Die Wirtin räusperte sich.
»Ich hoffe, daß sie es wirklich bekommen«, sagte sie mit einer gewissen Betonung.
»Sie scheinen nicht davon überzeugt zu sein?« meinte Manfred lächelnd, als er mit ihr aus dem Garten zurückkehrte, wo er die schönen Chrysanthemen bewundert hatte.
»Bis jetzt hat er noch nichts in dieser Richtung unternommen«, erwiderte sie vorsichtig. »Der Vikar war gestern morgen bei ihm und hat ihn gefragt, ob nicht die Armen von Newton Abbott auch einen kleinen Teil der Summe abbekommen könnten. Wir haben hier in der letzten Zeit viel Arbeitslose. Der Doktor hat ihm gesagt, er würde sich die Sache durch den Kopf gehen lassen, und hat ihm dann einen Scheck über fünfzig Pfund geschickt, soviel ich gehört habe.«
»Das ist nicht gerade überwältigend viel«, entgegnete Manfred. »Warum glauben Sie, daß er bald abreisen will?«
»Seine Koffer sind gepackt, und seinen Dienstboten ist gekündigt, daher weiß ich es. Die arme Frau, sie hat wohl nicht viel Freude in ihrem Leben gehabt.«
Hiermit meinte sie wohl die Frau des Arztes. Aber sie wußte auch nicht mehr von ihr, als was sie von anderen Leuten erfahren hatte, und meinte, daß an den Redereien nicht viel sei. Warum sollte denn schließlich der Doktor nicht hübsche Mädchen auf seine Autotouren in die Heide mitnehmen, wenn ihm das Vergnügen machte.
»Ja, er hatte seine Eigenheiten«, sagte sie.
Anscheinend hatte der Doktor allerhand Seitensprünge während seiner Ehe hinter sich.
»Ich würde ihn gern einmal persönlich sprechen«, sagte Leon.
Aber sie schüttelte den Kopf.
»Er empfängt niemand, nicht einmal seine Patienten.«
Trotzdem hatte Leon Erfolg, als er einen Besuch machte. Er hatte den Charakter des Arztes richtig beurteilt, als er annahm, daß er einen Zeitungsreporter nicht abweisen würde.
Die Haushälterin meldete Leon an. Sie schloß aber vorsichtigerweise die Haustür vor ihm, bis sie sich Bescheid geholt hatte. Gleich darauf kam sie jedoch zurück und ließ ihn ein.
Er wurde in das Studierzimmer geführt. Der Raum war in vollständiger Unordnung, und es zeigte sich, daß die Mitteilung von Mrs. Martin auf Wahrheit beruhte. Dr. Twenden wollte die Stadt so bald als möglich verlassen und war gerade, noch damit beschäftigt, Briefe und Rechnungen zu verbrennen.
»Treten Sie bitte näher«, sagte der Doktor. »Sie hätten wahrscheinlich irgend etwas über mich erfunden, wenn ich Sie nicht empfangen hätte. Was wollen Sie von mir wissen?«
Dr. Twenden sah gepflegt aus, hatte regelmäßige Gesichtszüge und trug einen sorgfältig geschnittenen Schnurrbart.
Hellblaue Augen liebe ich nicht, sagte Leon zu sich selbst. Auch der Schnurrbart gefällt mir nicht.
»Man hat mich von London hierhergeschickt, um Sie zu fragen, an welche wohltätigen Anstalten Sie das Geld Ihrer verstorbenen Frau verteilen wollen, Dr. Twenden«, erwiderte Leon mit der Unverfrorenheit und rücksichtslosen Offenheit eines Londoner Reporters.
Der Doktor runzelte die Stirn.
»Die Leute in der Hauptstadt sollten sich doch wenigstens so viel Zeit lassen; daß ich mir das selbst überlegen kann. Ich bin im Begriff, eine wichtige Überseereise zu machen. An Bord des Dampfers habe ich ja Zeit genug, mich damit zu beschäftigen. Ich werde dann sehen, welche der verschiedenen wohltätigen Gesellschaften im Devonshire-Bezirk das größte Anrecht darauf haben, und dementsprechend werde ich das Geld verteilen.«
»Wenn Sie nun aber gar nicht mehr zurückkommen?« fragte Leon unbarmherzig. »Es könnte doch irgend etwas passieren, das Schiff könnte untergehen, oder der Zug, mit dem Sie fahren, könnte verunglücken – was wird dann aus dem Geld?«
»Das ist ganz meine Sache«, entgegnete Twenden sehr steif und förmlich. Er schloß die Augen eine Sekunde und zog die Brauen zusammen. »Ich möchte jetzt nicht weiter darüber sprechen. Ich habe viele liebenswürdige Briefe aus dem Publikum erhalten, aber auch solche, die mich angriffen und beleidigten. Gerade heute morgen erhielt ich ein Schreiben, in dem gesagt wurde, daß bedauerlicherweise die Vier Gerechten nicht mehr tätig wären. Die Vier Gerechten!« sagte er mit verächtlichem Lächeln. »Als ob ich mich im geringsten um diese blöde Gesellschaft kümmern würde!«
Leon lächelte auch.
