in der Stadt gehöre. Meine Mutter glaubte ihm alles.«
»Nun verstehe ich«, sagte Tarling. »Milburgh hat die Gelder der Firma unterschlagen, um deiner Mutter ein schönes Leben zu bereiten.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das stimmt nur teilweise. Meine Mutter weiß von all diesen Dingen nichts. Er kaufte das große und schöne Haus in Hertford, richtete es fürstlich ein, ja, unterhielt zwei Wagen bis vor einem Jahr. Erst auf meine Vorstellungen hin gab er das auf und lebte einfacher. Du kannst dir nicht denken, wieviel ich in diesem Jahr gelitten habe, nachdem ich erkannte, daß das ganze Lebensglück meiner Mutter zusammenbrechen würde, wenn sie seine Schlechtigkeiten erführe.«
»Wie kamst du denn dahinter?«
»Bald nach der Hochzeit ging ich eines Tages in Lynes Warenhaus. Eine der Angestellten benahm sich ungehörig mir gegenüber. Ich hätte die ganze Sache mit Schweigen übergangen, wenn nicht einer der Aufsichtsbeamten Zeuge des Vorfalls gewesen wäre. Er entließ das Mädchen sofort, und als ich ein gutes Wort für sie einlegen wollte, bestand er darauf, daß ich den Geschäftsführer sprechen sollte. Ich wurde in das Privatbüro geführt, wo ich Mr. Milburgh sah und sein Doppelleben erkannte. Er drang in mich, daß ich schweigen sollte, und schilderte mir die schrecklichsten Folgen, die irgendwelche Mitteilungen für meine Mutter haben würden. Er sagte mir, daß er alles wieder in Ordnung bringen könne, wenn ich auch in das Geschäft eintreten und ihm helfen würde. Er sprach von großen Summen, die er in Spekulationen angelegt hatte, von denen er große Vorteile erhoffte. Mit diesem Geld wollte er seine Unterschlagungen bei der Firma decken. Deshalb trat ich als Kassiererin in dem Warenhaus ein, aber er hat sein Versprechen gleich vom ersten Augenblick an gebrochen.«
»Ich verstehe nicht recht, warum er dich dort anstellte.«
»Es war ein wichtiger Kontrollposten, und wenn ein anderer meine Stelle gehabt hätte, wären seine Unterschlagungen leicht entdeckt worden. Er wußte, daß alle Nachfragen wegen Unregelmäßigkeiten des Geschäftsganges oder der Abrechnungen zuerst an mich kommen mußten, und er mußte jemand haben, der ihn alles wissen ließ. Er hat mir das niemals gesagt oder zugegeben, aber ich merkte bald, daß das der wahre Grund seiner Handlungsweise war.«
Und nun erzählte sie, welches Leben sie hatte führen müssen, wie tief die Kenntnis seiner Schuld sie niederdrückte und welche Gewissensqualen sie durchlebte.
»Vom ersten Augenblick an war ich seine Helfershelferin. Es ist ja wohl wahr, daß ich nichts gestohlen habe, aber durch mein Schweigen wurde es ihm möglich, alte Unregelmäßigkeiten wieder in Ordnung zu bringen und meine Mutter vor Schande und Elend zu bewahren. Aber auch hierin hat er mich auf das bitterste enttäuscht, denn anstatt seine früheren Vergehen wiedergutzumachen, hat er immer neue Unterschlagungen begangen.«
Sie sah ihn traurig lächelnd an.
»Ich habe soeben gar nicht mehr daran gedacht, daß ich zu einem Detektiv spreche und daß alles, was ich in den letzten Jahren gelitten habe, nun umsonst ist. Aber die Wahrheit muß jetzt ans Licht kommen, welche Folgen es auch immer haben mag.«
Sie machte eine Pause.
»Und nun werde ich dir erzählten, was sich in der Mordnacht zutrug.«
26.
Tiefes Stillschweigen trat ein. Tarling fühlte, wie sein Herz schlug.
»Als ich an jenem Abend das Geschäft verließ«, fuhr Odette fort, »wollte ich meine Mutter aufsuchen und zwei oder drei Tage bei ihr bleiben, bevor ich meine neue Stelle antrat. Mr. Milburgh verbrachte nur das Wochenende in Hertford. Es wäre mir auch unmöglich gewesen, unter einem Dach mit ihm zu wohnen, nachdem ich alles über ihn wußte.
