Edgar Wallace

Edgar Wallace - Gesammelte Werke


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eingebrannte Buchstaben auf dem Griff, die aber durch den dauernden Gebrauch schon undeutlich geworden waren. Mit Mühe konnte er ein großes M und zwei andere Buchstaben erkennen, die einem großen C und großen A glichen.

      »M. C. A.?«

      Er versuchte die Bedeutung der Inschrift zu erraten. In diesem Augenblick kam der Hausmeister zurück.

      »Dem jungen Fräulein geht es sehr schlecht, Sir. Ich habe zum Arzt geschickt.«

      »Das haben Sie recht gemacht«, sagte Tarling. »Diese Aufregung und der Schrecken waren zuviel für das arme Mädchen.«

      Wieder ging er zum Telefon. Diesmal ließ er sich mit einem Krankenhaus in London verbinden. Er bestellte einen Krankenwagen, um Odette ohne Verzug abholen zu lassen. Als er mit Scotland Yard telefonierte, bat er, Ling Chu sofort nach Hertford zu schicken. Er hatte das größte Zutrauen zu dem Chinesen, besonders in diesem Fall, wo alle Spuren noch frisch waren. Ling Chu hatte eine fast übernatürliche Begabung und einen Spürsinn, wie ihn sonst nur Bluthunde besitzen.

      »Keiner darf die oberen Räume betreten«, sagte er zu dem Hausmeister. »Wenn der Arzt und die Leute der Mordkommission kommen, müssen sie durch den vorderen Eingang hereingelassen werden, und wenn ich nicht hier sein sollte, dürfen Sie unter keinen Umständen zulassen, daß die hintere Treppe, die zu der Pfeilerhalle führt, benutzt wird.«

      Er selbst verließ das Haus durch die Vordertür, um einen Rundgang durch das Grundstück zu machen. Er hatte nur wenig Hoffnung, hierbei neue Anhaltspunkte zu finden. Bei Tageslicht konnte man sicher manches finden, aber es war unwahrscheinlich, daß der Mörder in der Nähe des Tatortes geblieben war.

      Der Park war ziemlich ausgedehnt und dicht mit Bäumen bestanden. Viele Wege schlängelten sich durch das Gebüsch bis zu den hohen Mauern, die das Grundstück einschlossen.

      In der einen Ecke lag ein ziemlich großer, freier Platz, der weder mit Bäumen noch mit Sträuchern bestanden war. Er durchsuchte diese Stelle oberflächlich und leuchtete die langen Reihen der Gemüsebeete ab. Er war gerade im Begriff, wieder zu gehen, als er im Hintergrund ein schwarzes Gebäude entdeckte, das er für die Gärtnerwohnung hielt. Er richtete seine Taschenlampe darauf.

      Spielte ihm seine Phantasie einen Streich, oder hatte er tatsächlich einen kurzen Augenblick ein blasses Gesicht bemerkt, das um die Ecke des Hauses blickte? Wieder leuchtete er mit seiner Lampe dorthin, aber nun war nichts zu sehen. Er schritt auf das Haus zu und machte eine Runde, er konnte jedoch niemand entdecken. Trotzdem hatte er das unbestimmte Gefühl, daß jemand aus dem dunklen Schatten des Hauses zu den dichten Baumgruppen hinschlich, die das Haus auf drei Seiten umgaben. Er drehte seine Taschenlampe wieder an; ihr Schein war nicht stark genug, um auf größere Entfernung hin etwas genauer unterscheiden zu können. Er ging in der Richtung weiter, wo er die Gestalt vermutete. Einmal hätte er schwören mögen, daß er deutlich ein Knacken der Zweige hörte.

      Er eilte dem Geräusch nach und war nun ganz sicher, daß sich jemand in dem Gehölz verbarg. Er vernahm schnelle Schritte, dann herrschte wieder tiefes Schweigen. Er lief vorwärts, mußte aber in seinem Eifer zu weit gekommen sein, denn plötzlich hörte er ein verdächtiges Geräusch hinter sich. Sofort drehte er sich um und hob seine Waffe. »Wer ist dort?« rief er laut. »Halt – oder ich schieße!«

      Es kam keine Antwort. Während er wartete, schrammte ein Schuh gegen die Mauer. Nun wußte er, daß der Verfolger über die Mauer kletterte. Er wandte sich nach der Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, konnte jedoch wieder nichts erkennen.

      Aber plötzlich erscholl von oben her ein scharfes hämisches Lachen. Es hörte sich so unheimlich an, daß Tarling von Grauen gepackt wurde. Die obere Mauer wurde von überhängenden Zweigen verdeckt, so daß seine Lampe wertlos war und ihn nur selbst in Gefahr brachte.

