Edgar Wallace

Edgar Wallace - Gesammelte Werke


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Milburgh. »Sie sehen, ich hatte mich in der Zeit verrechnet. Als ich eben dabei war, die Sachen zusammenzusuchen, wurde mir klar, daß ich unmöglich noch zur rechten Zeit zur Station zurückkehren konnte. Ich hatte mit Miss Rider verabredet, daß ich eine Viertelstunde vor Abgang des Zuges telefonieren würde, wenn ich nicht kommen könnte. Sie erwartete mich in einem Hotel in der Nähe des Bahnhofs. Ich hatte gehofft, wenigstens eine Stunde vor Abgang des Zuges bei ihr zu sein, aber als ich erkannte, daß das unmöglich war, ließ ich den Koffer stehen und ging zu der Untergrundbahn, um zu telefonieren.«

      »Wie sind Sie denn in die Wohnung gekommen?« fragte Tarling. »Der Portier sagte doch, er hätte niemand gesehen.«

      »Ich bin von hinten hereingekommen«, erklärte Milburgh. »Es ist tatsächlich sehr leicht, Miss Riders Wohnung von der Hinterstraße aus zu erreichen. Alle Mieter haben Schlüssel, damit sie ihre Fahrräder hinein- und heraustragen können.«

      »Das stimmt«, sagte Tarling, »fahren Sie nur fort.«

      »Ich habe meinem eigentlichen Bericht schon vorausgegriffen. Daß ich den Koffer packte, liegt schon etwas später, soweit war ich noch nicht. Als ich mich von Miss Rider verabschiedete, überdachte ich meine Pläne genau. Es würde aber zu weit führen, wenn ich Ihnen erzähle, was ich mit Lyne besprechen wollte.«

      »Sie wollten ihm natürlich erklären, daß Miss Rider die Schuld an allem hätte«, sagte Tarling. »Ich weiß genau, was Sie alles vorbringen wollten.«

      »Dann darf ich Ihnen vielleicht gratulieren, Mr. Tarling, daß Sie Gedanken lesen können, denn ich habe meine geheimsten Gedanken noch niemand anvertraut. Aber das gehört ja nicht zur Sache. Ich wollte mit Mr. Lyne die Sache aus der Welt schaffen. Ich wollte ihn an all die Jahre erinnern, die ich ihm und seinem Vater treu gedient hatte. Und wenn ich keinen Erfolg hatte und er dann noch darauf bestand, weiter gegen mich vorzugehen, wollte ich mich vor seinen Augen erschießen.«

      Er war theatralisch geworden, aber die Worte verfehlten vollkommen ihre Wirkung auf seine Zuhörer.

      »Sie scheinen eine ganz besondere Vorliebe dafür zu haben, sich auf Ihren Selbstmord vorzubereiten und nachher Ihre Meinung über diesen Punkt zu ändern«, sagte Whiteside.

      »Es tut mir leid, daß Sie so leichtfertig über eine so ernste Sache sprechen«, erwiderte Milburgh. »Wie ich sagte, wartete ich etwas zu lange. Aber es sollte ganz dunkel werden, bevor ich in die Wohnung von Miss Rider zurückkehrte. Odette hatte mir alle ihre Schlüssel übergeben, und ich fand ihren kleinen Koffer ohne Schwierigkeiten. Er lag unten im Büfett. Ich legte ihn aufs Bett und packte ihn, so gut ich konnte, da ich wenig Bescheid weiß, was Damen auf Reisen brauchen. Inzwischen wurde mir klar, daß ich den Zug nicht mehr zur Zeit erreichen würde. Glücklicherweise hatte ich mit Miss Rider verabredet, sie für den Fall anzurufen, daß ich nicht mehr fertig würde.«

      »Eine Zwischenfrage«, sagte Tarling. »Wie waren Sie angezogen?«

      »Wie war ich doch angezogen – lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken. Ich trug einen schweren Mantel.«

      »Wo hatten Sie die Pistole?«

      »In der Tasche meines Mantels«, erwiderte Milburgh schnell.

      »Ich zog ihn in der Wohnung aus und hängte ihn an einen Haken am Fußende des Bettes.«

      »Nahmen Sie Ihren Mantel zum Telefonieren mit?«

      »Nein. Das weiß ich ganz genau«, sagte Milburgh sofort. »Ich erinnere mich, daß ich später noch daran dachte, wie dumm es von mir war, daß ich meinen Mantel nicht anzog.«

      »Fahren Sie fort«, sagte Tarling ungeduldig.

      »Ich erreichte die Untergrundstation, rief das Hotel an; aber zu meiner größten Überraschung und Sorge antwortete Miss Rider nicht. Ich fragte den Portier, ob er eine junge Dame in dem und dem Kleid gesehen hätte, die in der Halle gewartet hätte. Er verneinte meine Frage. Es lag also die Möglichkeit nah, daß sie in ihre Wohnung zurückgekommen war.«

      »Halten Sie sich an die Tatsachen«, unterbrach ihn Whiteside.

