Edgar Wallace

Edgar Wallace - Gesammelte Werke


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Geschäftsräume der Firma Dashwood & Solomon lagen in einem kleinen Gebäude mitten in der City. Sie hatte den besten Ruf, und die angesehensten Firmen Englands zählten zu ihren Kunden. Die beiden Inhaber waren in den Adel erhoben worden. Tarling wurde von Sir Felix Solomon in dessen Privatbüro empfangen.

      Es war ein großer, stattlicher Mann in reifen Jahren. Seine Umgangsformen waren ein wenig schroff, aber er hatte einen gutmütigen Charakter. Er schaute über seine Brille, als der Detektiv eintrat.

      »Sie kommen von Scotland Yard«, sagte er, während er die Karte noch einmal las. »Ich habe aber nur fünf Minuten Zeit für Sie, Mr. Tarling. Sie wollen mich wahrscheinlich wegen der Revision der Lyneschen Bücher sprechen?«

      Tarling nickte.

      »Wir konnten noch nicht damit beginnen, aber wir hoffen, die Sache morgen in Angriff nehmen zu können. Wir haben sehr viel zu tun, und wir müssen mehr Leute einstellen, um die Arbeiten durchzuführen, die die Regierung uns überwiesen hat. – Nebenbei bemerkt, Sie wissen wohl, daß die Firma Lyne nicht zu unseren Kunden gehört, sondern daß sie ihre Revisionen durch die Firma Purbrake & Store ausführen ließ? Aber wir haben den Auftrag auf die Bitte Mr. Purbrakes hin übernommen, dem viel daran liegt, daß eine unparteiische Prüfung vorgenommen wird. Es wird nämlich vermutet, daß einer der Angestellten der Firma Unterschlagungen gemacht hat. Hierzu kommt noch der tragische Tod Mr. Lynes, und so erscheint es doppelt notwendig, daß eine neutrale Firma die Revision durchführt.«

      »Das kann ich gut verstehen«, erwiderte Tarling. »Die Behörde weiß die Schwierigkeiten, die Sie haben, wohl zu würdigen. Aber ich bin hierhergekommen, um mir persönlich eine Information zu verschaffen, da ich in doppelter Weise an dem Fall interessiert bin –«

      Sir Felix schaute ihn scharf an.

      »Mr. Tarling?« wiederholte er. »Aber natürlich! Nur meine ich, in diesem Falle müßten Sie eigentlich einen Brief oder ein Schreiben der Behörde vorzeigen?«

      »Das stimmt. Aber mein Interesse an dem Vermögen der Firma ist in diesem Augenblick mehr oder weniger unpersönlich. Der Geschäftsführer der Firma ist ein gewisser Milburgh.«

      Sir Felix nickte.

      »Ja, er war sehr liebenswürdig und hat uns alle möglichen Aufschlüsse gegeben. Und sollten die Gerüchte, daß Milburgh die Firma bestohlen haben soll, irgendwie auf Wahrheit beruhen, dann hat er uns offenbar die größte Hilfe geleistet, sich selbst zu überführen.«

      »Haben Sie alle Geschäftsbücher hier?«

      »Ja, alle«, erwiderte Sir Felix mit Nachdruck. »Die letzten drei wurden heute morgen von Mr. Milburgh selbst hierhergebracht. Dort liegen sie.« Er zeigte auf ein großes Paket, das in braunes Papier eingepackt war und auf einem kleinen Tisch lag. Es war mit Bindfaden umschnürt und obendrein noch von einem starken, roten Band umgeben, das versiegelt war.

      Sir Felix beugte sich ein wenig nach vorn und klingelte. Gleich darauf trat ein Angestellter ein.

      »Bringen Sie diese Geschäftsbücher zu den anderen.«

      Der Mann schwankte beinahe unter dem Gewicht der schweren Last, als er das Zimmer wieder verließ.

      »Wir bewahren alle Bücher und Rechnungsbelege der Firma Lyne in einem besonderen Raum auf«, erklärte Sir Felix. »Sie sind alle versiegelt worden, und diese Siegel werden in Gegenwart Mr. Milburghs als einer interessierten Partei und einem Vertreter der Staatsanwaltschaft erbrochen.«

      »Wann wird das geschehen?«

      »Morgen nachmittag oder vielleicht schon morgen früh. Wir werden Scotland Yard die genaue Zeit noch bekanntgeben, da wir annehmen, daß auch diese Behörde ein Interesse daran hat und einen Vertreter schicken wird.«

      Er erhob sich unvermittelt und verabschiedete sich von dem Detektiv.

