dieses chinesische Papier in seiner Westentasche gefunden wurde, besonders aber, warum er in Odettes Wohnung gekommen war.
Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß Sam Stay die Flasche Vitriol nach ihm geworfen hatte, der Mann, der sich vorgenommen hatte, das Mädchen zu entstellen, das seiner Meinung nach seinen Wohltäter verleumdet und betrogen hatte.
Milburgh mußte unbedingt gefunden werden, er war das letzte fehlende Glied in der Kette.
Tarling hatte Vorkehrungen getroffen, daß der Chef der Cannon-Row-Polizeistation ihn sofort benachrichtigen sollte, wenn neue Meldungen einliefen. Bis jetzt war er noch nicht angerufen worden, so ging er nun persönlich dorthin, um die neuesten Nachrichten aus erster Hand zu bekommen. Er erfuhr allerdings nur wenig. Während er noch mit dem Polizeiinspektor sprach, kam ein aufgeregter Taxichauffeur auf die Station und meldete, daß sein Automobil gestohlen worden sei. Solche Anzeigen kommen in London alle Tage vor. Der Mann hatte einen Herrn und eine Dame zu einem Theater im Westen gebracht und war beauftragt, bis zum Ende der Vorstellung zu warten, um sie dann wieder nach Hause zu fahren. Nachdem er seine Fahrgäste abgesetzt hatte, war er in ein kleines Restaurant gegangen, um etwas zu essen, und als er wieder herauskam, war sein Wagen verschwunden.
»Ich weiß schon, wer es getan hat«, rief er heftig. »Und wenn ich den Kerl erwische, dann werde ich ihn ...«
»Woher wissen Sie denn, wer der Täter war?«
»Er kam in das Restaurant herein, als ich beim Essen saß.«
»Wie sah er denn aus?« fragte der Polizeiinspektor.
»Er war sehr blaß. Ich könnte ihn unter Tausenden wiedererkennen. Und dann habe ich mir noch eins an ihm gemerkt – er hatte ein Paar ganz neue Schuhe an.«
Tarling war während dieser Unterhaltung vom Schreibpult weggetreten, aber jetzt kam er wieder näher.
»Hat er denn mit Ihnen gesprochen?« fragte er.
»Jawohl, Sir«, sagte er. »Ich fragte ihn, ob er nach jemand suche, und er sagte ›nein‹. Dann redete er eine Menge Unsinn von einem Mann, der der beste Freund gewesen sein soll, den ein armer Kerl überhaupt haben könne. Ich saß nahe bei der Tür und so kam ich mit ihm ins Gespräch. Ich glaube, er war nicht ganz richtig im Kopf.«
»Erzählen Sie weiter«, sagte Tarling ungeduldig.
»Er ging wieder hinaus, und ich hörte gleich darauf, wie ein Auto angelassen wurde. Ich dachte, es wäre einer meiner Kollegen; es standen nämlich noch mehrere Wagen draußen. Das Restaurant wird hauptsächlich von Chauffeuren besucht, und ich habe nicht weiter darauf geachtet. Erst als ich wieder hinauskam, entdeckte ich, daß mein Auto verschwunden war. Der Kerl, dem ich den Auftrag gegeben hatte, nach meinem Auto zu sehen, war in eine Stehbierhalle gegangen und vertrank dort das Geld, das ihm der Bursche gegeben hatte.«
»Sieht ganz so aus, als ob er der Mann wäre, den wir suchen«, sagte der Polizeiinspektor zu Tarling.
»Ja, es muß Sam Stay sein, aber ich wußte nicht, daß er fahren kann.«
»Ich kenne Sam Stay sehr gut. Wir haben ihn hier schon dreimal festgenommen. Eine Zeitlang ist er sogar Chauffeur gewesen – wußten Sie das nicht?«
Tarling hatte allerdings am Morgen vorgehabt, Sams Personalakten durchzulesen, aber es war etwas dazwischengekommen, und er hatte es vergessen.
»Er kann nicht weit kommen – geben Sie die Beschreibung des Wagens sofort bekannt. Jetzt können wir ihn sogar noch leichter fangen. Das Auto kann er nicht irgendwie verstecken, und wenn er glaubt, daß er im Wagen fliehen kann, so irrt er sich.«
Tarling wollte am Abend nach Hertford zurück und hatte Ling Chu von seiner Absicht verständigt. Er ging aber von der Cannon-Row-Polizeistation zunächst nach Scotland Yard, um noch mit Whiteside zu sprechen, der ihn dort erwarten wollte. Er hatte unabhängig von ihm Nachforschungen wegen des Verbrechens in Hertford angestellt und allerhand Nachrichten und Einzelheiten hierüber gesammelt.