»Vielleicht ist es Ihnen angenehmer, wenn ich Sie heute abend noch einmal aufsuche, wenn Sie jetzt keine Zeit haben?« schlug er vor.
»Heute abend bin ich, der Ehrengast einiger Freunde«, erwiderte der Doktor wichtig. »Ich werde nicht vor halb ein Uhr zurückkommen.«
»Wo wird denn das Essen stattfinden? Vielleicht kann man darüber einen interessanten kleinen Artikel schreiben.«
»Im Lion-Hotel. Sie könnten erwähnen, daß Sir John Marden den Vorsitz führt, auch Lord Tussborough hat seine Anwesenheit zugesagt. Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen die Liste aller Teilnehmer geben, die kommen werden.«
Die Sache mit dem Festessen trifft sich ja vorzüglich, dachte Leon mit Genugtuung.
Er erhielt die Liste, steckte sie in die Tasche und verabschiedete sich mit einigen Verbeugungen.
Am Abend beobachtete er von seinem Fenster aus das Haus des Arztes. Er sah, wie er in festlichem Gesellschaftsanzug die Wohnung verließ und in einem Taxi fortfuhr. Eine Viertelstunde später trat die Haushälterin heraus und zog ihre Handschuhe an. Sie wartete etwa zehn Minuten an der Straßenecke und stieg dann in den Autobus nach Torquay, als er vorüberkam.
Nach dem Abendessen unterhielt sich Leon ein wenig mit der Wirtin und brachte das Gespräch auch wieder auf das Haus Dr. Twendens.
»Vermutlich hat er eine Menge Dienstboten, um die Wohnung in Ordnung zu halten?«
»Augenblicklich ist nur Milly Brown bei ihm, die in Torquay wohnt. Aber sie geht nächsten Sonnabend auch weg. Die Köchin ist schon vorige Woche gegangen. Er nimmt alle seine Mahlzeiten im Hotel ein.«
Nachdem er das erfahren hatte, überließ er es seinem Freund Manfred, sich weiter mit Mrs. Martin zu unterhalten, was dieser auch ausgezeichnet verstand.
Leon schlüpfte durch den Garten und erreichte einen kleinen Gang auf der Rückseite des Hauses. Die Verbindungstür, durch die man in Twendens Garten kommen konnte, war verschlossen, aber die Gartenmauer bot kein unüberwindliches Hindernis. Wie er erwartet hatte, war die Hintertür des Hauses verschlossen, aber ein Fenster in der Nähe stand nur angelehnt. Offensichtlich dachten weder der Doktor noch die Haushälterin an Einbrecher. Ohne große Schwierigkeit kletterte er durch das Fenster und kam durch die Küche in das Haus. Bald fand er auch die Bibliothek, in der er sich am Nachmittag mit dem Doktor unterhalten hatte. Der Schreibtisch besaß keine Geheimfächer, und fast alle Papiere und Briefe lagen verbrannt im Kamin. Große Mengen Asche waren auf dem Rost zu sehen. Auch in dem kleinen Laboratorium und in den anderen Räumen fand Leon nichts Besonderes.
Er hatte auch nicht erwartet, gleich bei der ersten Untersuchung eine entscheidende Entdeckung zu machen. Wahrscheinlich hatte die Polizei nach der Verhaftung des Arztes das ganze Haus gründlich durchsucht und hatte es auch während seiner Abwesenheit verwaltet.
Leon durchsuchte alle Taschen der Anzüge Twendens, die er in einem Kleiderschrank im Schlafzimmer fand, aber es kam nur ein Theaterprogramm zum Vorschein.
»Ich fürchte fast, ich brauche den Paßschlüssel von Baxeter gar nicht«, sagte er bedauernd zu sich selbst und ging wieder nach unten. Er knipste seine elektrische Taschenlampe an, um noch die Kleider zu prüfen, die in der Eingangsdiele hingen, aber der Garderobenständer war leer.
Als er den Raum ableuchtete, fiel das Licht auch auf einen großen Briefkasten, der an der Tür befestigt war. Leon hob den gelben Deckel auf, konnte aber zuerst nichts sehen. Der Briefkasten sah aus, als ob er von dem Doktor selbst gemacht worden sei. Das bemalte Blech war ziemlich roh um einen hölzernen Rahmen gebogen; die Holzleisten konnte