Erklärung mehr, warum Lyne an dem Abend in die Wohnung von Miss Rider ging. Sind Sie auch sicher, Cole, daß Mr. Lyne das Telegramm nicht erhalten hat?«
»Durchaus, Sir«, entgegnete Cole. »Ich habe es selbst in Empfang genommen. Als Mr. Lyne fortgefahren war, ging ich zur Haustür, um ein wenig frische Luft zu schöpfen, und stand gerade auf der Treppe, als der Bote es brachte. Wenn Sie genau auf dem Formular nachsehen, werden Sie finden, daß es um neun Uhr zwanzig aufgenommen wurde. Zu dieser Zeit lief es in unserem Postamt ein. Die Postanstalt liegt ungefähr zwei Meilen von uns entfernt, und so war es doch ganz ausgeschlossen, daß es noch in unserer Wohnung ankommen konnte, solange Mr. Lyne zu Hause war. Ich bin auch sehr verwundert, daß Sie diese Tatsache bisher übersehen haben.«
»Da haben Sie recht«, gab Tarling lächelnd zu. »Ich danke Ihnen, Cole. Ihre Aussagen genügen vollkommen.«
Als der Mann gegangen war, setzte er sich Whiteside gegenüber und steckte die Hände in die Taschen.
»Ich kenne mich jetzt überhaupt nicht mehr aus«, sagte er dann. »Ich werde einmal die Situation skizzieren, Whiteside. Der Fall wird jetzt so kompliziert, daß ich schon die einfachsten Dinge vergesse. Am Abend des 14. wurde Thornton Lyne von einer oder mehreren bis jetzt unbekannten Personen ermordet, wahrscheinlich in der Wohnung von Odette Rider, seiner früheren Kassiererin. Eine große Blutlache wurde auf dem Teppich gefunden, die Pistole wurde in der Wohnung entdeckt, auch das Geschoß. Niemand hat gesehen, wie Mr. Lyne in das Haus kam oder wie er es wieder verließ. Am nächsten Morgen wurde er im Hydepark ohne Rock und Weste aufgefunden. Das seidene Nachthemd einer Dame war um seine Brust geschlungen, und zwei Taschentücher von Odette Rider lagen auf der Wunde, auf seiner Brust fand man einen Strauß gelber Narzissen, und in seinem Wagen lagen Rock, Weste und Stiefel. Und dieser Wagen stand etwa hundert Meter von dem Fundort der Leiche entfernt. Habe ich alles richtig gesagt?«
Whiteside nickte. »Sie haben alles sehr gut behalten.«
»Bei der Untersuchung des Schlafzimmers, in dem das Verbrechen begangen wurde, wird ein blutiger Daumenabdruck auf der weißen Kommodenschublade gefunden. Ein kleiner Koffer liegt halb gepackt auf dem Bett. Es wird festgestellt, daß er Odette Rider gehört. Später findet sich dann auch die Pistole in dem Nähkorb der jungen Dame, verborgen unter allerhand Stoffen. Die Pistole wird als mein Eigentum erkannt. Zuerst häufen sich die Verdachtsgründe derart, daß man annehmen muß, Miss Rider sei die Mörderin. Die Beschuldigung läßt sich aber nicht aufrechterhalten, denn erstens lag sie bewußtlos in einem Hospital in Ashford, als der Mord begangen wurde, ferner wurde ein Telegramm von Lynes Hausmeister gefunden, das angeblich von ihr aufgegeben sein soll und in dem sie Lyne aufforderte, in ihre Wohnung zu kommen. Dieses Telegramm wurde aber dem Ermordeten nicht persönlich überreicht.«
Tarling erhob sich.
»Kommen Sie mit, wir wollen zu Cresswell gehen. Diese Sache macht mich noch vollständig verrückt.«
Der hohe Beamte hörte sich die Geschichte, die ihm die beiden vortrugen, ruhig an. Man merkte nicht im mindesten, daß er irgendwie erstaunt war.
»Es hat fast den Anschein, als ob dieser Mord in der Kriminalgeschichte noch berühmt werden wird. Natürlich kann man gegen Miss Rider nicht weiter vorgehen, und es war sehr klug von Ihnen, daß Sie die Verhaftung nicht vornahmen. Trotzdem muß sie aber unter Beobachtung bleiben, da sie offensichtlich den Mörder kennt oder ihn zu kennen glaubt. Sie muß Tag und Nacht bewacht werden – früher oder später werden wir dann den Mann herausfinden, den sie im Verdacht hat.
