gewiß, Mrs. Jones.«
»Können Sie mich morgen früh um neun Uhr am Paddington-Bahnhof erwarten? Ich werde natürlich Ihre Fahrkarte zahlen«, sagte sie eifrig. »Ich kann nicht dulden, daß Sie meinetwegen auch noch Ausgaben haben. Ich habe etwas Geld gespart.«
»Ich habe heute auch etwas verdient, so daß Sie sich darum nicht zu kümmern brauchen. Haben Sie etwas von Ihrem Mann gehört?«
»Nicht von ihm selbst, aber von einem anderen Mann, der eben aus dem Gefängnis gekommen ist.«
Ihre Lippen zitterten, und Tränen traten in ihre Augen.
»Er wird seine Drohung schon wahr machen, ich weiß es ganz genau«, sagte sie mit schluchzender Stimme. »Aber ich habe nicht meinetwegen Sorge.«
Leon sah sie erstaunt an. »Sie haben keine Sorge um sich?«
Er hatte schon immer vermutet, daß noch eine dritte Person im Spiel war, aber er hatte bisher noch nicht klarsehen können.
»Nein«, erwiderte sie bedrückt. »Sie wissen, daß er mich haßt, und Sie wissen auch; daß er mich umbringen wird, sobald er aus dem Gefängnis kommt. Aber ich habe Ihnen noch nicht alles erzählt.«
»Wo ist er denn jetzt?«
»Im Gefängnis zu Devizes. Er ist dorthin versetzt worden, in zwei Monaten wird er entlassen.«
»Und Sie glauben, daß er dann gleich zu Ihnen kommt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, so wird er es nicht machen«, entgegnete sie bitter. »Das ist nicht seine Art. Sie kennen ihn nicht, Mr. Lukas. Aber niemand kennt ihn so gut wie ich. Wenn er gleich zu mir käme, dann wäre ja alles gut. Aber das tut er nicht. Er wird mich ermorden, ich sage es Ihnen. Ich sorge mich nicht darum, wann es kommt. Er wurde nicht umsonst Bash Jones, der Totschläger, genannt. Ich kann dem Schicksal nicht entfliehen«, fuhr sie grimmig fort. »Er wird geradenwegs in mein Zimmer gehen und mich, ohne ein Wort zu sprechen, einfach niederschlagen. Und das wird dann mein Ende sein. Aber das ist mir alles gleich, darum kümmere ich mich nicht. Es ist das andere, was mir fast das Herz bricht und was mich die ganze Zeit so bedrückt hat.«
Leon wußte, es war nutzlos, ihr zuzureden, daß sie ihm alle ihre Sorgen anvertrauen sollte. Kurz darauf verließen sie zusammen die Wirtschaft.
»Ich hätte Sie gern gebeten, mich in meiner Wohnung zu besuchen, aber das würde die ganze Sache nur noch schlimmer machen, und ich möchte nicht, daß Sie meinetwegen in Unannehmlichkeiten kommen, Mr. Lukas.«
Er gab ihr zum erstenmal die Hand, und sie drückte sie schwach.
Nur wenige Menschen haben Amelia Jones bisher die Hand gegeben, dachte Gonsalez.
Er ging nach der Jermyn Street zurück und fand Manfred, der vor dem Kamin eingeschlafen war.
Am nächsten Morgen wartete er im Paddington-Bahnhof. Sein Anzug war diesmal nicht ganz so abgetragen, und zu seiner Überraschung hatte sich auch Mrs. Jones viel besser gekleidet, als er für möglich gehalten hatte. Ihre Kleider waren zwar einfach, aber niemand hätte in ihr eine arme Aufwartefrau vermutet. Sie lösten Billetts nach Swindon und sprachen auf der Hinfahrt wenig miteinander. Offenbar hatte sie sich noch nicht dazu entschlossen, sich ihm gegenüber auszusprechen.
In Newbury wurde der Zug aufgehalten, bis ein Personenzug, der nach der Stadt fuhr, auf ein Nebengeleise umgeleitet war, um einen Feriensonderzug vorbeifahren zu lassen. Frohe Knaben und Mädchen winkten aus den Fenstern.
»Ich hatte ganz vergessen, daß die Osterferien beginnen«, sagte Leon.
In Swindon stiegen sie aus, und nun sprach Amelia Jones zum erstenmal über den Zweck ihrer Reise.
»Wir müssen hier auf dem Bahnsteig bleiben«, sagte sie nervös. »Ich erwarte jemand, und ich möchte gern, daß Sie das Mädchen auch sehen, Mr. Lukas.«
Gleich darauf fuhr ein anderer Sonderzug ein, und die Mehrzahl der Fahrgäste waren wieder Kinder. Einige stiegen aus, um von hier aus andere Züge zu benutzen, die nicht nach London fuhren.
