Edgar Wallace

Edgar Wallace - Gesammelte Werke


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ist denn eigentlich Jean Prothero?«

      Leon lachte.

      »Ein sehr unternehmender Herr, daß er es wagt, sich am hellichten Tag in Westend auf der Straße sehen zu lassen«, gab Leon ausweichend zur Antwort. Er schaute auf seine Uhr. »Es ist allerdings nicht so tollkühn von ihm, denn alle Leute, die etwas vorstellen, kleiden sich jetzt zum Abendessen um.«

      »Ist er etwa ein Fassadenkletterer, der um diese Zeit in die Wohnungen einbricht?«

      Leon lachte wieder.

      »Nein, nicht ganz so etwas Gewöhnliches. Du meinst doch vermutlich einen Menschen, der ins Schlafzimmerfenster steigt, während die Familie im Untergeschoß beim Abendessen sitzt, und dann alle Wertsachen stiehlt, deren er habhaft werden kann?«

      »Ja, ganz richtig.«

      Leon schüttelte den Kopf.

      »Nein, Mr. Prothero ist viel interessanter, und zwar aus einem ganz anderen Grund. Zunächst einmal ist er ein kahlköpfiger Verbrecher, das heißt, er wird wahrscheinlich zum Verbrecher werden. Und wie du wohl weißt, George, sind solche Leute selten. Die Durchschnittsverbrecher haben struppige oder dünne Haare, und manchmal tragen sie einen Scheitel auf der verkehrten Seite, aber in den seltensten Fällen haben sie eine Glatze. Auf dem Schädel von Mr. Prothero wächst auch nicht ein einziges Haar. Er ist Schiffsmaat auf einem Frachtdampfer, der zwischen den Kanarischen Inseln und Southampton verkehrt, und hat eine sehr hübsche junge Frau; sein Schwager ist merkwürdigerweise ein Einbrecher, der allerdings nur kleine Diebstähle begeht. Ohne es zu wissen, habe ich seinen Verdacht erregt. Er weiß nämlich zufällig, daß ich einer der Vier Gerechten bin«, ergänzte er scheinbar sorglos.

      »Woher weiß er das?« fragte Manfred nach einer Weile.

      Leon hatte seinen Rock ausgezogen und eine seidene Hausjacke angelegt. Er rollte sich erst eine spanische Zigarette und steckte sie in Brand, bevor er antwortete.

      »Vor vielen Jahren, als die ganze Welt in Aufruhr war wegen der verderbenbringenden Organisation der Vier Gerechten, wurdest du festgenommen, mein lieber George, und im Chelmsford-Gefängnis eingesperrt. Von dort bist du damals auf eine recht abenteuerliche Weise entkommen, und als wir die Küste erreichten, gingen wir beide und Poiccart an Bord der Jacht unseres guten Freundes, des Prinzen von Asturien, der uns damals die Ehre gab, als Vierter in unserem Bunde zu agieren.«

      Manfred nickte.

      »Auf diesem Schiff befand sich auch Mr. Jean Prothero«, fuhr Leon fort. »Wie er dorthin kam, will ich dir später einmal erklären. Ich vergesse niemals ein Gesicht, das ich einmal gesehen habe, George, aber unglücklicherweise geht es anderen Leuten auch so. Mr. Prothero erinnerte sich an mich, und als er mich in Barside Buildings sah –«

      »Was hast du denn in Barside Buildings zu tun?« fragte Manfred lächelnd.

      »Dort wohnen zwei Verbrecher, die nichts voneinander wissen und beide farbenblind sind!«

      Manfred legte seine Feder nieder und wandte sich um. Er war schon darauf gefaßt, wieder einen Vortrag über Verbrecherphysiognomien und Kriminalstatistiken zu hören, denn er hatte die Begeisterung in Gonsalez' Stimme gehört.

      »Diese beiden Leute machen es mir möglich, Mantegazzas und Schemls vollständig falsche Theorien zu widerlegen, daß Verbrecher niemals farbenblind sind. Und doch sind diese beiden Männer von frühester Jugend an Übeltäter gewesen, sie haben schon lange Gefängnisstrafen hinter sich. Und das Merkwürdigste: Auch ihre Väter waren farbenblind und waren Verbrecher!«

      »Nun gut, aber du wolltest mir doch etwas von Mr. Prothero erzählen?« unterbrach ihn Manfred taktvoll.