      Tarling war also schon wieder auf einen anderen toten Punkt gekommen, als er in St. Mary Axe einen Autobus nach Westen bestieg. Immer wieder geriet er bei seinen Untersuchungen in eine Sackgasse. Erst hatte er Odette Rider in einem falschen Verdacht gehabt, nun war es ebenso möglich, daß Milburgh an diesem Mord unschuldig war.

      Trotzdem hatte er ein Gefühl der Befriedigung, daß die Geschäftsbücher der Firma Lyne so schnell einer Revision unterzogen wurden. Diese Prüfung konnte doch vielleicht zu der Entdeckung des Mörders führen und auf jeden Fall neue Tatsachen beibringen, die den Verdacht entkräfteten, in dem Odette Rider immer noch stand.

      Er war zu der Firma Dashwood & Solomon gegangen, um sich einmal persönlich zu orientieren. Nachdem er über diese Sache beruhigt war, kehrte er in seine Wohnung zurück, um den Fall Ling Chu zu klären, der jetzt am meisten in dem Verdacht stand, die Tat begangen zu haben.

      Er hatte nur die Wahrheit gesagt, als er Inspektor Whiteside erklärte, er wisse mit Ling Chu umzugehen. Einen chinesischen Verbrecher – er war jetzt so weit, zu glauben, daß auch Ling Chu, sein treuer Assistent, zu diesen zählte – kann man nicht nach europäischer Weise behandeln. Und er, der als ›Jäger der Menschen‹ in ganz Südchina bekannt war, stand in dem Ruf, Geständnisse durch Methoden zu erpressen, die kein Gesetzbuch sanktionierte.

      Er trat in seine Wohnung, schloß die Tür hinter sich ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Er wußte, daß Ling Chu zu Hause war, denn er hatte ihm Anweisung gegeben, auf seine Rückkehr zu warten.

      Der Chinese kam in den Vorraum, nahm ihm Mantel und Hut ab und folgte ihm ins Wohnzimmer.

      »Schließ die Tür, Ling Chu«, sagte Tarling auf chinesisch. »Ich habe dir etwas zu sagen.«

      Diese letzten Worte hatte er englisch gesprochen, und der Chinese schaute ihn überrascht an. Tarling hatte ihn noch nie in dieser Sprache angeredet, und er wußte sofort, was das zu bedeuten hatte.

      Tarling setzte sich an den Tisch.

      »Ling Chu, du hast mir noch nie gesagt, daß du englisch sprechen kannst.« Er ließ seinen Diener nicht aus den Augen.

      »Der Herr hat mich ja auch nicht danach gefragt«, erwiderte der Chinese ruhig. Zu Tarlings größter Überraschung war sein Englisch ohne fremden Akzent und vollkommen richtig.

      »Das ist nicht wahr«, sagte Tarling streng. »Als du mir erzähltest, daß du von dem Mord gehört hattest, sagte ich, daß du kein Englisch verständest, und du hast mir nicht widersprochen.«

      »Es ist auch nicht gut für einen Diener, seinem Herrn zu widersprechen«, entgegnete Ling Chu kühl. »Ich habe sehr gut Englisch gelernt, ich war Schüler der Jesuitenschule in Hankau. Es ist aber nicht gut für einen Chinesen, in China englisch zu sprechen, es ist auch nicht gut, daß andere wissen, daß er es versteht. Aber der Herr muß gewußt haben, daß ich englisch spreche und auch lese, denn warum sollte ich sonst die Zeitungsausschnitte in dem Kasten aufheben, die der Herr heute morgen gesucht hat?«

      Tarlings Augenlider zogen sich zusammen.

      »Du weißt also, daß ich deinen Kasten geöffnet habe?«

      Der Chinese lächelte. Das war etwas Ungewöhnliches, denn solange Tarling sich besinnen konnte, hatte Ling Chu niemals gelächelt.

      »Die Zeitungsausschnitte lagen in einer gewissen Ordnung – einer in dieser Richtung und der nächste in der anderen Richtung. Als ich sie nach meiner Rückkehr von Scotland Yard betrachtete, lagen sie ganz anders. Sie konnten sich nicht selbst in Unordnung bringen, Herr, und außer dir konnte niemand meine Kiste öffnen.«

      Es entstand eine lange Pause, die peinlich genug für Tarling war, denn durch seine Nachlässigkeit hatte Ling Chu die Durchsuchung seines Eigentums entdeckt.

      »Ich dachte, ich hätte sie wieder so zurückgelegt, wie ich sie herausgenommen hatte.« Tarling wußte sehr wohl, daß er durch Leugnen nichts gewinnen würde. »Nun sage mir, Ling Chu, stimmt das alles, was ich in den Ausschnitten gelesen habe?«

      »Ja, Herr, es ist wahr. Die kleine Narzisse, oder wie sie die Fremden nannten, die kleine gelbe Narzisse, war meine Schwester. Sie wurde gegen meinen