Andie Cloutier

Gute Welt, böse Welt


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442.

      "Du nimmst dir Etage für Etage vor", sagte Dieter zu Leon.

      Leon blickte ihn erstaunt an. "Wozu? Der Schütze ist tot."

      Dieter holte tief Luft. "Woher wissen wir, dass es ein Einzeltäter ist? Vielleicht gibt es einen Komplizen, der uns irgendwo im Gebäude auflauert."

      Leon schüttelte den Kopf. "Das ist doch recht weit hergeholt, findest du nicht? Unsere Informationen besagen etwas völlig anderes."

      "Auf wie vielen solcher Einsätze warst du bisher, Leon? Richtig, auf keinem. Also tu was ich dir als Vorgesetzter sage und sichere Etage für Etage." Dieter ließ nur sehr selten den Chef raushängen, doch wenn er es tat, richtete sich Leon danach. Wenn auch überaus unwillig. Er stieß die Tür zum Treppenhaus auf, gefolgt von einigen Kollegen. Der Flur der ersten Etage war ruhig und verlassen. Im zweiten Stock sah es nicht anders aus. Nun näherte er sich dem Tatort. Dementsprechend war es im Flur der dritten Etage alles andere als ruhig. Zwei Streifenpolizisten kümmerten sich um einen Mann mit von Tränen überströmten Gesicht. Die Arbeitskleidung, die der Mann trug, wies ihn als Mitglied einer Putzkolonne aus. Wie der Tote auch, bemerkte Leon, als er an dem Kollegen der Spurensicherung vorbeiging, der die Leiche im Eingangsbereich einer Praxis näher in Augenschein nahm. Ein sonderlicher roter Punkt auf dem Schriftzug der Eingangstür zog Leons Aufmerksamkeit für den Bruchteil einer Sekunde auf sich, bevor er den Anmeldebereich passierte. Er hörte Dieters Stimme und folgte ihr in ein Sprechzimmer.

      Die zahlreich anwesenden Personen ließen den Raum trotz seiner nicht gerade geringen Größe regelrecht klein wirken. Zwei uniformierte Kollegen, Dieter, eine weitere Leiche und zwei Frauen füllten das Zimmer aus. Der Umriss des Toten wurde eingezeichnet, die Leiche fotografiert. Dieter hockte neben einer der beiden Frauen, die zusammengesunken vor einem Schreibtisch auf dem Boden saß. Das musste eine Zeugin sein, vermutete Leon. Die Frau umklammerte ihre Beine fest mit ihren Armen. Ihren Kopf hielt sie gesenkt, wodurch ihr das lange, dunkle Haar wie ein Vorhang vor das Gesicht fiel. Dieters Fragen beantwortete sie sehr leise und geradezu apathisch. Die offensichtlich unter Schock stehende Frau tat Leon leid, selbst wenn es sich bei ihr um Dr. Rebecca Brandt persönlich handeln sollte. Den Namen hatte Leon an der Tür gelesen und er hatte keine guten Erfahrungen mit Psychotherapeuten gesammelt. Seine letzte Begegnung mit einem Exemplar der Sorte hatte ihm unerwünschten Urlaub und eine Therapie zur Aggressionsbewältigung eingebracht. Wie genau der sogenannte Doktor zu der Zeit zu der Erkenntnis gelangte, blieb ihm ein Rätsel. Der Therapeut hatte das Gespräch auf Daniel gelenkt und dabei war Leon ein klein wenig aufbrausend geworden. Aber wer ließ sich schon gerne sagen, dass man seinen vermissten Bruder loslassen musste? Er jedenfalls nicht und genau das hatte er dem Therapeuten nicht gerade höflich mitgeteilt. Seitdem stand Leon mit den Psychofritzen auf Kriegsfuß. Dennoch konnte er in diesem Moment nicht anders, als für das am Boden sitzende Häufchen Elend Sympathie zu empfinden.

      Die zweite anwesende Frau unterbrach ein nerviges Trippeln mit dem Fuß und schob sich direkt in Leons Blickfeld. "Hi", hauchte sie mitsamt einem verführerischen Augenaufschlag. "Julia Sommer." Sie streckte ihm ihre perfekt manikürte Hand entgegen.

      Leon betrachtete die Hand kurz, ergriff sie aber nicht. "Sind Sie eine Zeugin?"

      "Nein. Glücklicherweise war schon alles vorbei, als ich dazu kam. Dennoch, falls ich Ihnen helfen kann, ganz gleich wobei...", sie hatte ihre Hand zwischenzeitlich zurückgezogen und hielt ihm jetzt eine Visitenkarte hin. "...rufen Sie mich an. Ich stehe Ihnen voll und ganz zur Verfügung. Tag und Nacht.“ Perplex nahm Leon die Karte entgegen. Sie befanden sich an einem Tatort mit zwei Leichen und diese Rothaarige hatte nichts Besseres zu tun, als ihn anzubaggern? Ernsthaft?

