Andie Cloutier

Gute Welt, böse Welt


Скачать книгу

ihm auf. Mit vorwurfsvoller, geradezu enttäuschter Miene starrte sie Ulrich an.

      Der laute Schuss lichtete endlich den Nebel, der Rebecca seit dem heftigen Schlag umgab. Ihre Sinne kehrten zurück und sie sah zu dem Schützen auf. Offenbar stand Pauly unter Schock. Mit weit aufgerissenen Augen stierte er zu der Eingangstür der Praxis auf der anderen Seite des Vorzimmers. Rebecca nutzte die sich ihr bietende Gelegenheit. Schnell richtete sie sich auf. Etwas zu schnell, aber den Schwindel der sie erfasste, ignorierte sie. Rebecca versuchte die Waffe Paulys Hand zu entreißen. Unter normalen Umständen wäre sie zu solch einer Tat nicht fähig. Derartige Aktionen waren lebensgefährlich. Aber unter normalen Umständen gab es auch keine auf sie gerichteten Waffen. Sie hatte keine andere Wahl. Sie musste etwas unternehmen. Er hatte bereits geschossen. Sie wusste nicht warum. Wie hatte sie ihn bloß derartig falsch einschätzen können? Seine Wut und seine Verzweiflung so unterschätzt? Sie musste die Pistole in ihren Besitz bekommen, bevor er erneut schießen konnte. Erst dann war sie sicher. Auf keinen Fall wollte sie von ihm erschossen werden. Pauly leistete trotz seines Schocks erhebliche Gegenwehr. Er war nicht bereit ihr die Waffe zu überlassen. Sie rangen darum. Der Lauf der Pistole richtete sich zwischen ihren Körpern nach oben. Dann durchdrang erneut ein ohrenbetäubender Knall die Praxisräume. Rebecca wartete auf den einsetzenden Schmerz, der einem Einschlag in ihren Körper unweigerlich folgen musste. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen klappte Pauly direkt vor ihr zusammen, schlug hart mit dem Rücken auf dem Boden auf. Rebeccas Magen rebellierte, als sie das von der Kugel zerfetzte Gesicht Paulys sah. Der dicke, hellgraue Teppich unter ihm sog die rote Flüssigkeit begierig auf.

      2.Kapitel

      Kriminaloberkommissar Leon Zimmermann hielt die halbvolle Kaffeekanne in seiner rechten Hand und goss die schwarze, aromatische Brühe in eine Tasse während sein PC hochfuhr. Mit diesem Ritual begann er jedes Mal seinen Dienst. Den bröckelnden Wandputz oberhalb der Kaffeemaschine beachtete er nicht. Überhaupt hatte er keinen Blick für den traurigen, renovierungsbedürftigen Zustand der Inspektion. Seine Gedanken waren ganz woanders. Er konnte es kaum erwarten, dass sein PC endlich einsatzbereit war. Die Überprüfung gewisser Bankdaten gehörten auch zu seinem täglichen Ritual. In dieser Kleinstadt verlief der Dienst meistens eher ruhig. Was einer der Vorteile gegenüber einer Großstadt war. Zwar war es nie wirklich langweilig, aber die hiesigen Einsätze beschränkten sich auf kleinere Delikte, wenn man mal von der Einbruchserie absah, deren Täter einfach nicht beizukommen war. Leon ging zu seinem Schreibtisch und blickte auf den Monitor. Er stellte seine Tasse auf den Tisch, setzte sich und gab einige Daten ein. Egal wie lange er auch auf die Kontendaten starrte, sie änderten sich nicht. Seit nun mehr fünf Jahren tat sich nichts. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand fünf Jahre lang nicht auf sein Konto zu griff? Selbst wenn es mittlerweile leicht ins Soll abgerutscht war, weil es keinerlei Einzahlungen gegeben hatte. Frustriert schloss er die Seite mit einem heftigen Fingerdruck.

      "Was genau erwartest du auf dem Konto zu finden?" erklang die Stimme seines Kollegen Dieter Erhardt, dessen Schreibtisch nur wenige Meter von seinem entfernt stand.

      Leon ging nicht auf die Frage ein. "Gibt es was Neues von der Krankenkasse?"

      Dieter schüttelte seinen Kopf. "Nein. Falls sich daran etwas ändern sollte, melden sie es umgehend."

      Leon sah zu Dieter rüber. Dieter war ein Urgestein der Inspektion. Obwohl er seit einer Ewigkeit hier war, hatte er niemals die Ambitionen auf der Karriereleiter empor zu steigen. Er könnte die Inspektion mit Leichtigkeit leiten, aber daran hatte Dieter kein Interesse. Seine Position, sein Job, reichte ihm völlig und der hatte Spuren hinterlassen. Wenige graue Haare zierten seinen Kopf, umgaben die blanke Platte seines Schädels wie einen Ring. Dieter behauptete gerne, dass das am ständigen Raufen der Haare lag. Mit den Jahren hatte er seine durchtrainierte Figur verloren, war deutlich fülliger geworden. Trotz seiner nicht unbedingt optimalen körperlichen Verfassung war er ein hervorragender Polizist und der leitende Ermittler in dem Vermisstenfall, der Leon keine Ruhe ließ.