Leon sprach mit seiner Begleiterin, obwohl er wußte, daß sie ihm nicht zuhörte. Plötzlich sah er, wie ihre Augen aufleuchteten. Sie verließ ihn mit einem kleinen Seufzer, ging den Bahnsteig entlang und begrüßte ein hübsches, schlankes Mädchen, das an der Mütze das rotweiße Band einer berühmten Schule im Westen Englands trug.
»Mrs. Jones, es ist lieb von Ihnen, daß Sie hierhergekommen sind, um mich zu treffen. Ich wünschte, Sie würden sich nicht soviel Mühe machen. Ich wäre ebensogerne nach London gekommen«, sagte sie lachend. »Ist dies ein Bekannter von Ihnen?« Sie reichte Leon mit einem freundlichen Lächeln die Hand:
»Es ist schon gut, Miss Grace«, entgegnete Mrs. Jones erregt, »ich dachte nur, ich würde schnell hierherfahren, um Sie wieder einmal zu sehen. Wie geht es denn auf der Schule?«
»Oh, glänzend. Ich habe einen Schulpreis gewonnen.«
»Ist das nicht herrlich?« sagte Mrs. Jones fast ehrfürchtig. »Aber Sie haben Ihre Sachen schon immer sehr gut gemacht, mein Liebling.«
Das Mädchen wandte sich an Leon.
»Mrs. Jones war meine Kinderfrau vor vielen, vielen Jahren. Das stimmt doch, Mrs. Jones?«
Amelia nickte.
»Wie geht es denn Ihrem Mann? Ist er noch so unliebenswürdig?«
»Ach, er ist nicht so schlecht«, anwortete Mrs. Jones tapfer. »Nur manchmal ist es schwer, mit ihm auszukommen.«
»Ich hätte eigentlich Lust, ihn einmal zu sehen.«
»Ach nein, das wäre nichts für Sie, Miss Grace«, sagte Mrs. Jones hastig. »Das gibt Ihnen nur Ihr gutes Herz ein. Wo werden Sie denn die Ferien zubringen?«
»Ich gehe mit einigen Freundinnen nach Clifton. Molly Walker hat uns eingeladen. Sie ist die Tochter von Sir George Walker.«
Amelia Jones sah das Mädchen begeistert an, und Leon verstand, daß sich alle Liebe, deren diese arme Frau fähig war, auf dieses Kind konzentrierte, das sie aufgezogen hatte. Die drei gingen auf dem Bahnsteig auf und ab, bis der Anschlußzug einfuhr. Mrs. Jones stand vor der Tür des Abteils, bis sich der Zug in Bewegung setzte. Dann schaute sie den Wagen nach, die in der Ferne verschwanden.
»Ich werde sie nie wiedersehen«, sagte sie verzweifelt. »Nie wieder!«
Ihr Gesicht war eingefallen und noch bleicher als sonst. Leon nahm ihren Arm.
»Sie müssen jetzt mit mir kommen und etwas zu sich nehmen, Mrs. Jones. Sie haben wohl dieses junge Mädchen sehr gern?«
»Ob ich sie gern habe? O ja, ich liebe sie – sie ist ja meine Tochter!«
Als sie nach London zurückfuhren, saßen sie allein in einem Abteil, und nun erzählte Mrs. Jones ihre Leidensgeschichte.
»Grace war erst drei Jahre alt, als ihr Vater in Schwierigkeiten kam. Er war schon immer ein brutaler Mensch, und ich bin jetzt davon überzeugt, daß die Polizei seit seiner frühesten Jugend immer ein Auge auf ihn hatte. Als ich ihn heiratete, wußte ich das noch nicht. Er brach in ein Haus ein, in dem ich Kindermädchen war, und ich wurde damals entlassen, weil ich die Küchentür für ihn hatte offenstehen lassen. Ich hatte ja keine Ahnung, daß er ein Dieb war. Er wurde dann zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt, und als er wieder herauskam, schwor er, er würde nicht wieder ins Gefängnis zurückgehen. Wenn er das nächstemal in Gefahr käme, würde er einen Mord begehen. Er und einer seiner Bekannten machten bald darauf die Bekanntschaft eines reichen Buchmachers in Blackheath. Mein Mann pflegte alle schmutzige Arbeit für ihn zu tun, aber schließlich zankten sie sich, und Bash beraubte mit seinem Komplicen das Haus des Buchmachers. Sie erbeuteten nahezu neuntausend Pfund. Sie verübten den Einbruch an einem Renntage, und Bash wußte, daß sehr viele Banknoten im Haus lagen, die auf dem Rennplatz eingenommen waren. Man konnte also die Herkunft der Scheine nicht nachweisen. Ich dachte zuerst, daß er den Mann umgebracht hätte, und