Ich verließ meine Wohnung ungefähr um halb sieben abends. Ich kann mich nicht mehr auf den genauen Zeitpunkte besinnen, aber es muß um diese Zeit gewesen sein, denn ich wollte mit dem Siebenuhrzug nach Hertford fahren. Als ich auf der Station ankam, löste ich meine Fahrkarte und bückte mich eben, um meine kleine Tasche aufzunehmen, als ich fühlte, daß mich jemand am Arm berührte. Ich drehte mich um und erkannte Mr. Milburgh, der sehr aufgeregt und niedergeschlagen war. Er bestimmte mich dazu, mit einem späteren Zug zu fahren und ihn zu einem kleinen Restaurant zu begleiten, wo er sich ein Separatzimmer gemietet hatte. Er sagte mir, daß er sehr schlechte Nachrichten habe, die er mir mitteilen müsse.
Ich gab mein Gepäck zur Aufbewahrung und ging mit ihm. Wir aßen dort zu Abend, und währenddessen erzählte er mir, daß er dicht vor dem Ruin stände. Mr. Lyne hätte einen Detektiv angestellt, um alles Material gegen ihn zu sammeln, aber seine Wut gegen mich sei im Augenblick so groß gewesen, daß er vorläufig von seinem Vorhaben abgekommen sei.
›Nur du allein kannst im Augenblick die ganze Situation retten‹, sagte Milburgh.
›Wieso kann ich dich retten?‹ fragte ich erstaunt.
›Du mußt einfach die Verantwortung für alle Unterschlagungen auf dich nehmen, deine Mutter wird sonst zu stark belastet.‹
›Weiß sie es?‹
Er nickte. Später entdeckte ich erst, daß es wieder eine Lüge war und daß er mich nur durch die Liebe zu meiner Mutter dazu zwingen wollte.
Ich war ganz erschüttert und starr vor Schrecken bei dem Gedanken, daß meine arme Mutter in diesen schrecklichen Skandal verwickelt werden könnte. Und als er dann von mir verlangte, daß ich ein Schuldbekenntnis nach seinem Diktat schreiben sollte, tat ich es ohne Widerrede und ließ mich von ihm überzeugen, daß ich England mit dem ersten Zug nach Frankreich verlassen und so lange dort bleiben müßte, bis alles vorüber sei. – Das ist alles.«
»Warum bist du heute abend nach Hertford gekommen?«
»Ich wollte mein Geständnis holen. Ich wußte, daß Milburgh es im Geldschrank aufbewahrte. Ich traf mich mit ihm, nachdem ich das Hotel verlassen hatte. Er hatte mich vorher angerufen und mir das Geschäft angegeben, wo ich der Überwachung der Detektive entgehen konnte. Und dort sagte er mir ...« Sie hielt plötzlich inne und wurde rot.
»Er sagte dir, daß ich dich liebe«, ergänzte Tarling ruhig.
Sie nickte.
»Er drohte mir, aus dieser Lage Vorteil zu schlagen und dir mein schriftliches Geständnis zu zeigen.«
»Jetzt verstehe ich die Zusammenhänge«, sagte Tarling und seufzte erleichtert auf. »Gott sei Dank! Morgen werde ich den Mörder Thornton Lynes verhaften!«
»Nein, tu das nicht!« bat sie und legte ihre Hand auf seine Schultern. »Du hast ihn in einem falschen Verdacht. Mr. Milburgh hat es nicht getan, ein solcher Schurke ist er nicht.«
»Wer hat denn dann das Telegramm an deine Mutter geschickt, daß du nicht kommen konntest?«
»Das war Milburgh.«
»Hat er denn zwei Telegramme geschickt? Kannst du dich darauf besinnen?«
»Ja. Ich weiß aber nicht, an wen er das zweite sandte.«
»Das haben wir auch herausgefunden, denn die beiden Formulare waren in derselben Handschrift ausgefüllt.«
»Aber –«
»Mein Liebling, quäle dich nun nicht mehr. Du wirst in der nächsten Zeit noch viel Schweres durchmachen müssen, aber du mußt tapfer sein, nicht nur um deinetwillen, sondern auch wegen deiner Mutter und um meinetwillen«, fügte er zärtlich hinzu.
Trotz ihrer unglücklichen Lage sah sie ihn liebevoll lächelnd an.
»Du setzt aber etwas als gewiß voraus?«
»Was meinst du?« fragte er erstaunt.
»Nun, daß ich dich« – sie errötete tief – »daß ich dich liebe und heiraten werde?«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Tarling langsam. »Vielleicht war es meine Eitelkeit, die es mich glauben ließ.«
»Vielleicht war es auch das richtige Gefühl«, sagte sie und drückte seinen Arm innig.