Edgar Wallace

Edgar Wallace - Gesammelte Werke


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sie dringend wegen des Mordes ihrer Mutter vernehmen.«

      Tarlings Gesicht zuckte nervös. Er konnte seine Aufregung nicht länger verbergen.

      »Haben Sie denn nicht nach ihr geschickt?« fragte die Oberin verstört.

      Tarling schüttelte den Kopf.

      »Wie sah der Mann aus, der hierherkam?«

      »Recht gewöhnlich. Er war etwas weniger als mittelgroß und machte keinen gesunden Eindruck – es war ein Chauffeur.«

      »Haben Sie gesehen, in welcher Richtung er davonfuhr?«

      »Nein, ich habe nur sehr dagegen protestiert, daß Miss Rider überhaupt ausgehen sollte, aber als ich ihr die Nachricht überbrachte, die doch anscheinend von Ihnen kam, bestand sie darauf, sofort das Haus zu verlassen.«

      Tarling war entsetzt. Odette war in der Gewalt eines Geisteskranken, der sie haßte, der ihre Mutter ermordet hatte, der sich fest vorgenommen hatte, sie zu entstellen und ihre Schönheit zu zerstören! Er glaubte ja in seinem Wahnsinn, daß sie seinen geliebten Freund und Wohltäter betrogen und mit schändlichem Undank behandelt hatte.

      Ohne ein weiteres Wort verließ er mit Whiteside das Krankenhaus.

      »Der Fall ist hoffnungslos«, sagte er, als sie auf der Straße waren. »Mein Gott, wie schrecklich ist dieser Gedanke! Aber wenn wir Milburgh lebend fangen, dann soll er es büßen!«

      Er gab dem Chauffeur Anweisung und stieg schnell hinter Whiteside in den Wagen ein.

      »Wir werden jetzt erst zu meiner Wohnung fahren, um Ling Chu dort abzuholen. Der kann uns von größtem Nutzen sein.«

      Als sie in Tarlings Wohnung in der Bond Street ankamen, eilten sie schnell die Treppe hinauf. Es war alles dunkel – ein außergewöhnlicher Umstand, denn Ling Chu hatte ein für allemal den Auftrag, die Wohnung nicht zu verlassen, während sein Herr ausgegangen war. Das Speisezimmer war leer. Nachdem Tarling das Licht eingeschaltet hatte, fiel sein Blick auf ein beschriebenes Stück Reispapier. Die Schrift war noch nicht trocken. Es standen nur ein paar chinesische Schriftzeichen darauf, sonst nichts.

      »Wenn der Herr vor mir zurückkommt, soll er wissen, daß ich ausgegangen bin, die junge Frau zu finden«, las Tarling erstaunt.

      »Dann weiß er also schon, daß sie verschwunden ist! Gott sei Dank! Ich möchte nur wissen –«

      Plötzlich hielt er inne, weil er glaubte, einen Seufzer gehört zu haben. Er sah Whiteside an, auch dieser hatte den Laut gehört.

      »Hat hier nicht eben jemand gestöhnt?« fragte er. »Horchen Sie doch einmal!«

      Er beugte den Kopf vor und wartete. Plötzlich kam das Stöhnen wieder.

      Tarling eilte zu der Tür von Ling Chus Kammer, aber sie war verschlossen. Er beugte sich zum Schlüsselloch hinunter und lauschte. Wieder hörte er den qualvollen Laut. Mit einem Stoß seiner Schulter hatte er die Tür aufgebrochen.

      Ein ungewöhnlicher Anblick bot sich ihm dar. Ein Mann mit entblößtem Oberkörper lag ausgestreckt auf dem Bett. Hände und Beine waren an die Bettpfosten gebunden, und ein Tuch bedeckte sein Gesicht. Aber was Tarling vor allem ins Auge fiel, waren vier dünne rote Linien, die quer über die Brust liefen. Dies war ein Zeichen, daß hier eine Methode angewendet war, die die chinesische Polizei benützte, um hartnäckige Verbrecher zum Geständnis zu bringen.

      »Wer ist das?« fragte er und zog das Tuch von dem Gesicht des Mannes.

      Es war Milburgh!

      Milburgh hatte viel erlebt, seitdem er Sam Stay verlassen hatte und hier aufgefunden wurde. Er hatte in der Zeitung von dem Mord gelesen, und es war ihm sehr nahegegangen, ja, er war auf seine Art sogar tief traurig darüber gewesen.

      Er hatte jedoch den Brief nach Scotland Yard nicht geschrieben, um Odette Rider zu retten, sondern um an dem Mann Rache zu nehmen, der die einzige Frau ermordet hatte, die er je liebte. Auch hatte er nicht die geringste Absicht, Selbstmord zu verüben. Er hatte alle Pässe schon seit einem Jahr für die Flucht vorbereitet, auch das Gewand eines Geistlichen hatte er sich schon lange beschafft, und zwar ausschließlich zu diesem Zweck. Er konnte England in jedem Augenblick verlassen und war jetzt entschlossen, es zu tun.