Whiteside war noch nicht im Büro, als Tarling nach Scotland Yard kam, der wachhabende Sergeant kam eilig herbei.
»Dies wurde vor zwei Stunden für Sie abgegeben«, sagte er. »Wir dachten, Sie wären in Hertford.«
Es war ein Brief, der mit Bleistift geschrieben war. Er stammte von Milburgh, der sich keine Mühe gegeben hatte, seine Handschrift zu verstellen.
Verehrter Mr. Tarling,
ich habe soeben zu meiner tiefsten Trauer und Verzweiflung in der ›Evening Press‹ gelesen, daß meine geliebte Frau, Catherine Rider, auf schreckliche Art ermordet wurde. Wie furchtbar ist der Gedanke für mich, da ich erst vor einigen Stunden noch mit ihrem Mörder sprach. Denn ich glaube bestimmt, daß es Sam Stay war. Ich hatte ihm, ohne etwas Böses zu denken, mitgeteilt, wo Miss Rider sich zur Zeit aufhält. Ich bitte Sie, keine Zeit zu verlieren, sie vor diesem grausamen, gefährlichen Irren zu schützen. Er scheint nur noch die eine Idee zu haben, den Tod des verstorbenen Thornton Lyne zu rächen. Wenn diese Zeilen Sie erreichen, werde ich mich dem Arm der menschlichen Gerechtigkeit entzogen haben, denn ich habe beschlossen, aus dem Leben zu gehen, das mir so viel Kummer und Enttäuschungen gebracht hat. M
Tarling war fest davon überzeugt, daß Mr. Milburgh keinen Selbstmord begehen würde. Die Nachricht, daß Sam Stay Mrs. Rider ermordet hatte, war jetzt für ihn uninteressant, aber das Bewußtsein, daß dieser rachsüchtige Geisteskranke den Aufenthalt Odettes wußte, beunruhigte ihn aufs höchste. »Wo ist Mr. Whiteside?« fragte er.
»Er ist in Cambours Restaurant gegangen, um dort jemand zu treffen«, sagte der Sergeant.
Tarling mußte Whiteside erst persönlich sprechen, bevor er Detektivbeamte nach dem Krankenhaus am Cavendish Place schicken konnte.
In einem Taxi fuhr er zu dem Restaurant und traf den Polizeiinspektor glücklicherweise gerade in dem Augenblick, als er das Lokal verließ.
Tarling gab ihm sofort den Brief, und Whiteside las das Schreiben durch.
»Der hat keinen Selbstmord begangen. Das ist das letzte, was ein Mann von Milburghs Schlag tun würde. Er ist ein kaltblütiger Schuft. Ich kann mir ihn schon vorstellen, wie er sich in aller Seelenruhe hinsetzte und diesen Brief über den Mörder seiner Frau schrieb!«
»Was halten Sie denn von der anderen Sache – der Drohung gegen Odette?«
»Da mag was dahinterstecken. Wir dürfen jedenfalls keine Schutzmaßnahmen unterlassen. Hat man irgend etwas über den Verbleib von Stay gehört?«
Tarling erzählte ihm die Geschichte von dem gestohlenen Mietauto.
»Dann werden wir ihn ja bald haben«, meinte Whiteside zufrieden. »Er hat keine Komplicen, und ohne Spießgesellen ist es in der Autobranche praktisch einfach unmöglich, in einem Wagen aus London zu entkommen.«
Whiteside stieg in Tarlings Wagen ein, und ein paar Minuten später waren sie am Krankenhaus. Die Oberin empfing sie.
»Es tut mir sehr leid, daß ich Sie noch zu dieser späten Stunde stören muß«, sagte Tarling, der deutlich ein Mißfallen in ihrem Gesicht las. »Aber ich habe heute abend eine wichtige Nachricht erhalten, die es nötig macht, Miss Rider unter Schutz zu stellen.«
»Sie wollen sie unter Schutz stellen?« fragte die Dame erstaunt.
»Ich verstehe Sie nicht recht, Mr. Tarling. Ich bin eben heruntergekommen in der Absicht, Ihnen eine Strafpredigt wegen Miss Rider zu halten. Sie wußten doch, daß sie absolut unfähig war, auszugehen. Ich dachte, ich hätte Ihnen das heute morgen ganz deutlich gesagt.«
»Sie soll doch auch gar nicht ausgehen«, sagte Tarling aufs höchste verwundert. »Sie wollen doch damit nicht sagen, daß sie ausgegangen ist?«
»Aber Sie haben doch selber vor einer halben Stunde nach ihr geschickt!«
»Ich hätte nach ihr geschickt?« fragte Tarling. Er erblaßte. »Bitte, sagen Sie mir schnell, was vorgefallen ist.«
»Ungefähr vor einer halben Stunde,