      »Kommen Sie sofort herunter«, rief er, »sonst schieße ich!«

      Aber es ertönte nur wieder dieses schreckliche dämonische Gelächter, das halb furchtsam, halb höhnisch klang.

      »Du Mörder! Verfluchter Mörder! Du hast Thornton Lyne umgebracht! Das ist für dich – da!« schrie der Mann oben plötzlich mit heiserer Stimme herunter.

      Tarling hörte, wie durch die Zweige und Äste etwas herunterkam. Ein Tropfen fiel auf seine Hand. Er schlenkerte ihn mit einem Schrei ab, denn er brannte wie Feuer. Der geheimnisvolle Fremde sprang auf der anderen Seite hinunter und lief davon. Der Detektiv bückte sich und hob beim Schein der Lampe den Gegenstand auf, der ihn treffen sollte. Es war eine kleine Flasche, und auf dem Etikett stand ›Vitriol‹.

      Am nächsten Morgen um zehn Uhr saßen Whiteside und Tarling in Hemdsärmeln auf dem Sofa und tranken Kaffee. Tarling sah angegriffen und müde aus.

      Sie saßen in dem Zimmer, in dem Mrs. Rider ermordet worden war. Die dunkelroten Flecken auf dem Teppich waren beredte Zeugen der unheimlichen Tragödie, die sich hier in der vergangenen Nacht abgespielt hatte.

      Sie saßen schweigend nebeneinander, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Tarling hatte aus gewissen persönlichen Gründen nicht alles erzählt, was er in der Nacht erlebt hatte.

      Auch die Begegnung mit dem geheimnisvollen Fremden an der Parkmauer hatte er nicht erwähnt.

      Whiteside steckte sich eine Zigarette an, und dieses Geräusch weckte Tarling aus seinen Träumereien auf.

      »Was halten Sie von der ganzen Sache?« fragte er.

      Whiteside schüttelte den Kopf.

      »Wenn irgend etwas gestohlen worden wäre, könnte man eine einfache Erklärung geben. Aber das ist ja nicht der Fall – mir tut nur das arme Mädchen leid.«

      Tarling nickte.

      »Es ist schrecklich. Der Doktor mußte ihr erst ein Betäubungsmittel geben, sonst wäre es unmöglich gewesen, sie von hier fortzubringen.«

      »Die ganze Geschichte ist äußerst verworren«, sagte der Polizeiinspektor und strich sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn. »Hat denn das junge Mädchen keine Angaben machen können, aus denen man Anhaltspunkte gewinnen könnte, wer der Täter ist?«

      »Nein, sie konnte nicht das geringste darüber aussagen. Sie hatte ihre Mutter aufgesucht und die hintere Tür aufstehen lassen, da sie ursprünglich das Haus wieder auf demselben Weg verlassen wollte, nachdem sie mit ihrer Mutter gesprochen hatte. Aber Mrs. Rider ließ sie zur Vordertür hinaus. Offenbar hat sie jemand beobachtet und wartete, bis sie wieder herauskommen sollte. Als sie aber nicht wieder erschien, schlich er sich ins Haus.«

      »Das war doch bestimmt Milburgh«, meinte Whiteside.

      Tarling antwortete nicht. Er hatte seine eigenen Ansichten, aber er äußerte sich im Augenblick noch nicht.

      »Es ist ganz klar, daß es Milburgh war«, sagte Whiteside. »Er kommt in der Nacht zu Ihnen – wir wissen, daß er sich in Hertford aufhält. Wir wissen auch, daß er Sie zu ermorden versuchte, weil er glaubte, daß das Mädchen ihn verraten hätte und Sie hinter sein Geheimnis gekommen wären. Und nun hat er die Mutter getötet, die wahrscheinlich viel mehr von dem geheimnisvollen Tod Thornton Lynes weiß als ihre Tochter.«

      Tarling schaute auf die Uhr.

      »Ling Chu müßte eigentlich schon hier sein«, sagte er dann.

      »Ach, Sie haben nach Ihrem Chinesen geschickt?« fragte Whiteside erstaunt. »Nehmen Sie denn an, daß er irgend etwas über diese Geschichte weiß?«

      Tarling schüttelte de Knopf.

      »Nein. Ich glaube, was er mir erzählt hat. Als ich seine Geschichte damals an Scotland Yard weiterberichtete, erwartete ich nicht, daß auch Sie sich davon überzeugen ließen. Aber ich kenne Ling Chu genau. Er hat mich noch nie belogen.«

      »Mord ist eine böse Sache«, entgegnete Whiteside. »Und wenn ein Mann nicht lügt, um vom Galgen freizukommen, lügt er überhaupt nicht.«

      Unten hielt ein Auto, und Tarling trat ans Fenster.

      »Das