      Die Fahrkarten steckten in seiner Tasche, und als er den Boten nach Scotland Yard schickte, befand er sich auf dem Weg zur Waterloo-Station, um den Zug nach Le Havre zu besteigen. Er wußte wohl, daß die Polizei den Bahnhof bewachte, aber er glaubte, daß man ihn unter der Maske eines ehrwürdigen Landgeistlichen nicht erkennen würde, selbst wenn schon ein Haftbefehl gegen ihn erlassen sein sollte.

      Er kaufte gerade bei dem Bahnhofsbuchhändler einige Zeitungen und Bücher, um sich die Zeit während der langen Reise zu vertreiben, als er fühlte, wie sich eine Hand auf seinen Arm legte. Eine merkwürdige Furcht beschlich ihn. Er wandte sich um und sah in das braune Gesicht des Chinesen, den er kannte.

      »Nun, mein Lieber«, fragte Milburgh lächelnd, »was kann ich für Sie tun?«

      »Kommen Sie mit mir«, sagte Ling Chu, »und es wird besser sein, wenn Sie kein Aufsehen erregen.«

      »Sie irren sich offenbar.«

      »Ich irre mich durchaus nicht«, erwiderte Ling Chu ruhig. »Sie brauchen ja nur dem Polizisten drüben zu sagen, daß ich Sie mit Mr. Milburgh verwechsle, den die Polizei sucht, weil er unter dem Verdacht steht, einen Mord begangen zu haben. Dann werde ich in große Schwierigkeiten kommen«, fügte er ironisch hinzu.

      Milburghs Lippen zitterten. »Ich komme mit«, sagte er mit heiserer Stimme.

      An Ling Chus Seite verließ er den Waterloo-Bahnhof. Die Fahrt nach Bond Street blieb wie ein schrecklicher Traum in seiner Erinnerung. Er war nicht gewohnt, auf einem Autobus zu fahren, denn er war immer auf persönlichen Komfort bedacht gewesen und hatte in dieser Beziehung nicht gespart. Ling Chu dagegen hatte eine Vorliebe für Autobusse und schien sich sehr wohl darin zu fühlen.

      Sie sprachen unterwegs kein Wort. Milburgh war darauf gefaßt, Tarling gegenüberzutreten, denn er glaubte, daß der Chinese nur ein Abgesandter des Detektivs war, um ihn zu sich zu holen. Aber er konnte in der Wohnung nichts von Tarling entdecken.

      »Nun, mein Freund, was wollen Sie von mir?« fragte er. »Es ist wahr, daß ich Milburgh bin, aber wenn Sie eben behaupteten, daß ich einen Mord begangen habe, so ist das eine infame Lüge.«

      Milburgh hatte wieder etwas von seiner alten Kühnheit zurückgewonnen. Zuerst hatte er erwartet, daß ihn Ling Chu direkt nach Scotland Yard bringen würde und daß man ihn dort gefangensetzte. Daß er zu Tarlings Wohnung geführt wurde, glaubte er so deuten zu können, daß seine Lage nicht so verzweifelt war, wie er sich eingebildet hatte.

      Ling Chu stand plötzlich vor Milburgh, packte ihn am Handgelenk und drehte es halb um. Bevor Milburgh recht wußte, was geschah, lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, und Ling Chu stemmte ihm das Knie in den Rücken. Er fühlte, daß etwas Ähnliches wie eine Schlinge um seine Handgelenke gewunden wurde, und er empfand einen durchdringenden Schmerz, als der Chinese die beiden Handschellen aneinanderkettete.

      »Stehen Sie auf«, sagte Ling Chu hart. Milburgh spürte dessen erstaunliche Kraft.

      »Was wollen Sie mit mir anfangen?« fragte er erschrocken.

      Ling Chu antwortete nicht, sondern packte ihn mit der einen Hand, öffnete die Tür mit der anderen und schob ihn in einen kleinen, spärlich möblierten Raum. Er stieß ihn auf die Bettstelle, die an der Wand stand, so daß er in sich zusammensank.

      Der Chinese ging mit einer erstaunlichen Sicherheit, mit einer fast wissenschaftlichen Gründlichkeit ans Werk. Erst befestigte er einen langen seidenen Strick oben an dem Querriegel des Kopfendes, dann knüpfte er kunstgerecht eine Schlinge um Milburghs Hals, so daß sich dieser nicht bewegen konnte, wenn er nicht erdrosselt werden wollte.

      Ling Chu legte ihn dann der Länge nach aufs Bett, löste die Handschellen und band die Handgelenke an die Bettpfosten, dasselbe