Milburgh lächelte schon wieder.
»Wenn Sie mir erklären würden, wie der Tote von Odettes Wohnung zum Hydepark kam, könnte ich Ihnen sofort antworten, denn bis zu diesem Augenblick glaube ich und bin fest davon überzeugt, daß Thornton Lyne von Odette ermordet wurde.«
Tarling atmete tief und hörbar.
»Das lügen Sie!« rief er.
Aber Mr. Milburgh war nicht im mindestens verwirrt.
»Nun gut«, sagte er, »dann werde ich Ihnen jetzt erzählen, was ich von der Sache weiß und was ich persönlich erlebt habe.«
35.
»Ich will nicht alle Ereignisse beschreiben«, begann Milburgh fließend, »die dem Tod von Mr. Thornton Lyne vorausgingen. Auch will ich nichts über seinen Charakter sagen. Er war kein mustergültiger Chef, er war argwöhnisch, ungerecht und in mancher Beziehung direkt gemein. Ich weiß wohl, daß er mich verdächtigte. Er glaubte, daß ich die Firma um beträchtliche Geldsummen betrogen hätte – schon lange wußte ich das. Ich habe dann volle Gewißheit erhalten durch die Unterhaltung, die er mit Ihnen führte, Mr. Tarling, an jenem Tag, als ich Sie zum erstenmal sah.«
Tarling erinnerte sich an diesen unangenehmen Tag. Milburgh hatte gerade in dem Augenblick das Büro betreten, als Lyne sich so unvorsichtig und freimütig über seinen Angestellten aussprach.
»Also, meine Herren, ich gebe nicht zu, daß ich die Firma bestohlen habe oder daß ich irgendeines Verbrechens schuldig bin. Ich gebe zwar zu, daß gewisse Unregelmäßigkeiten vorkamen, für die ich moralisch verantwortlich bin, aber hierüber hinaus kann ich nichts eingestehen. Bitte notieren Sie dies«, sagte er zu Whiteside, der seine Aussagen stenografisch protokollierte. »Bitte, erwähnen Sie dies ausdrücklich. Ungenauigkeiten und Nachlässigkeiten«, wiederholte er sorgfältig. »Hierüber hinaus gebe ich nichts zu.«
»Mit anderen Worten – Sie wollen überhaupt nichts eingestehen?«
»Nein, in keiner Weise«, sagte Mr. Milburgh ernst. »Es ist gerade genug, daß Mr. Lyne mich dauernd verdächtigte und einen Detektiv engagierte, um meine angeblichen Unterschlagungen nachzuweisen. Es ist wahr, daß ich viel Geld ausgegeben habe und daß ich zwei Häuser besitze, eins in Camden Town und eins in Hertford. Aber ich hatte glücklich an der Börse spekuliert und konnte aus diesem Gewinn alle meine Ausgaben bestreiten.
Da mir aber mein Gewissen keine Ruhe ließ, weil ich doch für die ganze Rechnungsführung der Firma verantwortlich war und auch ahnte und zum Teil wußte, daß jemand die Firma betrogen hatte, stellte ich Nachforschungen an. Sie werden verstehen, daß allein die Tatsache, daß ich moralisch für die Finanzen der Firma Lyne verantwortlich war, mir große Sorgen auferlegte.«
»Sie sprechen wie ein Buch«, sagte Whiteside, »und ich glaube Ihnen kein Wort von dem, was Sie uns eben erzählt haben. Ich halte Sie für einen großen Dieb, Milburgh, aber erzählen Sie nur ruhig weiter.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Milburgh sarkastisch. »Nun, meine Herren, die Verhältnisse spitzten sich zu, ich fühlte meine Verantwortung, ich wußte, daß tatsächlich Unterschlagungen vorgekommen waren, daß ich deshalb verdächtigt wurde und daß die Frau, die mir teuer war«, seine Stimme zitterte einen Augenblick, »schwer durch meine Unterlassungssünden getroffen werden würde.
Odette Rider wurde von der Firma entlassen, weil sie Mr. Lynes Antrag abgelehnt hatte. Mr. Lyne richtete seine ganze Wut gegen sie, und hierdurch kam er auf einen Gedanken.
An dem Abend nach der gemeinsamen Besprechung, an der Sie teilnahmen, Mr. Tarling, arbeitete ich noch spät im Büro. Ich räumte Mr. Lynes Schreibtisch auf. Als ich das Zimmer einen Augenblick verlassen hatte, fand ich bei meiner Rückkehr den Raum im Dunkeln. Ich stellte den Kontakt der Tischlampe wieder her und sah auf dem Schreibtisch eine Pistole liegen.
