haus dementsprechend dekoriert. Im Vorgarten hingen überall bunte Plastikeier an den Buchsbäumen. Vor der Haustür stand eine Tüte mit Brötchen und eine Flasche Milch. Nichts deutete darauf hin, dass die Bewohnerin hierhin nicht mehr zurückkehren würde.

      Unter den persönlichen Sachen, die man bei der Leiche gefunden hatte, war auch ein Schlüsselbund gewesen. Handerson probierte die Schlüssel durch. Peter und Anna schauten derweil durch die Fenster im Erdgeschoss. Während Björn noch nach dem richtigen Schlüssel suchte, öffnete sich die Tür des gegenüberliegenden Hauses und eine ältere Dame trat heraus.

      „He, Sie, was machen Sie denn da?“

      Björn rollte mit den Augen. Wenn es auf eines Verlass gab, dann waren es neugierige Nachbarinnen einer gewissen Altersklasse. Er wandte sich der Dame zu und zeigte ihr seinen Dienstausweis.

      „Kommissar Handerson, Mordkommission Carlshaven. Das sind meine Kollegen, Sergeant Peter