Es ist besser, daß Whiteside sich das nächstemal mit ihr unterhält«, wandte er sich an Tarling. »Vielleicht kann er mehr aus ihr herausholen. Ich glaube zwar nicht, daß es großen Zweck hat, sie ins Polizeipräsidium zu bringen. Nebenbei, Tarling, alle Rechnungsbücher des Geschäftshauses Lyne sind der bekannten Firma Dashwood & Solomon in St. Mary Axe übergeben worden, damit sie dort geprüft werden. Wenn Sie den Verdacht haben, daß Angestellte die Firma benachteiligt haben und daß diese Diebstähle mit dem Mord etwas zu tun haben sollten, wird Ihnen das Resultat der Untersuchung jedenfalls nützlich sein.«
Tarling nickte.
»Wie lange wird die Prüfung dauern?« fragte er.
»Die Bücherrevisoren haben eine Woche dafür angesetzt. Die Bücher sind heute morgen zu der Firma hingebracht worden. Das erinnert mich übrigens an Ihren Freund, Mr. Milburgh. Er hat der Polizei bereitwilligst alle Auskünfte gegeben, so daß sie sich ein klares Bild von der finanziellen Lage des Geschäfts machen kann.«
Cresswell lehnte sich in seinen Sessel zurück und sah Tarling an.
»Es war also Ihre Waffe, mit der der Mord begangen wurde?« sagte er mit einem kleinen Lächeln. »Das scheint für Sie recht unangenehm zu sein.«
»Ich weiß auch nicht, was ich daraus machen soll«, erwiderte Tarling lachend. »Ich gehe jetzt heim und stelle sofort Nachforschungen an, wie meine Pistole dorthinkommen kann. Ich kann mich noch genau darauf besinnen, daß ich sie vor vierzehn Tagen herausnahm und zu einem Waffenschmied schickte, der sie ölen sollte.«
»Wo verwahren Sie gewöhnlich die Pistole?«
»In einer Kommode bei all den anderen Andenken an Schanghai. Niemand außer Ling Chu hat Zutritt zu meinem Zimmer, und der Chinese ist immer in der Wohnung, wenn ich ausgehe.«
»Sprechen Sie von Ihrem chinesischen Diener?«
»Er ist nicht gerade mein Diener«, sagte Tarling lächelnd. »Er ist einer der besten eingeborenen Detektive und hat schon viele Verbrecher gefangen und überführt. Er ist absolut zuverlässig, und ich kann ihm unter allen Umständen trauen.«
»Mr. Lyne ist also mit Ihrer Pistole ermordet worden?« fragte Cresswell wieder. Es trat eine kleine Pause ein.
»Vermutlich fällt Lynes ganzes Vermögen an die Krone«, fuhr Cresswell fort. »Soviel ich weiß, hinterläßt er keine Verwandten oder Erben.«
»Das stimmt nicht«, sagte Tarling ruhig.
Cresswell sah ihn erstaunt an.
»Hat er doch einen Erben?«
»Er hat einen Vetter«, entgegnete Tarling lächelnd, »der leider nahe genug mit ihm verwandt ist, um sich als Erbe der Lyneschen Millionen legitimieren zu können.«
»Warum leider?« fragte Cresswell.
»Weil ich dieser Erbe bin«, antwortete Tarling.
17.
Tarling verließ die Polizeidirektion und ging an dem sonnenbeschienenen Themseufer entlang. Er war aufgeregt und sagte sich selbst, daß die Aufklärung dieses Falles über seine Kräfte hinausginge. Der hohe Polizeibeamte hatte ihn merkwürdig angesehen, als er erfuhr, daß der alleinige Erbe des großen Vermögens der Detektiv war, der diesen Mord aufklären wollte. Obendrein hatte man seinen Revolver in dem Zimmer gefunden, in dem der Mord begangen wurde.
Er mußte über dieses Zusammentreffen lächeln. Nun war einmal die Reihe an ihm, ungerechterweise in Verdacht zu kommen, und er mußte plötzlich daran denken, wie viele Menschen er wohl schon während seiner Laufbahn fälschlich verdächtigt hatte.
Er stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf und fand Ling Chu damit beschäftigt, Silber zu putzen. Ling Chu war eigentlich ein Diebsfänger und in seiner Art ein großer Detektiv, er hatte aber nebenbei auch die Aufgabe übernommen, sich um das persönliche Wohlbefinden Tarlings zu kümmern. Tarling sprach kein Wort, sondern ging geradenwegs in sein Zimmer und öffnete eine Kommode. In einer besonderen Schublade lagen seine weißen Tropenanzüge, tadellos sauber und peinlich geglättet. Sein Tropenhelm hing an einem Haken und daneben seine lederne Revolvertasche. Er nahm sie herunter und sah, daß die Tasche leer war. Er hatte es auch gar nicht anders erwartet.
»Ling Chu«, sagte er ruhig.
»Ich höre dich, Lieh Jen«, sagte der Chinese und legte Löffel und Putzzeug beiseite.
»Wo ist mein Revolver?«
»Er ist fort, Lieh Jen.«
»Seit