hatten Verstärkung geholt und wollten uns das Schlauchboot wieder abjagen. Wie gesagt, wir waren sechs Halunken, Wolfgang und Hansi Westphal, Manfred Frenser, Klaus Perschke, Klaus Balcke, Rolf Schulz und mein sechsjähriger Bruder Peter, dem nichts anderes übrig blieb, als alles mit auszubaden, was sein älterer Bruder mit den anderen ausheckte. Ich konnte ja meinen kleinen Bruder nicht alleinlassen, da ich auf ihn aufpassen musste. Wir paddelten wie die Verrückten, denn die seewärts fließende Ebbe drohte uns ins Fahrwasser zu ziehen. Wir schafften es und steuerten in Richtung Musikpavillon unterhalb der Küstenbatterie auf den Sommerdeich auf der Höhe der Garnisonkirche zu. Aber die Bande aus dem Meierhof verfolgte uns am Ufer entlang, bewaffnet mit Knüppeln. Tja, und jetzt wurde es uns zum Schluss mulmig, denn wir hatten keine Verstärkung. Wir näherten uns dem Ufer, Manfred Frenser fluchte: „Sollen wir unser gekapertes Schlauchboot einfach wehrlos aufgeben?“ Da hatte Wolfgang Westphal eine grandiose Idee: Als wir noch zirka 30 Meter vom Ufer entfernt waren, nahm er ein großes Pfadfindermesser und haute die Klinge in jede der hinteren Luftzellen, so dass die Luft heraus pfiff und das Schlauchboot hinten langsam absackte. Das Dilemma war nur, dass mein jüngerer Bruder Peter im hinteren Teil saß, und plötzlich guckte nur noch sein Kopf aus dem Wasser, er selbst sagte keinen Piep, und schwimmen konnte er auch nicht. Aber er klammerte sich tapfer an den Greifleinen fest. Wie die Verrückten paddelten wir mit dem vorderen Teil des Schlauchboots jetzt auf den Sommerdeich zu und hielten uns am Seetang der Steine fest. Peter wurde nach vorn gezogen, er war natürlich klitschnass. Aber klitschnass waren wir alle. Die Meierhofer waren stinksauer, schimpften nach Art der Fischlöscher, aber mit dem kaputten Schlauchboot konnten sie auch nichts mehr anfangen. Sie überließen uns wütend das zerstörte Schlauchboot. Wir zogen es auf das Deichvorland und schleiften es später, den Strichweg überquerend, an der Garnisonkirche vorbei durch die Tsingtau-Straße am Sportplatz entlang nach Hause zu unserem Wohnblock auf die Spielwiese. Wir konnten es zwar nicht mehr reparieren, aber einer unserer Väter zerschnitt es später und stellte aus dem Material Gummisohlen her, die er unter durchgelaufene Kinderschuhsohlen klebte.
Der Winter 1946/47 war grauselig kalt. Und im Februar 1947 fegte ein Orkantief über die Nordsee und legte nahezu die gesamte Seeschifffahrt lahm. Nur ein paar verwegene Küsteschiffe trauten sich an den ostfriesischen Inseln vor der Küste entlang. Und eines davor war ein niederländisches, welches mit einer Ladung Apfelsinen in Kisten vermutlich von Rotterdam nach Hamburg oder Bremen unterwegs war. Natürlich hatte das Kümo auch diese Apfelsinenkisten als Deckslast auf den Luken gestapelt. Jedenfalls war das Schiff in Seenot geraten und querab der Insel Schiermonnikoog auf Grund gelaufen. Dabei war die gesamte Deckslast über Bord gegangen. Das Wort „Ölteppich“ ist den meisten Küstenbewohnern Norddeutschlands ein feststehender Begriff. Aber von einen „Apfelsinenteppich“ hatte bestimmt vorher noch keiner etwas vernommen. Und so ein Apfelsinenteppich trieb jetzt ostwärts im Gezeitenwechsel und dem Nordweststurm in Richtung Elbe-Weser-Mündung und davon strandete ein großer Teil auf dem Wattenrücken zwischen Cuxhaven-Duhnen und den Inseln Neuwerk und Scharhörn. Vielleicht verhinderte der Weststurm sogar, dass die Kisten bei ablaufendem Wasser zurück in die deutsche Bucht trieben. Jedenfalls lagen sie auf dem Wattrücken und auf den Sandbänken. Dieses Ereignis bemerkten zuerst die schlitzohrigen Bauern der Insel Neuwerk, die das garantiert per Telefon oder Trommeln ihren Verwandten in Duhnen auf dem Festland mitgeteilt hatten. Die Pferde wurden vor die hohen Wattwagen gespannt, und dann ging es bei Ebbe ab ins Watt zum Apfelsineneinsammeln. Die ersten werden vermutlich recht fündig geworden sein. Doch da sich dies auch unter der Bevölkerung Cuxhavens schnell herumgesprochen hatte, setzte langsam eine Art Völkerwanderung ein. Wattwanderer im Winter gab es damals selten. Jeder wollte so viel wie möglich Apfelsinen ergattern. Für die meisten gab es jedoch nur kalte Füße. Doch einige wenige bekamen ihre Wagen voll mit diesen vorgekühlten Früchten aus Spanien. Natürlich waren auch die Zöllner hellhörig geworden. Apfelsinenkisten als Strandgut? Da müsste man doch Zoll erheben. Und da die Cuxhavener Zollbeamten nicht gerade in Arbeit erstickten und aus diesem Anlass mit erklecklichen Zolleinnahmen rechneten, tauchten sie damals im Februar 1947 an den Küstenabschnitten zwischen Sahlenburg und Kugelbake auf und hielten Ausschau nach Apfelsinensammlern, bei denen sie abkassieren wollten. Möglich, dass sie bei den einen und anderen Cuxendörper Buern Glück hatten. Ich weiß nur, dass es das Stadtgespräch war. Ich selbst hatte keine einzige gestrandete Apfelsine in den Händen gehabt. Ich wusste damals noch gar nicht, wie so eine Frucht aussah.
