Edgar Wallace

Edgar Wallace - Gesammelte Werke


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aber die kleine Narzisse war wie eine Figur aus Porzellan, und sie hatte die Tugenden von tausend Jahren.«

      »Sie war ein gutes Mädchen?« wiederholte Tarling und sprach diesmal chinesisch. Er wählte Worte von besonderer Bedeutung, die das Andenken der Toten ehrten.

      »Sie lebte gut und starb gut«, sagte der Chinese ruhig. »Die Worte eines Engländers beleidigten sie. Er gab ihr viele böse Namen, weil sie nicht zu ihm kommen und sich auf seine Knie setzen wollte. Und obgleich er ihr die Schande antat, sie vor den Augen anderer Männer zu umarmen, war sie doch gut und starb in allen Ehren.«

      Wieder trat ein tiefes Schweigen ein.

      »Das verstehe ich«, sagte Tarling ruhig. »Hast du erwartet, als du mir erklärtest, du würdest mich nach England begleiten, diesen bösen Engländer wiederzutreffen?«

      Ling Chu schüttelte den Kopf.

      »Nein, das hatte ich mir aus dem Sinn geschlagen, bis ich ihn neulich in dem Warenhaus wiedersah. Dann kamen die schlimmen Gedanken plötzlich wieder, und der Haß schlug in hellen Flammen auf, den ich doch ganz überwunden glaubte.« Er hielt inne.

      »Und du hast seinen Tod gewünscht?«

      Ling Chu beantwortete die Frage nur durch kurzes Nicken.

      »Du mußt mir alles sagen, Ling Chu.«

      Der Chinese ging nun ruhelos in dem Zimmer auf und ab, seine Erregung sprach aus den Bewegungen seiner Hände.

      »Ich hatte die kleine Narzisse sehr lieb und hoffte, daß sie sich bald verheiraten und Kinder haben würde. Ihr Name würde dann nach dem Glauben meines Volkes gesegnet sein. Denn sagte nicht der große Meister Konfuzius: ›Was mag verehrungswürdiger sein als die Mutter von Kindern?‹ Und als sie starb, Meister, fühlte ich, daß mein Herz leer war in mir, denn es war keine andere Liebe in meinem Leben. Aber dann wurde der Ho-Sing-Mord begangen, und ich reiste ins Innere des Landes, um Lu Fang festzunehmen. Und diese Tätigkeit half mir, meinen Schmerz zu vergessen. Und ich hatte vergessen, bis ich ihn wiedersah. Aber dann kam die alte Trauer wieder in mein Herz, und ich ging aus –«

      »Um ihn zu töten.«

      »Ja, um ihn zu töten«, wiederholte Ling Chu.

      »Sage mir nun alles.« Tarling atmete tief.

      »Es war an jenem Abend, als der Herr zu der kleinen jungen Frau ging. Ich war fest entschlossen auszugehen, konnte aber keinen Vorwand dafür finden, denn du hattest mir den strengen Befehl gegeben, daß ich deine Wohnung in deiner Abwesenheit nicht verlassen sollte. Deshalb fragte ich, ob ich dich nicht begleiten dürfte. Ich hatte die Schnell-schnell-Pistole in meine Manteltasche gesteckt, nachdem ich sie vorher geladen hatte. Herr, du gabst mir den Auftrag, dir zu folgen, aber als ich sah, daß du deinen Weg begonnen hattest, verließ ich deine Spur und ging zu dem großen Geschäft.«

      Tarling sagte überrascht: »Lyne wohnt doch nicht in dem Haus?«

      »Das habe ich dann auch entdeckt«, erklärte Ling Chu einfach. »Ich dachte aber, daß er sich in einem so großen Haus selbst eine schöne Wohnung eingerichtet hätte. In China wohnen die Eigentümer der großen Firmen gewöhnlich in ihrem Geschäftshaus. Deshalb ging ich dorthin, um es zu durchsuchen.«

      »Wie bist du denn hineingekommen?« fragte Tarling überrascht.

      Wieder lächelte Ling Chu.

      »Das war sehr leicht. Der Herr weiß ja, wie gut ich klettern kann. Ich fand eine lange eiserne Regenröhre, die bis zu dem Dach hinaufführte. Zwei Seiten des Geschäftshauses liegen an großen Straßen, die dritte grenzt an eine schmälere Straße, und die vierte öffnet sich auf eine kleine Gasse, in der nur wenige Lichter brannten. Dort bin ich hochgeklettert. Auf dem Dach entdeckte ich viele Fenster und Türen, und für einen Mann wie mich bestand keine weitere Schwierigkeit mehr. Ich kam von einem Geschoß in das andere, es brannte kein Licht in all den vielen Räumen, aber ich durchsuchte trotzdem alles sorgfältig. Ich konnte aber nichts finden als viele Waren und Packkisten, Schränke und lange Barrieren –«

      »Du meinst Ladentische«, verbesserte ihn Tarling.

