des alten Polizeipräsidiums abspielte. „Die prachtvolle Fassade des Präsidiums stellen sie unter Schutz, aber die Kirche würden sie am liebsten verschachern und für ein lukratives Hochhaus abreißen“, grübelte der Kommissar vor sich hin. „Aber was will man machen? Die Russen und die Rumänen zahlen wohl nicht genug Miete, und für die paar Protestanten rund um den Bahnhof lohnt es sich nicht.“ Für den realitätsbewussten Ermittler keine Frage: „Das sind Sachzwänge. Gerade dann, wenn unsere Stadt als Wirtschaftsstandort im Rennen bleiben will.“
Zum vertrauten Bild zwischen Museum und Kirche gehörte inzwischen auch der Porträtmaler Klaus Teschke: Der dunkelhaarige Mittfünfziger mit schwarzgrauem Vollbart war mit seinem mobilen Stand extra aus der Innenstadt in die Friedrich-Ebert-Anlage umgezogen. Hier malte er nun jedem sein Ebenbild, verkaufte aber auch Stadtansichten vom Römer und der Skyline – und seit neuestem auch wahlweise vom Roten Platz in Moskau oder dem Kloster am Ladogasee, einem der ersten Klöster, die Lenin zu einem Gulag, einem Zwangslager, hatte umbauen lassen.
„Schöne Bilder, die Sie da verkaufen“, rief Pokroff dem Maler zu. „Da bekommt man ja richtig Lust auf eine romantische Winterreise zu Mütterchen Russland.“
Teschke lächelte verschmitzt. „Klar doch, man muss den Leuten immer wat bieten. Auch die Ikonen brauchen dat richtije Umfeld. Ick hab hier all die sehnsüchtijen Erinnerungen im Programm, die man drinne so nicht koofen kann.“
„Erinnerungen an Klöster, die zu Internierungslagern umfunktioniert wurden. Na ja. Und woher kennen Sie sich so gut mit russischen Ikonen aus? Sprechen tun sie eher wie ein eigeplackter Berliner, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.“
Teschke musterte sein Gegenüber: Wie ein waschechter Frankfurter sah der prüfende Herr Inspektor mit graublonder Sturmfrisur auch nicht gerade aus. „Aber klar kenn ick mir da aus. Dat mit den Ikonen is allet ordentlich auf Studienreisen jeschult worden. Ick bin nämlich Ost-Berliner, müssen Sie wissen. Da durfte man immer mal rüber zum großen Bruder, um wat auszukundschaften. Und dat Beste kommt noch. Die schönen Kuppelkirchen hier auf meinen Bildern, die ham se damals im Innern abjefackelt, um die Ikonen zu plündern, die sie nun den wissbejierigen Besuchern im Musentempel zeigen.“
Pokroff nickte. Wenn dem wirklich so war, musste der pflichtgetreue Kommissar ein doppelt wachsames Auge und Ohr haben. Zumal die benachbarte evangelische Matthäuskirche schon seit längerer Zeit Gastgeberin für konservative russisch- und rumänisch-orthodoxe Gemeinden war. Die führenden Geistlichen hatten sich in den Tageszeitungen bereits sehr abfällig geäußert – allen voran der russische Priester gleich nebenan. Denn der größte Teil der angekauften Ikonen für das Museum stammte aus der Privatsammlung eines Georgiers, dem man eine verdächtige Nähe zum früheren KGB und zu jenen Archivaren nachsagte, die im Kreml konfiszierte Kirchengüter aus der Ära Lenin und Stalin hüteten. Vor allem die Hauptattraktion, eine Barbara-Ikone aus dem westlichen Sibirien, berührte ein dunkles Kapitel sowjetischer Militärgeschichte und bot Zündstoff für immer neue Medienschlachten. Und das in einer Zeit, da sich Russland und Georgien vor dem Hintergrund kriegerischer Auseinandersetzungen im Kaukasus im kulturellen Leben von Frankfurt zu etablieren suchten. So war Russland erst vor wenigen Jahren zu Gast bei der Buchmesse – und Georgien schickte sich ebenfalls an, in die Fußstapfen des großen Nachbarn zu treten. Diese Medienschlacht um ein paar verdächtige Ikonen konnte da wirklich niemand brauchen.
Kritische russische Medien hatten als Drahtzieher des Ikonenhandels sogar einen Moskauer Unterweltboss vermutet, den man unter dem Spitznamen boewoj kon (Schlachtross) kannte – bis die Zensur solcherlei Berichte untersagte. So oder so: Sein Gespür sagte dem Oberkommissar, dass ihm sein letzter freier Tag kurz vor der Ausstellungseröffnung noch einmal eine letzte Atempause gönnen sollte. Sobald die Türen im Museum aufgingen, würden die Emotionen hochkochen. Ein ehrgeiziger Museumsdirektor und ein eifernder exilrussischer Priester, das konnte sich nicht vertragen. Pokroff selbst war bestenfalls noch an seinem markanten Gesichtsausdruck als Nachkomme eines russischen Vaters und einer russlanddeutschen Mutter zu erkennen. Dass sein in der Schreibung eingedeutschter Familienname auf die wolgadeutsche Stadt Pokrowsk zurückging, die seit der Revolution Engels hieß, war nur noch für osteuropäische Sprach- und Geschichtsexperten zu erschließen. Auch wenn Pokroff stets bemüht war, wie ein nüchterner deutscher Kriminalbeamter zu agieren, der der Kultur seiner russischen Altvorderen wenig Beachtung schenkte, so ging ihm dieses Museum und seine skandalöse Vorgeschichte in seiner Freizeit nur schwer aus dem Kopf. Erst recht nicht, wenn das Handy angeschaltet war.
