Edgar Wallace

Edgar Wallace - Gesammelte Werke


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hier auftaucht.«

      »Glauben Sie, daß ihn Miss Rider überrascht hat?«

      »Das ist sehr wahrscheinlich«, antwortete Tarling. »Ich werde jetzt noch zu dem Geschäftshaus fahren, aber er wird sich dort ebensowenig aufhalten wie hier.«

      Mit dieser Vermutung hatte er recht. Niemand in dem großen Warenhaus hatte den Geschäftsführer gesehen oder konnte über seinen Verbleib Auskunft geben. Milburgh war verschwunden, als hätte ihn die Erde verschlungen.

      Scotland Yard gab seine Personenbeschreibung sofort allen Polizeistationen bekannt. Innerhalb vierundzwanzig Stunden kannte jeder Polizist die Fotografie und das Signalement des Gesuchten. Und wenn er das Land noch nicht verlassen hatte, war seine Verhaftung unvermeidlich.

      Um fünf Uhr nachmittags fand man einen neuen Anhaltspunkt. Ein paar Damenschuhe, die abgetragen und beschmutzt waren, wurden in einem Graben an der Landstraße nach Hertford gefunden. Die Stelle lag vier Meilen von Mrs. Riders Haus entfernt. Der Chef der Hertford-Polizei hatte die Nachricht telefonisch nach Scotland Yard durchgegeben und die Schuhe durch einen besonderen Boten zur Polizeidirektion geschickt.

      Abends um halb acht Uhr wurde das Paket auf Tarlings Schreibtisch gelegt.

      Er öffnete sofort den Karton und fand ein Paar abgetragene Morgenschuhe darin, die sehr zerrissen waren, doch einmal bessere Tage gesehen hatten.

      »Sie gehörten einer Frau, sehen Sie sich die spitzen Absätze an.«

      Whiteside nahm einen Schuh in die Hand.

      »Hier«, sagte er plötzlich und zeigte auf das helle Futter der Schuhe. »Diese Blutflecken bestätigen Ling Chus Annahme. Die Füße der Person, die sie getragen hat, waren verletzt und bluteten.«

      Tarling besichtigte die Schuhe und nickte. Er hob das Zungenleder in die Höhe, um den Stempel der Firma zu entdecken. Aber plötzlich ließ er den Schuh fallen.

      »Was ist denn los?« fragte Whiteside und hob ihn wieder auf.

      Er starrte auf das Innere, dann lachte er nervös auf. Es war ein kleines ledernes Etikett dort aufgeklebt, das den Namen einer bekannten Londoner Schuhfirma trug. Darunter stand mit Tinte geschrieben ›O. Rider‹.

      Die Oberin des Krankenhauses empfing Mr. Tarling. Sie sagte ihm, daß Odette sich wieder erholt habe, aber noch einige Zeit der Ruhe bedürfe, und schlug vor, sie einige Zeit aufs Land zu schicken.

      »Ich möchte Ihnen raten, sie nicht so sehr mit Fragen zu belästigen, Mr. Tarling«, sagte die ältere Dame, »denn sie kann noch keine großen Aufregungen vertragen.«

      »Ich habe nur eine Frage an sie zu richten«, sagte der Detektiv grimmig.

      Er fand Odette in einem behaglichen Krankenzimmer.

      Er neigte sich herab und küßte sie, dann zog er ohne weitere Umschweife den Schuh aus der Tasche.

      »Liebe Odette, ist das dein Schuh?«

      Sie warf nur einen Blick darauf und nickte.

      »Wo hast du ihn gefunden?«

      »Bist du auch sicher, daß er dir gehört?«

      »Natürlich«, sagte sie lächelnd. »Das sind meine alten Morgenschuhe, die ich immer zu Hause trug. Aber warum fragst du mich danach?«

      »Wo hast du die Schuhe zuletzt gesehen?«

      Das Mädchen schloß die Augen und zitterte.

      »In Mutters Zimmer. O Mutter! Mutter!«

      Sie drückte ihr Gesicht in die Kissen und weinte. Tarling streichelte ihre Hände und versuchte sie zu beruhigen.

      Es dauerte einige Zeit, bevor sie sich wieder gefaßt hatte. Aber sie konnte keine weiteren Erklärungen geben.

      »Mutter hatte die Schuhe so gern. Wir hatten beide dieselbe Größe ...«

      Sie konnte nicht weitersprechen vor Schluchzen, und Tarling versuchte, das Gespräch auf andere Dinge zu bringen. Mehr und mehr kam er zu der Überzeugung, daß Ling Chus Theorie richtig war, obwohl Tarling nicht alle Tatsachen, die er entdeckt hatte, mit ihr in Übereinstimmung bringen konnte. Auf seinem Weg zur Polizeidirektion dachte er eifrig darüber nach, wie man diese Widersprüche auflösen könnte.