      »Einer der beiden Leute, die ich beobachtet habe, ist Mr. Protheros Schwager, der Halbbruder seiner Frau. Ihr eigener Vater ist ein rechtschaffener Zimmermann, der in einer Wohnung über ihnen haust. Diese Wohnungen sind allerdings nur sehr klein, sie bestehen gewöhnlich aus zwei Zimmern und einer Küche. Die Baumeister dieser Mietskasernen in Lambeth haben den Luxus eines Badezimmers nicht für nötig gehalten. Ich bin auch mit Mrs. Prothero bekannt geworden, als ich versuchte, ihren Bruder auszuholen.«

      »Und dabei hast du vermutlich auch Mr. Prothero kennengelernt«, sagte Manfred geduldig.

      »Nein, dem bin ich nur zufällig auf der Treppe begegnet. Ich bemerkte, daß er mich scharf ansah, aber sein eigenes Gesicht lag im Schatten, und ich erkannte ihn erst, als ich ihn heute zum zweitenmal traf. Er folgte mir hierher, und ich habe auch die Überzeugung, daß er mir gestern nachgegangen ist. Heute wollte er sich wohl nun die Bestätigung holen, daß ich wirklich hier wohne.«

      »Du bist doch ein merkwürdiger Mensch«, meinte Manfred.

      »Möglich, daß ich noch viel merkwürdiger werde«, erwiderte Leon lächelnd. »Es hängt jetzt alles davon ab, ob Prothero glaubt, daß ich ihn erkannt habe. Wenn das der Fall ist –«

      Leon zuckte die Schultern.

      »Es ist nicht das erstemal, daß ich mit dem Tod gespielt habe und doch mit heiler Haut davongekommen bin«, sagte er leichthin.

      Manfred ließ sich aber durch den sorglosen Ton seines Freundes nicht täuschen.

      »Ist es so schlimm? Ich glaube, daß die Sache für Prothero noch viel gefährlicher ist. Ich möchte nicht gern einen Menschen töten, nur weil er uns erkannt hat ... Das deckt sich durchaus nicht mit meiner Ansicht über Recht und Gerechtigkeit.«

      »Ganz recht«, entgegnete Leon kurz. »Das wird wohl auch nicht nötig sein. Es sei denn –« Er machte eine Pause.

      »Was meinst du?«

      »Es sei denn, daß Prothero seine Frau wirklich liebt. Dann wird es ein sehr schwieriger Fall werden.«

      Am nächsten Morgen kam er mit seiner Tasse Tee in Manfreds Schlafzimmer. George schaute ihn verwundert an.

      »Was ist denn mit dir los, Leon? Du bist wohl gar nicht zu Bett gewesen?«

      Leon Gonsalez trug einen grauen Flanellrock, dazu gleiche Beinkleider und ein weiches, seidenes Hemd. Manfred schloß aus diesem Anzug, daß er die ganze Nacht aufgeblieben war und sich seinen Studien gewidmet hatte.

      »Ich habe im Speisezimmer gesessen und eine Friedenspfeife geraucht.«

      »Aber doch nicht die ganze Nacht? Ich wachte einmal auf und sah kein Licht.«

      »Ich saß im Dunkeln, ich wollte ja auch nur verschiedenes hören.«

      Manfred rührte nachdenklich seinen Tee um.

      »Steht es schon so schlimm? Hast du etwa erwartet ...?«

      Leon lächelte.

      »Ich habe allerdings nicht das erwartet, was eintrat. Willst du mir einen sehr großen Gefallen tun, mein lieber George?«

      »Was soll es sein?«

      »Sprich bitte heute nicht über Mr. Prothero. Wir wollen uns lieber über rein wissenschaftliche, am besten landwirtschaftliche Dinge unterhalten, wie es sich für ehrbar andalusische Farmer ziemt. Außerdem wollen wir spanisch sprechen.« Leon war sehr ernst geworden.

      Manfred runzelte die Stirn.

      »Warum das alles? Du bist etwas geheimnisvoll. Aber wenn du es willst, werde ich nur in Spanisch über Landwirtschaft sprechen und Prothero in keiner Weise erwähnen.« Er nickte seinem Freund zu und erhob sich. »Darf ich wenigstens darüber sprechen, daß ich ein Bad nehmen will?« fragte er ein wenig ironisch.

      An diesem Tag ereignete sich nichts Besonderes. Einmal war Manfred nahe daran, doch von Mr. Prothero zu sprechen, aber Leon, der seine Gedanken erriet, hob warnend den Finger.

      Gonsalez selbst sprach über Verbrechen, er beleuchtete das Thema allerdings mehr von der wissenschaftlichen Seite und ging besonders auf seine Entdeckung ein, daß es farbenblinde Verbrecher gäbe. Aber von Mr. Prothero sagte er kein Wort.

      Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, entfernte sich Leon aus der Wohnung, kam aber gleich