Edgar Wallace

Edgar Wallace - Gesammelte Werke


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Ruhe hinzu.

      Er benützte den schönen symbolischen Ausdruck, mit dem die Chinesen den Tod bezeichnen.

      »Gestern habe ich die kleine junge Frau gefunden«, sagte Tarling nach einer Pause. Er meinte Odette Rider.

      »Du magst die kleine junge Frau gefunden haben, aber damit hast du noch nicht den Mörder gefunden«, erwiderte Ling Chu, der an der Seite des Tisches stand und seine Hände respektvoll in den weiten Ärmeln verbarg. »Denn die kleine Frau hat den Mann mit dem weißen Gesicht nicht umgebracht.«

      »Woher weißt du denn das?«

      »Die kleine junge Frau hat nicht genug Kraft, Herr, auch hat sie nicht genügend Verstand, um einen schnellen Wagen zu fahren.«

      »Meinst du damit ein Auto?« fragte Tarling schnell, und Ling Chu nickte.

      »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Natürlich, der Mörder Thronton Lynes muß ja auch das Auto zum Hydepark gefahren haben. Aber woher weißt du denn, daß sie das nicht kann?«

      »Ich habe mich danach erkundigt«, sagte der Chinese einfach. »Viele Leute in dem großen Geschäft kennen die kleine junge Frau, und sie haben mir alle gesagt, daß sie es nicht kann.«

      Tarling dachte eine Weile nach.

      »Ja, das stimmt, die kleine junge Frau hat den Mann mit dem weißen Gesicht nicht getötet, denn sie war viele Meilen weit entfernt, als der Mord geschah. Es bleibt aber immer noch die Frage offen, wer es getan hat.«

      »Das wird der Jäger der Menschen noch entdecken«, sagte Ling Chu zuversichtlich.

      »Wir wollen sehen«, meinte Tarling.

      Er kleidete sich an und ging nach Scotland Yard, wo er sich mit Whiteside verabredet hatte. Später wollte er Odette Rider in die Polizeidirektion begleiten. Als Tarling in das Büro trat, besah sich Whiteside gerade einen Gegenstand, der auf einem Stück Papier vor ihm lag und matt glänzte. Es war eine kurze automatische Pistole.

      »Hallo!« rief Tarling interessiert. »Ist das die Waffe, mit der Thornton Lyne ermordet wurde?«

      »Ja, wir haben sie in dem Nähkorb von Miss Rider gefunden«, erwiderte Whiteside.

      »Die Pistole kommt mir so bekannt vor«, sagte Tarling und nahm die Waffe in die Hand. »Ist sie noch geladen?«

      »Nein, ich habe alle Patronen und auch das Magazin entfernt.«

      »Sie haben wahrscheinlich die Beschreibung der Pistole und ihre Fabriknummer schon allen Waffenschmieden bekanntgegeben?«

      Whiteside nickte.

      »Es wird zwar nicht viel nützen, denn es ist eine amerikanische Pistole, und wenn sie nicht in England gekauft worden ist, haben wir wenig Aussicht, den Besitzer festzustellen.«

      Tarling betrachtete die Waffe von allen Seiten.

      Als er den Handgriff der Pistole näher untersuchte, stieß er plötzlich einen Ausruf aus. Whiteside war auch aufmerksam geworden und entdeckte zwei tiefe Rillen, die quer über den Griff liefen.

      »Was ist denn das?« fragte er.

      »Es sieht so aus, als ob vor Jahren zwei Geschosse auf den Besitzer dieser Waffe abgefeuert worden wären, die aber nicht ihn, sondern nur den Pistolengriff trafen.«

      Whiteside mußte lachen.

      »Woher wollen Sie denn das wissen, Mr. Tarling?« fragte er. »Sind das Schlußfolgerungen?«

      »Nein, das ist eine Tatsache. Die Pistole gehört nämlich mir!«

      »Das ist Ihre Waffe?« fragte Whiteside ungläubig. »Mein lieber Freund, sind Sie nicht ganz bei Sinnen? Wie kann denn das Ihre Pistole sein?«

      »Es ist trotzdem meine Pistole«, entgegnete Tarling ruhig. »Ich habe sie gleich erkannt, als ich sie auf dem Schreibtisch liegen sah, aber ich dachte, ich würde mich irren. Diese Kugelspuren beweisen, daß ein Irrtum ausgeschlossen ist. Diese Pistole war mein treuester Freund, ich habe sie sechs Jahre in China mit mir herumgetragen.«

      Whiteside war fast atemlos.