      Dieter richtete sich auf, kam zu Leon herüber und zog ihn etwas von der aufdringlichen Julia Sommer weg. "Bei dem Toten hier handelt es sich um Ulrich Pauly. Seine Tochter Natalie wurde vor drei Jahren von einem Betrunkenen ohne Führerschein überfahren. Das war eine schlimme Geschichte damals, erinnerst du dich? Anfang dieser Woche wurde der Unfallfahrer aus der Haft entlassen. Dr. Brandt ist die Therapeutin des Fahrers. Pauly tauchte hier bewaffnet auf und bedrohte Dr. Brandt mit der Pistole. Als die Männer von der Putzkolonne die Praxis betreten wollten, hat Pauly geschossen. Er hat den armen Kerl direkt ins Herz getroffen. Dr. Brandt versuchte Pauly die Waffe zu entreißen, wodurch sich ein weiterer Schuss löste. Der dann so endete." Dieter wies auf den toten Pauly. Leon konnte sich kaum vorstellen, wie die zierlich wirkende Frau mit Pauly um die Pistole gerungen hatte. Pauly war ein großer Mann. Leon tippte auf 1,90 Meter. Er ging vor ihr in die Hocke, ähnlich wie Dieter es kurz zuvor noch getan hatte. Erst jetzt konnte er durch den Vorhang der Haare ihr Gesicht sehen. Sie war verletzt. Ihre Wange schimmerte leuchtend rot. Ein Hämatom begann sich zu bilden. Irritiert spürte er das Bedürfnis sie in seine Arme zu nehmen, um sie zu trösten. "Sie müssen ins Krankenhaus", sagte er stattdessen und klang dabei vielleicht etwas ruppig.

      "Mir geht es gut." Sie starrte an ihm vorbei, schien ihn nicht wirklich zu registrieren.

      "Sie haben da einen bösen Schlag abbekommen und Sie stehen unter Schock. Ich rate Ihnen dringend dazu, sich ärztlich untersuchen zu lassen", versuchte Leon es erneut, aber diesmal in einem sanfteren Ton.

      Sie war eine schöne Frau mit geradezu perfekt symmetrischen Gesichtszügen, hohen Wangenknochen und einer zart wirkenden Haut, die unter normalen Umständen sicherlich nicht derartig blass war. Ihr langes, dunkelbraunes Haar erinnerte ihn an Seide. Er frage sich, ob es sich auch wie Seide anfühlte. Der Wunsch seine Arme um sie zu legen, sie an sich zu drücken und fest umschlossen zu halten wurde schier übermächtig.

      "Das ist nicht nötig. Mir geht es gut", wiederholte sie.

      Er mochte den Klang ihrer Stimme. "Sie könnten eine Gehirnerschütterung haben oder es könnte etwas gebrochen sein." Leon war nicht bereit aufzugeben, obwohl er selbst nicht genau wusste, wieso ihm das wichtig war. Wenn sie nicht ins Krankenhaus wollte, war das schließlich ganz allein ihre Sache, oder etwa nicht? Jetzt blickte sie ihn zum ersten Mal direkt an.

      Die Frau hatte unglaubliche Augen, leicht mandelförmig und dunkelbraun. "Es ist ein Bluterguss, der in den nächsten Tagen nicht nur schmerzen, sondern auch verschiedene Farben annehmen wird. Mit meinem Gebiss und meinen Gesichtsknochen ist alles in Ordnung. Darf ich jetzt nach Hause?" fragte sie nun mit erstaunlich fester Stimme.

      "Ich kann Sie nicht zu einem Krankenhausbesuch zwingen", stellte Leon fest, so gerne er sie auch zu einem Arzt verfrachtet hätte. "Aber Sie sollten sich auf keinen Fall selbst hinter das Steuer setzen."

      "Kein Problem. Ich bringe sie nach Hause", schaltete sich Julia Sommer plötzlich ein und kam näher.

      Die Frau versuchte aufzustehen, was ihr nicht leichtfiel. Leon hielt ihr seine Hand entgegen, um ihr zu helfen. Sie ignorierte die Hand und kämpfte sich alleine auf die Füße.

      In dem Moment wusste Leon mit Sicherheit, dass es sich bei der Frau um Dr. Rebecca Brandt höchstpersönlich handelte. Sie war stur und wusste alles besser, das war eindeutig ein Psychofritze. Julia Sommer half ihr in den Mantel.

      Leon steckte Rebecca seine Karte in die Manteltasche und sagte leise: "Falls Sie sich doch anders entscheiden und Hilfe benötigen, melden Sie sich." Die Worte waren heraus, bevor er überhaupt nachgedacht hatte. Fehlte bloß, dass er wie die Rothaarige kurz zuvor, Tag und Nacht hinzufügte. Aber nun waren seine unbedachten Worte nicht zu ändern. Obwohl er sich darüber ärgerte, denn es klang selbst für ihn wie eine Anmache. Nicht nur für ihn, bemerkte er durch Julias missbilligenden Blick. Sie legte ihren Arm um Rebeccas Schulter und führte sie hinaus.

      Leons Blick folgte ihnen, bis sie im Gang verschwunden waren. "Was zum Teufel war das denn?" erkundigte sich Dieter neben ihm verblüfft.

      "Nichts", entgegnete Leon kurz. Also hatte sogar Dieter seinen erbärmlichen Anmachversuch mitbekommen. Das war ja ganz großartig.

      „Meinst du, wir können uns unterwegs noch etwas zu Essen besorgen?“

      Der Klang von Julias Stimme riss Rebecca aus ihren Gedanken. Erst jetzt erkannte sie Häuser in den schemenhaften Umrissen, die an dem Autofenster vorbeizogen. Obwohl sie die bisherige Fahrtzeit damit zugebracht hatte aus dem Fenster zu schauen, hatte sie nichts wirklich gesehen.