      Jemand war mit bloßen Füßen ins Haus gekommen, seine Füße bluteten, und nachdem er den Mord begangen hatte, sah er sich nach ein Paar Schuhen um. Der Mörder, mochte es nun ein Mann oder eine Frau sein, entdeckte die alten Morgenschuhe, zog sie an und ging dann hinaus, nachdem er vorher das Haus durchsucht hatte. Es blieb aber noch immer die Frage offen, warum diese geheimnisvolle Person den Versuch gemacht hatte, wieder in das Haus zu kommen und was sie dort suchte.

      Wenn Ling Chu recht hatte, konnte Milburgh offensichtlich nicht der Mörder sein. Wenn er der scharfen Beobachtungsgabe des Chinesen trauen konnte, dann war der Mann mit den kleinen Füßen derselbe, der ihn höhnisch verlacht und die Vitriolflasche nach ihm geworfen hatte. Er teilte Whiteside diese Schlußfolgerungen mit, der ihm darin recht gab.

      »Aber daraus folgt doch immer noch nicht«, erklärte Whiteside, »daß die Person mit den bloßen Füßen, die offensichtlich in Mrs. Riders Haus eingedrungen war, den Mord beging. Meiner Meinung nach ist Milburgh der Täter. Wir wollen nicht darüber streiten, aber es besteht doch kaum ein Zweifel, daß er Lyne ermordet hat.«

      »Ich glaube, ich weiß jetzt, wer den Mord an Lyne begangen hat«, sagte Tarling fest. »Ich habe mir alles genau überlegt und bin jetzt ins reine gekommen. Sie würden meine Theorie als zu phantastisch ablehnen.«

      »Wen halten Sie denn für den Mörder?« fragte Whiteside, aber Tarling schüttelte den Kopf.

      Er hielt den Augenblick noch nicht für geeignet, seine Hypothese bekanntzugeben.

      Whiteside lehnte sich in seinen Sessel zurück und dachte einige Augenblicke scharf nach.

      »Der Fall ist von Anfang an voller Widersprüche. Thornton Lyne war ein reicher Mann – nebenbei bemerkt sind Sie es jetzt auch, Tarling. Und deswegen müßte ich Sie eigentlich mit großem Respekt behandeln.«

      »Fahren Sie nur fort«, sagte Tarling lächelnd.

      »Lyne hatte merkwürdige Liebhabereien – er war ein schlechter Poet, wie aus seinem kleinen Gedichtband ja zur Genüge hervorgeht. Er war ein Mann, der Extravaganzen liebte. Beweis dafür ist die Art und Weise, wie er sich Sam Stays annahm, der, wie Sie vielleicht erfahren haben, aus der Irrenanstalt ausgebrochen ist.«

      »Ich weiß es«, sagte Tarling. »Sprechen Sie nur weiter.«

      »Lyne verliebte sich in ein hübsches junges Mädchen, das in seiner Firma angestellt ist. Er war gewöhnt, daß alle seine Wünsche erfüllt wurden und daß alle Frauen ihm zu Willen waren, wenn er sie begehrte. Dieses Mädchen lehnte seine Anträge ab, und infolge dieser Demütigung empfand er einen unbändigen Haß gegen sie.«

      »Aber ich sehe noch immer nicht, welche Widersprüche Sie meinen?« entgegnete Tarling in scherzhaftem Ton.

      »Dazu komme ich jetzt. Das war Nummer eins. Der zweite ist Mr. Milburgh, ein salbungsvoller Mensch, der die Firma schon seit vielen Jahren betrogen und bestohlen hat und in Hertford auf großem Fuß von all den Geldern lebte, die er auf so unredliche Weise erwarb. Aus allem, was er hört oder erfährt, weiß er, daß man ihm mißtraut und daß es ihm an den Kragen gehen wird. Er ist verzweifelt, als er begreift, daß Thornton Lyne sich sterblich in seine Stieftochter verliebt hat. Was liegt näher, als daß er sie dazu benützt, um Thornton Lyne in seinem Sinne zu beeinflussen?«

      »Meiner Meinung nach«, unterbrach ihn Tarling, »müßte er eher versuchen, die ganze Verantwortung für alle Diebstähle im Geschäft dem jungen Mädchen in die Schuhe zu schieben, unter der Voraussetzung, daß sie durch ihr Entgegenkommen ihrem Chef gegenüber der Strafe entgehen kann.«

      »Auch das kann richtig sein, ich will diese Möglichkeit nicht von der Hand weisen«, entgegnete