Andie Cloutier

Gute Welt, böse Welt


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      Prolog

      Die kleine Marmorstatue stand mit hoch erhobenem Haupt auf einem Sideboard. Das Chiton reichte ihr bis zu den Sandalen, aus denen ihre Miniaturzehen heraus blitzten. In der rechten Hand hielt sie eine Lanze, die Finger ihrer linken Hand schlossen sich fest um ein Schild. Ihren Kopf zierte ein Helm aus dessen Mitte sich eine Sphinx erhob. Stolz überblickte die knapp 30 Zentimeter große Statue den hell erleuchteten Hausflur. Ihre winzigen Augen schienen die Eingangstür geradezu zu fixieren. Die Stille des Flures wurde jäh von schweren Atemzügen unterbrochen. Nur zögernd ließ eine Hand von dem dunklen Holz eines Türrahmens ab. Mit kraftlosem Schritt stolperte ein Mann in den Flur. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, unschlüssig darüber, ob sie bereits schwer genug waren, um der Erdanziehung nachzugeben oder ob sie sich noch etwas weiter sammeln sollten. Panisch schauten die Augen des Mannes zurück. Gehetzt wollten sie wissen, wie dicht der Verfolger ihm auf den Fersen war. Die Glühbirnen der alten Messingwandlampen weckten die goldenen Rocaille-Motive an der cremeweißen Wand förmlich zum Leben. Sie schlängelten sich zu einem bizarren Tanz im Takt seines Herzens. Seine linke Hand fasste sich an den plötzlich schmerzenden Brustkorb. Sein Atem ging schnell und flach. Der Druck auf seiner Brust machte ein tiefes Durchatmen unmöglich. Nach Halt suchend, stützte sich seine rechte Hand auf den rötlich gemaserten Marmor der Anrichte des Sideboards. Erneut sah er hinter sich. Kam es näher? Ja, er konnte es hören. Dieses Geräusch, das in seine Nervenbahnen eindrang, sich durch seinen gesamten Körper bahnte und tief in sein Gehirn fraß. Vereinzelte Tropfen auf seiner Stirn waren zu einem Entschluss gekommen. Losgelöst von der kalten, nassen Haut stürzten sie dem Boden entgegen. Jeder Atemzug intensivierte den Schmerz in seiner Brust. Er konnte das nicht länger ertragen. Die ständige Furcht in ihm und nun diese furchtbaren Schmerzen in seiner Brust. Es war zu viel. Seine Hand glitt von dem glatten, kühlen Marmor und stieß gegen die kleine, stolze Statue. Die Geräusche verstummten endlich. Der Schmerz war nur noch eine kurze Erinnerung, als er zu Boden sank und alles Leben seinem Körper entwich. Die kleine Statue fiel von der Anrichte, vorbei an den Türen des aus Palisander mit Wurzelholzfurnier bestehenden Sideboards, auf den Boden. Die Wucht des Aufpralls ließ das Holz des Parketts zersplittern, als sich der Helm der griechischen Göttin Athene unweit des Mannes in das Parkett bohrte. Ein dunkler Schatten glitt über den leblosen Körper hinweg der Haustür entgegen. Bevor der Schatten die Tür erreichte, verschwand er plötzlich. Eine Staubwolke rieselte zu Boden. Wie von einem unsichtbaren Sauger angezogen, setzten sich die kleinen Körnchen in Bewegung bis sie durch eine offene Tür aus dem Blickfeld der kleinen Statue verschwanden.

      1.Kapitel

      In der dunklen Pfütze auf dem Asphalt spiegelte sich das rhythmische Aufleuchten eines orangefarbenen Warnlichts verschwommen wieder. Die stetig einprasselnden Regentropfen verhinderten ein klares Spiegelbild des Warnlichts der Ampelanlage. Ein alter, brauner Herrenstiefel landete inmitten der Pfütze, verdrängte das Wasser und ließ es zu allen Seiten aufspritzen. Im Schein der im Wind schwankenden Straßenlaterne war zu sehen, wie sich die Hose des Mannes fest an die Beine presste. Große, eisige Tropfen trafen auf einen grauen Parka. Die durchsickernde Nässe verfärbte ihn dunkelgrau, fast schwarz. Mit dem Gesicht tief unter der Kapuze verborgen eilte der Mann an diesem späten, unfreundlichen Herbstabend über eine verlassene Kreuzung. Ihm machten weder der Wind noch der Regen etwas aus. Das waren kleine Nichtigkeiten. Er war auf einer wichtigen Mission, musste einen einsamen Kampf gegen Ungerechtigkeit ausfechten. Der Gedanke daran spornte seinen Zorn an, erhitzte seinen Körper. Warum verdampfte der Regen nicht, sobald er ihn berührte? Das wunderte ihn zwar, hielt ihn jedoch nicht auf. Zielsicher öffnete er die unverschlossene Eingangstür eines mehrstöckigen Gebäudes. Er passierte den Aufzug ohne jegliches Interesse daran und stieß die Tür zum Treppenhaus auf.