      »Gut«, erwiderte Milburgh höflich. »Als ich telefonierte, war es halb zehn. Sie erinnern sich, daß ich Mr. Lyne telegrafierte, er möchte mich um elf Uhr in der Wohnung treffen. Es lag also kein Grund vor. warum ich vor dieser Zeit zurückkehren sollte. Ich besinne mich jetzt, daß ich in Miss Riders Wohnung zurückging, um den Mantel zu holen. Als ich zu der Hinterstraße kam, sah ich aber mehrere Leute. Ich wollte nicht auffallen und wartete, bis sie wieder gegangen waren.

      Als ich so an der Ecke der Straße stand, fror mich, und da die Leute sich noch nicht entfernen wollten, sondern sich vor den Garagen unterhielten, wurde mir die Zeit zu lang. Ich ging also zur Hauptstraße zurück und kam an einem Kino vorbei. Ich sehe mir gern Filme an, und obgleich ich gerade nicht in der Stimmung war, ging ich doch hinein, um die Zeit totzuschlagen.

      Ich komme jetzt zu dem wichtigsten Teil meines Berichtes, und ich möchte Sie bitten, genau auf die Einzelheiten zu achten. Auch ich habe den dringenden Wunsch, daß der Mörder vor Gericht gestellt und überführt wird.«

      Tarling unterbrach ihn, um ihn zur Eile zu treiben, aber Mr. Milburgh ließ sich nicht im mindesten einschüchtern.

      »Als ich später zu der hinteren Straße zurückkam, war sie leer, vor der Hintertür stand aber ein kleines gelbes Auto. Ich sah niemand darin oder in der Nähe. Ich war verwundert, denn ich erkannte im Augenblick nicht, daß es Thornton Lynes Wagen war. Die Hintertür stand offen, obwohl ich mich erinnerte, sie bei meinem Fortgehen geschlossen zu haben. Ich öffnete die Wohnungstür und trat ein. Als ich fortging, hatte ich das Licht ausgemacht, aber zu meinem größten Erstaunen sah ich durch die Tür von Odettes Schlafzimmer Licht schimmern.

      Ich sah einen Mann mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden liegen. Schnell ging ich hinein und drehte ihn um. Zu meinem Entsetzen erkannte ich Mr. Thornton Lyne. Er war bewußtlos und das Blut drang aus einer Wunde in seiner Brust. Ich glaubte schon, er sei tot. Mein erster Gedanke war – und erste Gedanken sind manchmal richtig –, daß Odette Rider, die aus irgendwelchem Grund zurückgekehrt war, ihn niedergeschossen hätte, und sonderbarerweise stand das Fenster im Schlafzimmer weit offen.«

      »Das ist aber durch ein starkes Gitter geschützt«, sagte Tarling. »Es war doch unmöglich, daß jemand dadurch entkommen konnte.«

      »Ich untersuchte die Wunde«, fuhr Milburgh unbeirrt fort, »und fand, daß sie sehr schwer war. Thornton Lyne gab noch Lebenszeichen von sich. Ich wollte das Blut stillen, zog eine Schublade auf und nahm das erste, was mir in die Hand kam, heraus. Ich brauchte einen kleinen Bausch, nahm zwei von Odettes Taschentüchern dazu und legte sie auf die Wunde. Aber während ich den Verband anlegte, mußte er gestorben sein.

      Plötzlich erkannte ich, in welch einer schrecklichen Lage ich mich befand. Ich dachte daran, wie sehr ich mich verdächtig machen würde, wenn jemand mich in diesem Zimmer überraschte, und es überfiel mich eine panikartige Furcht. Sofort nahm ich meinen Mantel und eilte aus dem Raum.«

      »Haben Sie das Licht brennen lassen?« fragte Tarling.

      Mr. Milburgh dachte einen Augenblick nach.

      »Ja«, sagte er dann, »ich habe vergessen, es auszuschalten.«

      »Haben Sie denn die Leiche in der Wohnung zurückgelassen?«

      »Darauf kann ich einen Eid leisten.«

      »Und war der Revolver, als Sie nach Hause kamen, noch in Ihrer Tasche?«

      Mr. Milburgh schüttelte den Kopf.

      »Warum haben Sie das nicht der Polizei gemeldet?«

      »Weil ich mich fürchtete. Ich war zu Tode erschrocken. Es ist ja schwer, das einzugestehen, aber ich bin von Natur aus feige.«

      »War denn sonst niemand in dem Raum, haben Sie das Zimmer untersucht?« fragte Tarling dringend.

      »Soweit ich sehen konnte, war sonst niemand da. Ich sagte Ihnen aber doch schon, das Fenster stand offen. Sie meinten zwar, es sei vergittert, aber eine schlanke Person