Früher habe ich allerdings ausgesagt«, bei diesen Worten wandte er sich wieder an Tarling, »daß ich die Pistole nicht gefunden hätte. Ich legte sogar großen Nachdruck darauf. Es tut mir leid, daß ich Ihnen jetzt eingestehen muß, daß ich die Unwahrheit sagte. Ich fand also die Pistole, steckte sie in die Tasche und nahm sie mit nach Hause. Wahrscheinlich ist es die Waffe, mit der Mr. Lyne erschossen wurde.«
Tarling nickte:
»Daran habe ich niemals gezweifelt, Milburgh. Sie hatten aber auch noch eine andere automatische Pistole, die Sie erst nach dem Mord bei John Wadham in Holborn Circus kauften.«
Mr. Milburgh senkte bejahend den Kopf.
»Das stimmt vollkommen«, gab er zu. »Die Waffe ist noch in meinem Besitz. Ich lebe in meiner Wohnung in Camden Town ganz allein und –«
»Sie brauchen die Sache nicht weiter zu erklären. Ich sage Ihnen nur, daß ich genau weiß, woher Sie die Pistole haben, mit der Sie an jenem Abend zweimal auf mich feuerten, als ich Odette Rider von Ashford zurückbrachte.«
Mr. Milburgh schloß die Augen, und ein resignierter Zug lag auf seinem Gesicht.
»Ich glaube, es wäre besser, wenn wir jetzt nicht gegenteilige Ansichten aussprechen«, sagte er. »Wenn Sie mir gestatten, werde ich jetzt in meinem Bericht fortfahren und mich nur an Tatsachen halten.«
Tarling hätte laut auflachen können über die Unverschämtheit dieses Menschen. Hätte Milburgh nicht Odette Rider des Mordes angeklagt, so würde er ihn mit Whiteside allein gelassen und versucht haben, Sam Stay aufzufinden, so hoffnungslos auch die Sache schien.
»Ich nahm den Revolver mit nach Hause«, fuhr Milburgh fort. »Sie werden verstehen, daß ich nahe an einem Nervenzusammenbruch war. Ich fühlte die Verantwortlichkeit schwer auf mir lasten, und ich wußte auch, daß ich aus dieser Welt scheiden mußte, wenn Mr. Lyne den Beteuerungen meiner Unschuld nicht glauben würde.«
»Mit anderen Worten, Sie wollten Selbstmord verüben?« fragte Whiteside ironisch.
»Ja, das war der Fall«, erwiderte Milburgh düster. »Miss Rider war entlassen worden, und ich sah den Ruin vor mir. Ihre Mutter wäre auch in die Affäre verwickelt worden. Solche Gedanken belasteten mich, als ich in meinem Wohnzimmer in Camden Town saß. Dann kam mir plötzlich ein Gedanke. Ich glaubte, daß Odette Rider ihre Mutter so sehr liebte, daß sie zu den größten Opfern bereit war und daß sie eventuell die Verantwortung für alle Ungenauigkeiten übernehmen würde, die in der Firma vorgekommen waren. Sie hätte dann so lange aufs Festland fliehen können, bis die Sache verjährt war. Zuerst hatte ich die Absicht, sie am nächsten Tag aufzusuchen, aber ich war noch im Zweifel, ob sie meine Bitte erfüllen würde. Junge Leute sind heutzutage so egoistisch und selbstsüchtig.«
Milburgh holte tief Atem.
»Ich verließ meine Wohnung noch am selben Abend und begegnete ihr zufällig, als sie nach Hertford fahren wollte. Ich erklärte ihr meine ganze Lage. Das arme Mädchen war natürlich starr vor Schrecken, aber es gelang mir, sie zu überreden, und ich ließ das Schuldbekenntnis unterschreiben, das Sie, Mr. Tarling, vernichtet haben.«
Whiteside schaute Tarling an. »Davon weiß ich ja gar nichts«, sagte er ein wenig vorwurfsvoll.
»Ich werde später auf diesen Punkt zurückkommen. Fahren Sie nur fort.«
»Ich hatte Mrs. Rider telegrafiert, daß ihre Tochter an dem Abend nicht mehr nach Hertford kommen würde. Auch an Mr. Lyne telegrafierte ich und bat ihn, mich in Miss Riders Wohnung zu treffen. Ich habe allerdings ihren Namen daruntergesetzt, da ich fest davon überzeugt war, daß er dann meiner Aufforderung unbedingt Folge leisten würde.«
»Sie wollten dadurch auch jeden Verdacht verwischen, der auf Sie fiel«, entgegnete Tarling scharf, »und wollten Ihren Namen aus der ganzen Sache heraushalten.«
»Jawohl«, sagte Milburgh langsam, als ob ihm erst jetzt dieser Gedanke gekommen wäre. »Ich hatte mit Miss Rider in großer Eile gesprochen und sie auch gebeten, nicht mehr in ihre Wohnung zurückzugehen. Ich versprach ihr, selbst dorthin zu gehen, um alles Nötige für ihre Reise zu packen. Ich wollte dann den Koffer in einem Auto nach Charing Cross bringen.«