      Hinter einem Fenster, einige Stockwerke oberhalb der ungemütlichen Kreuzung, war es bedeutend freundlicher. Das regelmäßige Ticken der großen Standuhr bildete ein beruhigendes Hintergrundgeräusch in einem ansonsten stillen, fast menschenleeren Empfangsbereich. Gegenüber der Standuhr, die neben den Sesseln des Sitzbereichs thronte, befand sich die Anmeldung. Hinter der aus exquisitem, dunklem Holz bestehenden Theke fuhr eine kurzhaarige, brünette Frau einen Computer herunter. Während das leise Summen erlosch, drückte einer ihrer sorgfältig manikürten Finger eine Taste der Gegensprechanlage. „Rebecca, ich habe deinen Terminplan für morgen aktualisiert. Wenn du mich heute nicht mehr benötigst, mache ich jetzt Feierabend.“

      Eine weibliche Stimme erklang aus dem Lautsprecher der Anlage. „Vielen Dank, Natascha. Wir sehen uns morgen.“

      Natascha stand auf und verschwand hinter der, in einem warmen Gelbton gestrichenen Wand, in einem Nebenraum. Ihr Finger lag bereits auf dem Schalter des Kaffeeautomaten. Sie sah auf ihre Armbanduhr und ließ den Automaten an. Aus einem schmalen Schrank einer Nische nahm sie ihren Mantel. Nachdem sie den Sitz ihrer perlweißen Bluse überprüft hatte, zog sie sich ihren Mantel über und holte ihre Handtasche aus dem Schrank.

      Der dicke Teppich verschluckte die Trittgeräusche ihrer Schuhe, als sie nun zur Tür schritt. Erst im Flur machten ihre Schuhe klick, klack, klick, klack, während sie in Richtung Fahrstuhl ging. Sie betätigte den Knopf und wartete auf die Ankunft des Lifts.

      Nach nur wenigen Augenblicken glitt die Tür auf und gab die Sicht auf zwei Männer in blauen Arbeitsanzügen frei. Mitsamt einem Putzwagen und einem Staubsauger verließen die beiden Männer den Aufzug. Ein batteriebetriebenes Radio stand ganz oben auf dem Putzwagen, übertrug live ein Fußballspiel und beendete die Ruhe auf dieser Etage.

      „So früh schon Feierabend, Natascha?“ erkundigte sich einer der beiden Männer und lächelte sie schelmisch an.

      Sie erwiderte sein Lächeln. „Ja, Manny. Ausnahmsweise mache ich mal richtig früh Feierabend. Ich habe die Kaffeemaschine für euch angelassen.“

      Manny umarmte sie spontan. „Du bist ein Engel. Ich wünsche dir einen wunderbaren Feierabend.“

      „Den wünsche ich euch beiden auch.“ Sie betrat die Kabine, drückte die EG-Taste und schenkte den beiden ein letztes Lächeln, bevor sich die Kabinentür schloss.

      Natascha mochte die beiden. Sie trafen regelmäßig aufeinander, wenn Natascha Feierabend machte und die beiden Männer mit ihrer Arbeit auf dieser Etage begannen. Für Natascha war es mittlerweile ein Ritual den Kaffeevollautomaten anzulassen, damit sich die beiden mit einer Tasse Kaffee stärken konnten.

      Unnachgiebig drängte der Wind die Regentropfen gegen das Fenster. Sie barsten an der Scheibe, rannen in kleinen Sturzbächen hinab in die Tiefe. Schräg rechts hinter dem Fenster saß Dr. Rebecca Brandt an ihrem Schreibtisch und schaltete ihren PC aus. Sie dehnte ihren Hals langsam von einer Seite zur anderen. Ihre verspannten Muskeln sehnten sich nach einer Massage. Doch ein Blick auf ihre Armbanduhr bestätigte ihre Befürchtung: dafür war es heute zu spät. An diesem Abend bekam sie keinen Termin mehr. Ihre Muskeln mussten noch etwas länger mit der Verspannung zurechtkommen. Sie löste ihre zu einem Knoten gebundenen, dunklen Haare, die ihr umgehend bis weit über die Schultern fielen und starrte zu dem Fenster. Hinter ihr lag ein langer Tag. Es war jedes Jahr das Gleiche. Zu dieser Jahreszeit bekam sie regen Zulauf von Patienten mit Winterdepressionen. Was bei einem Herbsttief wie diesem nicht weiter verwunderlich war. Die Aussicht dort hinaus, in den vom Wind getriebenen regelrecht peitschenden Regen zu müssen, war wenig verlockend. Rebecca entglitt ein Seufzen. Etwas lenkte ihre Aufmerksamkeit zur Tür. Ein unerwarteter Gast hatte wortlos ihr Sprechzimmer betreten. Am Saum seines völlig durchnässten, grauen Parkas bildeten sich dicke Tropfen, die schwer zu Boden fielen.

      „Die Sprechzeiten sind heute leider vorbei. Vereinbaren Sie doch bitte morgen früh einen Termin“, teilte Rebecca ihrem späten Gast mit.

      „Es ist Ihre Schuld!“ fuhr der Mann sie an und zog seine rechte Hand aus der Tasche seines Parkas. Zum Vorschein kam eine Pistole, deren Mündung er jetzt auf Rebecca richtete. Mit der freien Hand schob er sich die Kapuze vom Kopf. Trotz ihres heftig schlagenden Herzens versuchte Rebecca ruhig zu bleiben und sich auf ihn zu konzentrieren. Er war von Leid gezeichnet, stellte sie fest. Die Haut um seine Augen und um seinen Mund hatte tiefe Furchen, wirkte regelrecht grau. Sein ungepflegtes Haar mochte einst dunkel gewesen sein, doch davon zeugten nur noch wenige Strähnen, die an der Masse an Grau herausstachen. Rebecca kannte den Mann nicht. Er war nicht ihr Patient. Ungeachtet der Pistole