Miene wurde ernst. „Rebecca, Ben ist seit zwei Jahren tot. Findest du nicht, dass…“
„Seit fünfundzwanzig Monaten“, unterbrach Rebecca sie.
Julia holte tief Luft. „Zählst du etwa auch die Tage? Du musst es endlich hinter dir lassen. Dein Leben weiterleben und aufhören einem Toten bis in alle Ewigkeit nachzutrauern.“ Julia wusste, dass Rebecca ihren Verlobten mitsamt einem Heiligenschein auf eine Empore gehoben hatte. Dabei war Ben alles andere als perfekt gewesen. Julia hielt sein Verhalten für sehr egoistisch. Immerhin bereiste er als Arzt im Rahmen einer Hilfsorganisation die Welt, begab sich an Orte zu denen kein Mensch mit halbwegs funktionierendem Verstand je gehen würde. Er verließ einen gesicherten Bereich, um in einer Gefahrenzone in die Luft gesprengt zu werden, anstatt hier mit ihrer besten Freundin die Hochzeit zu planen. Welcher normale Mensch machte so etwas?
„Ich kann es nicht hinter mir lassen“, sagte Rebecca leise.
Das war alles Julias Schuld. Wenn sie es auf der Party zu Beginn ihres Studiums nicht mit dem Trinken übertrieben hätte, wäre sie nie mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus gelandet. Und Rebecca, die sie natürlich besorgt begleitet hatte, wäre nie dem ehrgeizigen, jungen Assistenzarzt begegnet. Ben Marx hatte Rebecca regelrecht aus den Socken gehauen. Das war ja auch verständlich. Ben war stets von Grund auf optimistisch, nie übellaunig gewesen und hatte für jeden ein freundliches Wort. Sogar für Julia, als sie versucht hatte auch bei ihm zu landen. Er brachte es fertig, sie freundlich und nett abzuweisen. Das einzige Manko an Ben Marx war die Tatsache, dass er sich drei Wochen vor dem Hochzeitstermin mit Rebecca irgendwo in Asien oder im mittleren Osten, niemand wusste das genau, hat in die Luft sprengen lassen und nichts, rein gar nichts, zurückließ, wovon Rebecca sich verabschieden konnte.
Julia holte tief Luft. „Als deine Therapeutin sage ich dir, dass du dein Leben weiterleben musst. Glaubst du Ben hätte gewollt, dass du ewig um ihn trauerst? Wenn er es könnte, würde er dir einen Tritt in deinen Hintern verpassen, damit du endlich in die Gänge kommst.“
Rebecca lächelte. Es war nur ein kleines Lächeln, aber immerhin. „Du hast recht.“
Julia sah sie entrüstet an. „Natürlich habe ich recht! Hast du daran etwa gezweifelt?“
Rebecca rollte mit den Augen. „Ich werde darüber nachdenken.“
„Du sollst nicht darüber nachdenken, sondern telefonieren“, sagte Julia.
„Ich werde darüber nachdenken“, wiederholte Rebecca. „Und ich erwarte gleich einen Patienten.“
Julia stand auf. „Ist ja gut. Ich bin schon weg. Aber glaube ja nicht, dass sich das Thema damit erledigt hat. Du wirst ihn anrufen!“
Kaum hatte Julia den Raum verlassen, kündigte Natascha den nächsten Patienten an.
Robert Kurkov war ein großer, stämmiger Mann, der beim Eintreten für einen kurzen Moment den gesamten Türrahmen ausfüllte. Rebecca reichte ihm zur Begrüßung die Hand, obwohl sie wusste wie sinnlos dieses Unterfangen war. Robert war seit Monaten ihr Patient und tat sich seit geraumer Zeit nicht mehr mit einem einfachen Händeschütteln ab. Er zog sie in seine Arme, drückte sie beherzt an seine Brust. „Doc, was für eine schlimme Tragödie!“ Etwas leiser fügte er hinzu: „Die Waffe stammt nicht von mir. Aber falls Sie jetzt eine zum Selbstschutz benötigen, helfe ich Ihnen gerne dabei. Wir finden schon etwas Passendes.“
„Das ist nicht nötig, Robert“, sagte sie ihm und löste sich aus seiner Umarmung. Es fiel ihr sehr schwer, sich an die herzlichen Umarmungen des Mannes zu gewöhnen. Dass er bereits über die gestrigen Ereignisse informiert war, wunderte sie nicht. Er betrieb einen Import- und Exporthandel für Fahrzeuge. Das war zumindest die offizielle Bezeichnung. Doch es war lediglich eine Tarnung für die Geschäfte, denen Robert hinter den Kulissen nachging.
