Edgar Wallace

Edgar Wallace - Gesammelte Werke


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haben Sie denn die Pistole gefunden?«

      »Sie lag in dem Nähkorb, ganz unten auf dem Boden, und war mit Wollknäueln, Flicken und Bandstücken bedeckt.«

      »Was war es denn für ein Revolver?« fragte Tarling.

      »Eine Browning-Pistole. Es waren noch sechs Patronen im Rahmen und eine im Lauf. Offensichtlich war sie abgefeuert worden, denn der Lauf war innen ganz mit Pulverschleim überzogen. Wir haben auch das Geschoß im Kamin gefunden. Haben Sie Miss Stevens dort getroffen?«

      »Jawohl«, sagte Tarling ruhig. »Miss Stevens ist identisch mit Odette Rider.«

      Er hörte den andern am Telefon pfeifen.

      »Haben Sie sie verhaftet?«

      »Noch nicht«, entgegnete Tarling. »Kommen Sie, bitte, und holen Sie mich vom Zug ab. Ich werde in einer halben Stunde von hier abfahren.«

      Er hängte ein und wandte sich zu dem Arzt.

      »Ich vermute, man hat eine Pistole gefunden?« fragte der Doktor interessiert.

      »Ja.«

      »Hm«, sagte der Doktor, und schaute nachdenklich auf Tarling. »Das ist eine böse Sache. Was war denn eigentlich dieser Thornton Lyne für ein Mensch?«

      Tarling zuckte die Schultern.

      »Er war gerade nicht der Beste. Aber selbst der schlechteste Mensch hat ein Anrecht auf den Schutz des Gesetzes, und der Mörder wird unter allen Umständen bestraft werden –«

      »Sie meinen die Mörderin?« fragte der Doktor lächelnd.

      »Nein, der Mörder«, sagte Tarling kurz. »Die Strafe wird nicht davon beeinflußt, ob der Tote einen guten oder einen schlechten Charakter hatte.«

      Dr. Saunders blies dichte Rauchwolken von sich.

      »Es ist ganz verfehlt, ein Mädchen wie Miss Rider mit einem solchen Mord zu belasten.«

      Es klopfte an die Tür, und die Oberin trat herein.

      »Miss Stevens ist fertig«, sagte sie.

      Tarling erhob sich. Auch Dr. Saunders stand auf, trat an sein Pult, nahm das große Krankenbuch herunter, legte es auf den Tisch, schlug es auf und griff zur Feder.

      »Ich muß nur noch kurz die Entlassung eintragen«, sagte er und blätterte verschiedene Seiten um. »Hier. Miss Stevens, leichte Gehirnerschütterung und Quetschung.«

      Plötzlich schaute er den Detektiv an.

      »Wann wurde der Mord begangen?«

      »Am Abend des 14.«

      »Am 14.«, wiederholte der Doktor in Gedanken. »Um wieviel Uhr?«

      »Der Zeitpunkt liegt nicht ganz fest«, entgegnete Tarling ungeduldig. Er hätte am liebsten die Unterhaltung abgebrochen, der geschwätzige Arzt fiel ihm auf die Nerven. »Wahrscheinlich kurz nach elf.«

      »War es bestimmt nach elf? Wäre es nicht möglich, daß die Tat früher begangen wurde – wann hat man denn Mr. Lyne das letzte Mal gesehen?«

      »Um halb zehn«, antwortete Tarling etwas ironisch. »Wollen Sie denn auch Detektiv werden, Doktor?«

      »Nein, das nicht«, sagte Saunders lächelnd, »aber ich freue mich, daß ich die Unschuld des Mädchens beweisen kann.«

      »Ihre Unschuld beweisen? Wie meinen Sie das?«

      »Der Mord konnte also nicht vor elf Uhr geschehen. Der Ermordete wurde das letzte Mal um halb zehn gesehen.«

      »Nun, und?«

      »Um neun Uhr hat der Zug, mit dem Miss Rider von Charing Cross abfuhr, die Station verlassen, und um halb zehn wurde sie mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert.«

      Einen Augenblick lang war Tarling ganz ruhig. Dann ging er auf Doktor Saunders zu, ergriff die Hand des erstaunten Mannes und drückte sie kräftig.

      »Das ist die beste Nachricht, die ich je in meinem Leben hörte«, sagte er heiser.

      Die Rückreise nach London blieb Tarling für immer mit fast fotografischer Treue in Erinnerung. Odette sprach wenig, und er selbst war damit zufrieden, alle die merkwürdigen Umstände überdenken zu können, die Odettes Flucht betrafen.