      Ling Chu nickte.

      »Und schließlich kam ich zum Zwischengeschoß, wo ich den Mann mit dem weißen Gesicht gesehen hatte.« Er machte eine kurze Pause. »Zuerst ging ich zu dem großen Raum, wo wir ihm begegneten, der war aber zugeschlossen. Ich öffnete mit einem Schlüssel, aber es brannte kein Licht darin, und ich wußte auch, daß niemand dort war. Dann ging ich leise den Gang entlang, weil ich am anderen Ende ein Licht sah. Und dann kam ich in ein Büro.«

      »War der Raum auch leer?«

      »Ja, aber es brannte eine Lampe, und die Schreibtischschubladen standen auf. Ich dachte mir, daß er hier sein müßte und verbarg mich hinter einem großen Schrank. Die Pistole nahm ich aus der Tasche. Plötzlich hörte ich Schritte. Ich schaute vorsichtig um die Ecke und erkannte einen anderen Mann.«

      »Milburgh«, sagte Tarling.

      »Ja, das ist sein Name. Er setzte sich an den Schreibtisch des Mannes mit dem weißen Gesicht. Ich wußte, daß es sein Schreibtisch war, denn es standen viele Bilder und Blumen darauf. Der Mann wandte mir den Rücken zu.«

      »Was machte er denn?« fragte Tarling.

      »Er durchsuchte den Schreibtisch und nahm aus einer der Schubladen einen Briefumschlag. Ich konnte von meinem Platz aus auch in die Schublade hineinsehen, es lagen viele kleine Dinge darin, wie sie die Touristen in China kaufen. Aus dem Umschlag nahm er das rote Papier mit den vier schwarzen Schriftzeichen, das wir ›hong‹ nennen.«

      »Und was geschah weiter?« fragte Tarling begierig.

      »Er steckte den Briefumschlag in die Tasche und ging hinaus. Ich hörte ihn den Gang entlanglaufen, dann verließ ich mein Versteck und untersuchte den Schreibtisch auch. Dabei legte ich den Revolver auf die Tischplatte, weil ich beide Hände brauchte. Ich fand aber nichts – nur ein kleines Buch, in das der Mann mit dem weißen Gesicht alles von Tag zu Tag hineinschreibt, was er erlebt.«

      »Du meinst ein Tagebuch?« fragte Tarling. »Was tatest du dann?«

      »Ich durchsuchte den Raum und trat dabei auf einen Draht. Es muß die Verbindung für die elektrische Lampe auf dem Tisch gewesen sein, denn plötzlich wurde es dunkel. In diesem Augenblick hörte ich, daß der große Mann zurückkam, und entfernte mich schnell durch die andere Tür. Das ist alles, Herr«, sagte Ling Chu einfach. »Ich stieg wieder auf das Dach, so rasch ich konnte, denn ich fürchtete, entdeckt zu werden, das wäre nicht ehrenvoll für mich gewesen.«

      Tarling pfiff.

      »Und die Pistole hast du dort gelassen?«

      »Das ist die Wahrheit, Herr. Ich habe mich selbst in deinen Augen herabgesetzt, und in meinem Herzen bin ich ein Mörder. Denn ich bin zu der Stelle gegangen, um den Mann zu töten, der mir und meiner Familie Schaden gebracht hat.«

      »Und dabei hast du die Pistole zurückgelassen?« sagte Tarling noch einmal. »Und Milburgh hat sie gefunden!«

      Es war schwer, Ling Chus Geschichte zu glauben. Man konnte eher annehmen, daß er log. Es gibt auf der Welt keinen geschickteren Erfinder im Erzählen als den Chinesen. Er geht umständlich, eingehend und genau in alle Einzelheiten und hat eine angeborene Gabe, Geschichten zu erdenken und zu ersinnen und die Fäden gewandt miteinander zu verweben. Aber Tarling war davon überzeugt, daß Ling Chu ihm die Wahrheit gesagt hatte, denn er hatte frei und offen gesprochen, er hatte sich sogar in Tarlings Hand gegeben, als er seine Absicht eingestand, Lyne zu ermorden.

      Tarling konnte sich vorstellen, was sich ereignet hatte, nachdem der Chinese fortgegangen war. Milburgh hatte sich im Dunkeln vorwärts getastet, ein Streichholz angesteckt und gesehen, daß der Stecker aus der Wand gezogen war. Er hatte dann die elektrische Verbindung wiederhergestellt und zu seiner größten Verwunderung die Waffe auf dem Tisch liegen sehen. Vielleicht hatte er auch geglaubt, daß er sie vorher übersehen hatte.

      Was mochte