Er verstand ihre Geste und setzte sich nun in den Sessel. „Eine wirklich schlimme Sache. Es gab zwei Tote?“
Rebecca widerstrebte es schon wieder darüber zu sprechen. Warum ignorierte das jeder? „Ja, ein Mann der Gebäudereinigung und der Täter selbst. Genug davon. Wie geht es Ihnen, Robert?“
Roberts Miene war finster. „Der Täter hat Glück, dass er schon tot ist.“ Doch dann leuchtete sein Gesicht auf. „Mir geht es wunderbar, Doc, einfach wunderbar! Lilia und ich haben jetzt zwei Pflegekinder. Ganz süße Racker sind das, die beiden. Ihre Herkunft ist auch so eine tragische Geschichte: der Vater im Knast, die Mutter auf Entzug und die beiden Kleinen mitten drin in dem Chaos. Tragisch, wirklich tragisch.“
Rebecca traute ihren Ohren nicht. Wer, um Himmelswillen, vertraute den Kurkovs zwei Kinder an? Wann war das passiert? Es fiel ihr außerordentlich schwer, sich den Waffenhändler als fürsorglichen Vater vorzustellen. Allerdings musste sie zugeben, dass bei Robert selten etwas in ein allgemein übliches Bild passte. Schlafstörungen hatten ihn vor Monaten zu ihr geführt. Sein Gewissen hatte ihm den Schlaf geraubt. Sie wusste nicht, wie viele Menschenleben er auf dem Gewissen hatte. Aber es schien ihn schwer zu belasten. Sie hatten sich auf eine notwendige Veränderung in seinem Leben geeinigt, damit er wieder ruhig schlafen konnte. Ihrer Meinung nach wäre die Aufgabe des Waffenhandels die richtige Wahl zur Veränderung gewesen. Sie war davon ausgegangen, dass Robert zu demselben Entschluss kam. Doch offenbar war das nicht der Fall. Er hatte sich zu etwas völlig anderem entschlossen.
„Was machen Ihre Schlafstörungen?“
Robert atmete tief durch. „Verschwunden. Seit die beiden bei uns sind, schlafe ich tief und fest wie ein Baby. Es sei denn, eines der Kinder weint. Dann kann man nicht schlafen. Das zerreißt einem das Herz.“
Rebecca lehnte sich etwas vor und betrachtete Roberts Gesicht genau. „Wissen Sie noch, wozu ich Ihnen geraten habe?“
Seine dunkelbraunen Augen erwiderten ihren Blick warmherzig. „Ich weiß. Ich weiß, Doc. Aber wir wissen doch beide, wenn ich das Geschäft aufgebe, wird es ein anderer übernehmen. Das ist wie mit dieser mehrköpfigen Schlange. Wie heißt sie noch gleich?“
„Hydra“, antwortete Rebecca im Reflex.
„Richtig, Hydra. Egal wie viele Köpfe Sie auch abschlagen, es wachsen immer welche nach. So ist das auch in meinem Geschäft. Mir ist es lieber ich bin der Kopf, der sagt wo es langgeht. Man weiß schließlich nicht, was da sonst nachwachsen würde“, entgegnete Robert.
„Sie könnten das eindämmen und Ihren Nachfolger gleich der Polizei melden“, schlug Rebecca ihm vor.
Robert lachte auf. „Sie sind lustig, Doc.“ Dann wurde er wieder ernst. „Sie verstehen das nicht. Aber die beiden Kleinen sind sicher bei Lilia und mir. Es wird ihnen nichts geschehen. Niemand wird ihnen je wieder ein Leid zufügen.“
„Glauben Sie wirklich, es ist gut für die beiden, wenn der Pflegevater sämtliche Widrigkeiten aus dem Weg räumen lässt?“ formulierte Rebecca die Frage vage und leise.
Robert antwortete in demselben leisen Ton. „Lilia und mir sind keine eigenen Kinder vergönnt. Diese beiden Racker mögen nicht aus meinem Fleisch und Blut sein, aber ich liebe sie als wären sie meine eigenen. Ich werde alles, und damit meine ich wirklich alles, für sie tun. Verstehen Sie das, Doc? Leider haben wir uns noch nicht gekannt, als Sie verlobt waren. Vieles wäre anders gelaufen. Ich hätte Ihren Verlobten zum Altar geschleift, ihn angekettet, wenn nötig, um ihn von dieser Reise abzuhalten. Aber verraten Sie mir doch, was würden Sie opfern, um ihn zu retten? Würden Sie gar ein Leben im Tausch gegen seines opfern?“
Rebecca dachte darüber nach. Ja, sie wäre vermutlich durchaus fähig dazu ein Leben für Bens einzutauschen. Aber das war belanglos. Erstens war so etwas nicht möglich und zweitens wäre Ben mit einem solchen Tausch niemals einverstanden gewesen.
Ihr Gesichtsausdruck ließ Robert wissend lächeln. „Sehen Sie, Doc? Tief in unseren Herzen sind wir uns sehr ähnlich. Deswegen mag ich Sie so. Warum kommen Sie nicht einfach bei uns vorbei? Lilia würde sich freuen Sie kennenzulernen. Und Sie können die beiden Kleinen treffen. Wie wäre es mit morgen Mittag?“
„Danke, Robert. Das ist leider nicht möglich“,