      Menschen verschwanden zwar täglich, aber sie konnten sich nicht in Luft auflösen. Irgendwo musste Daniel sein. So ungern Leon die Möglichkeit in Betracht zog, er musste es wissen: "Gab es in letzter Zeit eine Prüfung bei der Bank? Ist Geld verschwunden?"

      Dieter schüttelte den Kopf. "Es gab in den letzten zwei Jahren sogar zwei Prüfungen und nein, dein Bruder hat kein Geld von seinem Arbeitgeber abgezweigt. Das Thema hatten wir bereits mehrfach, Leon."

      Leon runzelte die Stirn. "Er war in den letzten fünf Jahren nicht krank und er hat kein Geld. Das ergibt keinen Sinn."

      Dieter stand auf, ging zu Leon rüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Es ergibt Sinn, wenn..."

      "Er tot wäre", unterbrach Leon ihn. "Aber selbst dann muss es doch irgendwo sterbliche Überreste geben. Hast du nicht alles absuchen lassen?"

      Bevor Dieter antworten konnte, streckte ihr Chef Müller seinen Kopf in ihr Büro. "Es gab eine Schießerei in der Hauptstraße 442. Ein Opfer, der Schütze ist tot. Erhardt, Zimmermann, übernehmen Sie das!"

      Tack, tack, tack, machte der Absatz eines schwarzen Damenstiefels, als der in ihm steckende Fuß ungeduldig auf dem Linoleumboden des Fahrstuhls trippelte. Ein manikürter, in auffälligem Rot lackierter Finger drückte die Taste zu der dritten Etage. Die Tür schloss sich begleitet von einem leisen Brummen. Der Fahrgast kramte in einer Handtasche nach einem Lippenstift. Den Spiegel im Inneren des Lifts nutzend, zog sich die Frau ihre Lippen nach. Die Farbe war exakt auf ihre Nägel abgestimmt.

      Julia Sommer legte sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Schließlich konnte man ja nie wissen, wem man wann und wo begegnete. Selbst um diese Uhrzeit in einem wahrscheinlich fast menschenleeren Haus konnte es durchaus Überraschungen geben. Ihr Fuß begann erneut zu trippeln, begleitet von ihrem knurrenden Magen. Wieso konnte Rebecca nicht ein einziges Mal pünktlich sein? Denn wenn sie es wäre, würden sie bereits ihre Vorspeise bei ihrem Lieblingsitaliener genießen können. Aber nein, Rebecca war natürlich noch in ihrer Praxis und hielt es nicht für nötig, auf Julias Nachrichten zu antworten. Selbstverständlich könnte Julia einfach im Restaurant auf Rebecca warten, aber sie wusste, dass Rebecca ihre Verabredung durchaus schlichtweg vergessen haben konnte und somit gar nicht auftauchen würde. Deswegen entschied sich Julia ihre Freundin höchstpersönlich zum Essen zu geleiten.

      Regentropfen glitzerten wie kleine Edelsteine auf der Oberfläche ihres schwarzen Mantels als sich die Fahrstuhltür öffnete und Julia den Flur betrat. Der unerwartete Anblick ließ sie jäh mitten in der Schrittbewegung innehalten.

      Auf dem Boden vor der Praxis, besser gesagt, unter dem Türrahmen lag ein Mann. Sein Körper wurde von einem zweiten Mann, der neben ihm kauerte, geschüttelt.

      „Manny! Manny!“ rief er verzweifelt flehend.

      Julia schüttelte sich kurz. Die Regentropfen flogen von ihrem Mantel. Das war keine Art von Überraschung, die sie erwartet hatte. Energisch ging sie auf die beiden Männer zu. Sie tastete nach dem Puls des am Boden liegenden. „Das Rufen können Sie sich sparen. Er hört Sie nicht mehr. Er ist tot. Rufen Sie lieber die Polizei.“

      „Das habe ich“, murmelte der Mann.

      Ohne weiter auf den Trauernden einzugehen, richtete Julia sich wieder auf, schritt vorsichtig an dem Toten vorbei in die Praxis. Unter ihrem Fuß erklang ein knackendes Geräusch, als sie doch auf etwas trat. Julia blickte hinunter. Der Absatz ihres rechten Stiefels steckte im Display eines Handys. Sie hob ihren Fuß an, schüttelte das Handy ab, als wäre es ein lästiges Insekt und ging weiter. Julia fand ihre Freundin im Sprechzimmer.

      Rebecca hockte auf dem Boden vor ihrem Schreibtisch. Sie hatte ihre Beine an ihren Körper gezogen, umschloss sie fest mit ihren Armen und starrte ins Leere. Ihre rechte Wange war knallrot.

      Julia warf nur einen kurzen Blick auf dem im Sprechzimmer am Boden liegenden Mann. Nach seinem Puls brauchte sie nicht zu fühlen. Das hatte sich eindeutig erübrigt. Wozu brauchte jemand ohne Gesicht einen Puls? Anstelle eines Gesichts gab es nur zerfetzte Masse zu sehen.

      „Wenn ich irgendetwas im Magen hätte, würde ich jetzt kotzen.“

      Leon