1947 kam unser Vater aus Gefangenschaft nach Hause, und jetzt war die fast grenzenlose Freiheit für mich endgültig vorbei. Am 28. Oktober sollte er aus Richtung Hamburg am Bahnhof eintreffen. Es stiegen zwar etliche deutsche Kriegsgefangene, die entlassen waren, aus. Nur, Vater Willi war nicht dabei! Mutter Hilde war sehr enttäuscht. Wir mussten ohne ihn zurück in die Gorch-Fock-Straße gehen. Doch kaum waren wir ca. eine viertel Stunde bei den Perschke-Großeltern und Vaters ältester Schwester, die alle nach der Flucht bei uns in Cuxhaven untergeschlüpft waren, zurück, da klingelte es. Und als Mutter Hilde die Tür öffnete, da flog ein englischer Seesack aus dem dunklen Treppenhaus durch die Wohnungstür. Und einen Augenblick später erschien der Chef des Hauses in seiner dunkelbraunen, britischen POW-Uniform. Unser Vater, Sir Willi, eine tolle, ranke und schlanke, ja sportliche Erscheinung, war wieder da. Die Briten hatten die deutschen „Herrenmenschen“ durch kräftiges Arbeiten und bei anhaltender Diät ganz schön fit gemacht. Wir waren alle schwer beeindruckt. Ja, der Grund der Entlassung aus britischer Gefangenschaft war: Die Ex-Herrenmenschen sollten das zerbombte Deutschland wieder aufbauen, die Trümmer aufräumen, z. B. in Hamburg. Aber da unser Vater aus Cuxhaven kam, durfte er gleich weiter nach Cuxhaven zum „Trümmeraufräumen“ durchfahren. Doch Cuxhaven hatte im Gegensatz zu Hamburg fast gar nichts von den Bombenabwürfen abbekommen, die meisten Bomben waren stets in die Elbe gefallen. Nun, er war da und übernahm wieder die Regierung. Halleluja! Das sollten wir auch bald spüren.
Die „goldene Freiheit“ war für mich vorüber. Der große Chef war wieder zurück, und der große Chef würde uns jetzt zeigen, wo es längs geht. Grenzen zeigen: Bis hier her und nicht weiter. Der Versuch, die Grenze auszuloten, wie weit man beim Chef gehen konnte, ging voll daneben. Vater Willi, für den eine Welt und seine NS-Ideologie zusammengebrochen war, wollte unbedingt verhindern, dass seine Autorität bei seinen Söhnen auch noch in die Hosen geht. Und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, die gar nicht lange auf sich warten ließ, holte er gnadenlos alles nach, was er in der Zwischenzeit versäumt hatte.
Wir hatten Spätherbst, das heißt: viel, viel Regen, also Schietwetter, und es gab gleich zwei Anlässe zur Auseinandersetzung. Zum einen hatte Mutter Hilde Waschtag und benötigte dafür zum Einweichen der Wäsche die alte Zinkwanne im Waschkeller. Es war November, und auf Bauer Haacks Weiden waren die Gräben überflutet. Mit anderen Worten: Auch wir brauchten die Zinkwanne, denn wir wollten auf den überfluteten Gräben „schippern“. Wie man das macht? Nichts geht einfacher: Nun, man schlägt in den Ausgussverschluss einen Holzpfropfen, an den nagelt man einen Besenstil, der dann senkrecht nach oben steht und durch den Griff gehalten wird und befestigt daran ein improvisiertes Segel. Wie man sieht, war ich prädestiniert, Schiffbauer zu werden. Als Ballast hatten wir vorn am Mast Ziegelsteine zum Trimmen benutzt. Die Idee war gut, denn es funktionierte. Mein Vater hatte uns verwarnt: „Mutter braucht die Wanne, ist also nix mit segeln, verstanden?!“ Aber die Versuchung war zu groß, und wir hatten die Eltern sogar überlistet.
Nun, wer nicht hören will, muss fühlen. Ein altes deutsches Sprichwort, damals sehr geläufig bei uns zuhause. Wir wollten eben herausfinden, wie weit wir gehen konnten. Ich war zu weit gegangen. Meine Freunde Wolfgang Westphal und Manfred Frenser gaben Fersengeld und verschwanden plötzlich in der Ferne von Bauer Haacks Weiden. Mein Vater näherte sich mir in seiner sportlichen, britischen POW-Uniform, holte mich am Kragen aus der Wanne, klemmte meinen Kopf zwischen seine Beine und löste seinen Ledergürtel, alles ganz ruhig und gefasst. Und dann zog er mir 10 Schläge über den Hintern! Harte Vaterschläge! Früher hieß es bei der HJ: „Ein deutscher Junge ist flink wie ein Wiesel, mutig wie ein Löwe und hart wie Kruppstahl“. Vater Willis Einschläge waren härter als Kruppstahl, denn er war fit wie Ironman. In einem früheren Leben muss er garantiert ein Folterknecht gewesen sein. Wenn ich heute daran zurückdenke, dann zuckt mir immer noch mein damals grün und blau angelaufener Achtersteven. Das war im November 1947. Ein böses Jahresende! An diesem ausgebrochenen Vater-Sohn-Konflikt hat meine pubertierende Psyche jahrelang sehr gelitten.
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