„Mist, schon wieder vergessen, das Ding auszumachen“, fluchte Pokroff, als er die wohlvertraute Melodie von der dahinplätschernden Moldau hörte. Mit Smetanas romantischer Komposition war der ewige Mobilstress selbst nach Dienstschluss noch einigermaßen zu ertragen.
Wer konnte das nun wieder sein? Hoffentlich nicht der oberste Dienstherr im Präsidium, dachte Pokroff. Dann studierte er die Nummer genauer: Sie lautete zwar so ähnlich wie die von der Polizei, es handelte sich jedoch um seine eigene Festnetznummer.
„Schatz, denkst du bitte daran, dass du noch bei Decor Walther vorbeifahren wolltest, um die Farben für die neue Gardine auszusuchen“, bat Ehefrau Carola Pokroff.
Doch der Kommissar hatte seine Gedanken gerade ganz woanders. Was mussten solche Anrufe auch immer zur falschen Zeit kommen? „Selbstverständlich, meine Liebe, das steht um 14.30 Uhr auf meiner Marschroute zwischen Hauptwache und Paulskirche auf dem Programm“, antwortete er rasch.
„Ach, weißt du, die Silvia hat erzählt, sie war bei Freunden aus Weißrussland eingeladen, die sich eine Villa auf dem Lerchesberg gekauft haben. Schon der Gang zur Toilette war unvergesslich. Überall Wasserhähne und Mischbatterien in der Form goldener Delphine ...
„Oh, das hört sich ja interessant an“, unterbrach Pokroff rasch. In Wirklichkeit dachte er natürlich: „Was interessiert mich die kitschige Kultur irgendwelcher Neureicher?“ Doch Carola hatte das passende Stichwort geliefert, um galant zu einem anderen Thema überzuleiten.
„Wo du gerade von Russen sprichst. Habt ihr in euren kunsthistorischen Seminaren auch mal etwas über russische Ikonenmaler gelernt?“ Wozu hatte Pokroff schließlich eine kluge, universalgelehrte Ehefrau, die gerade ihren 35. Geburtstag gefeiert hatte und deren Wissen für mehrere Universitätsabschlüsse gereicht hätte? Carola verstand sich zwar als Germanistin und arbeitete als Lektorin, doch sie hatte auch ein paar Semester Kunstgeschichte, Romanistik und Anglistik studiert.
„Ist das eine dienstliche oder private Frage?“
„Selbstverständlich dienstlich“, kicherte Pokroff ins Telefon. „Soldaten und Polizisten nutzen ihre Ferien nämlich als Bildungsurlaub in Sachen Kunstgeschichte, um vor ihren schöngeistigen Ehefrauen nicht als Banausen dazustehen. Deshalb interessieren mich die Ikonen in diesem neuen Sakralmuseum in der Friedrich-Ebert-Anlage.“
„Die osteuropäische Kirchenkunst haben wir nur gestreift. Wieso?“
„Ach, weißt du, ich habe gerade so ein Einführungsbuch studiert. Nun beschäftigt mich eine Frage: Warum gibt es eigentlich so wenige bekannte Ikonenmaler?“
„Ein paar bekannte Größen wie Andrej Rubljow gibt es schon. Aber in den früheren Jahrhunderten waren Ikonenmaler oft einfache und sehr begabte Mönche.“
„Aber es ist doch auffällig, dass die meisten dieser Heiligenbilder gar keine Signaturen tragen. Du kennst doch mein Dürer-Bild mit dem Hasen und den auffälligen Initialen A und D. Auf einer Ikone habe ich bislang so etwas noch nicht gesehen.“
„Das hast du richtig beobachtet. Einzelne signierte Ikonen gibt es zwar, aber erst ab dem späten 18. Jahrhundert. Aber weißt du, die frühen Maler, das waren eben immer sehr bescheidene Menschen. Denen ging es um das Gotteslob. Berühmt werden wollten die nicht. Und so etwas wie Urheberrecht gab es damals auch noch nicht“, führte Carola Pokroff aus. „Genauer kann ich dir das jetzt auf die Schnelle auch nicht erklären. Und jetzt verzeih, das Nudelwasser kocht.“
„Das Nudelwasser“, murmelte Pokroff halblaut vor sich hin, während die Leitung klackte. „Immer wenn man was von den Menschen braucht, droht gerade irgendetwas anzubrennen oder überzukochen.“