      Und wenn die beiden auch nicht sprachen, so waren sie doch glücklich, nebeneinander zu sitzen. In diesem Schweigen lagen eine unausgesprochene Kameradschaft und ein Verständnis für einander, das schwer zu erklären war. Hatte er sich in sie verliebt? Ihm war der Gedanke noch ganz unfaßbar, daß er in dieses Stadium gekommen sein könnte. Er hatte sich in seinem Leben noch niemals verliebt. Nie war ihm auch nur der leiseste Gedanke gekommen, daß selbst er einmal in diesen Zustand geraten könnte.

      Schon der bloße Gedanke, sich vielleicht in Odette verliebt zu haben, verwirrte ihn, denn es fehlte ihm noch jedes Selbstvertrauen in diesen Dingen, und er fürchtete, daß seine Zuneigung zu ihr vollständig hoffnungslos sei. Er konnte sich nicht denken, daß ihn überhaupt eine Frau lieben könnte. Und nun beruhigte ihn ihre Gegenwart und ihre süße Nähe, beruhigte und erregte ihn zugleich. Er versuchte sich seine Lage klarzumachen. Er war ein Detektiv, der gegen eine Frau vorgehen sollte, die unter dem Verdacht des Mordes stand, aber er hatte Angst, seine Aufgabe auszuführen. Er hatte den Haftbefehl in der Tasche, aber er war froh, daß er ihn nicht auszuführen brauchte. Die Fahrt erschien ihm viel zu kurz, und erst als der Zug durch die dünnen Nebelbänke fuhr, die London bedeckten, erwähnte er den Mord wieder, und auch dann kostete es ihn große Überwindung.

      »Ich werde Sie in ein Hotel bringen, in dem Sie übernachten können«, sagte er, »und morgen begleite ich Sie dann nach Scotland Yard, wo Sie mit einem der höheren Beamten sprechen müssen.«

      »Dann bin ich also nicht verhaftet?« fragte sie lächelnd.

      »Nein, Sie sind nicht verhaftet«, sagte er lächelnd. »Aber ich fürchte, daß viele Fragen an Sie gestellt werden, die Ihnen sehr unangenehm sind. Miss Rider, Sie müssen doch verstehen, daß Sie sich durch Ihre Handlungsweise sehr verdächtig gemacht haben. Sie sind unter falschem Namen nach Frankreich abgereist. Und bedenken Sie, daß der Mord in Ihrer Wohnung begangen wurde.«

      Sie zitterte.

      »Bitte, sprechen Sie nicht mehr darüber«, bat sie leise.

      Er fühlte, wie sie das quälte. Aber er wußte, daß sie sich auf ein Verhör vorbereiten mußte, das wenig Rücksicht auf ihre Gefühle nahm.

      »Ich wünschte nur, Sie würden mir Ihr Vertrauen schenken. Ich bin fest davon überzeugt, daß ich Ihnen viel Unannehmlichkeiten ersparen und alle Verdachtsgründe gegen Sie entkräften könnte.«

      »Mr. Lyne hat mich gehaßt. Ich glaube, ich habe ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen, ich habe seine Eitelkeit aufs schwerste verletzt. Sie wissen doch selbst, daß er diesen Verbrecher zu meiner Wohnung schickte, um Beweismaterial gegen mich zu schaffen.«

      Er nickte.

      »Haben Sie Sam Stay früher schon gesehen?«

      »Nein, ich habe nur von ihm gehört. Ich wußte, daß Mr. Lyne sich für einen Verbrecher interessierte und daß dieser ihn sehr verehrte. Einmal nahm ihn Mr. Lyne sogar ins Geschäft mit, um ihn dort anzustellen. Aber Sam Stay wollte nicht. Mr. Lyne hat mir auch einmal gesagt, daß dieser Mann alles, was in Menschenkräften stände, für ihn tun würde.«

      »Stay ist der Überzeugung, daß Sie den Mord begangen haben«, sagte Tarling düster. »Lyne hat ihm anscheinend allerhand Geschichten von Ihrem Haß gegen ihn erzählt. Meiner Meinung nach ist er viel gefährlicher für Sie als die Polizei. Glücklicherweise hat dieser arme Kerl den Verstand verloren.«

      Sie schaute ihn erstaunt an.

      »Ist er verrückt?« fragte sie. »Hat dieses Unglück ihn so mitgenommen?«

      Tarling nickte.

      »Er