      »Das würde also bedeuten, daß Thornton Lyne mit Ihrer Pistole ermordet wurde?«

      Tarling nickte.

      »Es ist erstaunlich, aber es ist zweifellos meine Waffe, und es ist auch dieselbe, die in der Wohnung von Miss Rider gefunden wurde. Ich zweifle auch nicht im mindesten daran, daß der tödliche Schuß aus dieser Pistole abgegeben wurde.«

      Ein langes Schweigen trat ein.

      »Nun, das wirft meine ganzen Theorien über den Haufen«, erklärte Whiteside und legte die Waffe wieder auf den Tisch.

      »Wir stoßen auf immer neue Geheimnisse bei der Bearbeitung dieses Falles. Das ist die zweite unglaubliche Geschichte, die mir heute vorgekommen ist.«

      »Die zweite?« fragte Tarling.

      Er fragte es ganz gleichgültig, denn seine Gedanken waren noch immer mit dieser Entdeckung beschäftigt, die der ganzen Sache ein anderes Ansehen gab und für ihn recht unangenehm war. Thornton Lyne war mit seiner Pistole ermordet worden!

      »Jawohl, die zweite Überraschung«, bestätigte Whiteside.

      Mit Gewalt riß sich Tarling von seinen Grübeleien los.

      »Können Sie sich hierauf noch besinnen?« fragte Whiteside. Er öffnete einen Geldschrank und nahm ein großes Kuvert heraus, aus dem er ein Telegramm hervorzog.

      »Ja, das ist das Telegramm, in dem Odette Rider Lyne gebeten haben soll, in ihre Wohnung zu kommen. Es wurde unter den Papieren des Toten gefunden, als man das Haus durchsuchte.«

      »Um es ganz genau zu sagen«, verbesserte Whiteside, »es wurde von Lynes Hausmeister, einem gewissen Cole, gefunden. Der Mann scheint ganz ehrlich zu sein, und es kann nicht der mindeste Verdacht auf ihn fallen. Ich hatte ihn heute morgen hierherbestellt, um ihn noch genauer auszufragen, ob er etwas Näheres darüber wüßte, wo Lyne an dem Abend hingegangen sein könnte. Er wartet im Nebenraum. Ich werde ihn rufen lassen.«

      Er klingelte und gab dem uniformierten Polizisten, der hereinkam, einen Auftrag.

      Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und der Beamte führte einen gutaussehenden Mann in mittlerem Alter herein, dem man seinen Beruf schon von weitem ansah.

      »Berichten Sie Mr. Tarling auch, was Sie mir erzählt haben«, sagte Whiteside.

      »Meinen Sie das Telegramm?« fragte Cole. »Ja, ich fürchte, ich habe einen Fehler gemacht, aber ich war durch die schrecklichen Ereignisse so verwirrt und hatte dadurch ein wenig den Kopf verloren.«

      »Was ist denn mit dem Telegramm?« fragte Tarling.

      »Ich brachte dieses Telegramm einen Tag nach dem Mord zu Mr. Whiteside. Aber ich habe dabei eine falsche Aussage gemacht. Das ist mir früher nie passiert, aber ich sage Ihnen, die polizeilichen Verhöre haben mich verwirrt.«

      »Worauf bezog sich denn Ihre falsche Angabe?« fragte Tarling schnell.

      »Sehen Sie, Sir«, sagte der Hausmeister und drehte nervös seinen Hut in den Händen, »ich habe damals ausgesagt, daß Mr. Lyne es geöffnet hätte. Aber in Wirklichkeit wurde es erst eine Viertelstunde nach der Abfahrt von Mr. Lyne abgegeben. Ich habe es dann nämlich selbst geöffnet, als ich von dem Mord hörte. Ich dachte aber, ich würde in Unannehmlichkeiten kommen, weil ich mich um Sachen kümmerte, die mich nichts angingen, und so habe ich Mr. Whiteside erzählt, daß Mr. Lyne es selbst aufgemacht habe.«

      »Also hat er das Telegramm gar nicht mehr erhalten?« fragte Tarling.

      »Nein, Sir.«

      Die beiden Detektive sahen sich erstaunt an.

      »Was halten Sie davon, Whiteside?«

      »Ich wäre glücklich, wenn ich das erklären könnte. Das Telegramm