Tuja Tiira

ABBSD


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zwölf ließ ich mir das nicht mehr gefallen. Ich verbarrikadierte mich in den Zimmern, stellte einen Tisch unter die Türklinke, stapelte Bücher zwischen Tisch und Türklinke oder schob einen Stuhl darunter, bis sie nicht mehr zu bewegen war. Der ältere der beiden Jungen verbog dann zuerst die Türklinke beim Versuch die Tür zu öffnen und trat dann gegen die Türen, bis fast das Holz splitterte, aber er traute sich nicht, sie wirklich einzutreten. Fast alle Türklinken in der Wohnung waren deshalb verbogen.

      Natürlich wussten die Jungen genau, dass dies keine harmlose Auseinandersetzung war, sondern todbitterer Ernst, doch ich ließ mich nicht mehr einschüchtern, ich wusste, dass ich als Außerirdische, obwohl ich jünger war als sie, intelligenter und selbstbewusster war. Am Anfang hatte ich noch ihre Liebe gesucht, doch inzwischen war mir das egal. Als Außerirdische brauche ich nicht die Zuwendung von Erdlingen, ich war mir alleine genug.

      Eine Weile hasste ich sie noch, bis ich begriff, dass mein Hass ihnen Macht über mich gab. Als ich dies begriffen hatte, war ich frei.

      Als der ältere Junge mich wieder einmal angriff und mit Gewalt zu zwingen versuchte, ihn zu bedienen, warf ich ihm einen Teller an den Kopf. Er rastete völlig aus, warf mich nieder und trat auf mich ein. Ich lag hilflos zusammen gekrümmt da, das Gesicht mit den Armen schützend, einen Augenblick lang von der Brutalität überrascht und nicht wissend, was ich tun sollte. Dann hatte er genug und hörte auf, doch ich vergaß nicht sein wahres Gesicht. Dies war der Auslöser dafür, dass ich mich entschied, ihn zu töten, sollte er mir nur noch einmal zu nahe kommen. Ich würde nicht noch einmal unvorbereitet ausgeliefert sein, doch ich wollte nicht die Schuld an seinem Tod tragen, also warnte ich ihn. "Das nächste Mal bringe ich dich um." Damit lag die Entscheidung bei ihm. Er reagierte nicht darauf. Ich plante alles sorgfältig, überlegte, wie ich im Kampf an die Küchenmesser und an andere brauchbare Waffen gelangen könnte und wie ich zustechen müsste und ging im Kopf alle denkbaren Variationen immer wieder durch. Ich hatte mich entschlossen, ihn zu töten und wusste, dass ich im Ernstfall nicht zögern durfte. Ich würde mich nicht noch einmal von seiner Brutalität einschüchtern lassen. Doch er rührte mich nie wieder an. Irgendwie hatte er wohl begriffen, dass sich die Situation verändert hatte. Ich musste ihn nicht töten, seine Entscheidung, mir war das auch recht. Ich hätte seinen Tod nicht bereut, doch so war es auch gut.

      Zu diesem Zeitpunkt war ich fünfzehn und ich dachte nur noch selten an meine außerirdische Zwillingsschwester. Auch die Tränen kamen nie mehr, ich hatte gelernt, für mich allein zu leben. Ich hatte keine Brüder mehr. Sie hatten für mich aufgehört zu existieren. Ich hatte keine Familie. Im gewissen Sinn habe ich nie eine Familie gehabt, wenigstens so lange ich mich erinnern kann. Zwar lebte ich noch mit Menschen zusammen, die behaupteten, meine Brüder, Eltern und Großeltern zu sein, doch das war ohne Bedeutung.

      Manche finden ein solches Leben vielleicht traurig, doch ich widerspreche. Ich liebe das Leben, das ich lebe. Ich habe gelernt, frei zu denken und zu fühlen. Ich werde niemals Dinge tun, die ich für falsch halte, nur weil andere sie von mir erwarten. Zumindest nicht, solange sie mir nicht eine Waffe an den Kopf halten und auch dann werde ich eine Fluchtmöglichkeit finden. Überall gibt es neben den ausgebauten Straßen und Wegen das Dunkel, in dem ich zu Hause bin und falls mir nichts bleibt, werde ich eher den Tod in Kauf nehmen, als mich ihnen zu unterwerfen. Das hat gar nichts mit Großartigkeit zu tun, vielmehr mit Notwendigkeit, ich kann mit dem Gefühl, Unterworfene zu sein, nie wieder leben. Außerdem bin ich überzeugt, dass ich immer einen Ausweg finden werde.

      Inzwischen bin ich volljährig, achtzehn und frei, niemand hat mir mehr etwas zu sagen. Ich bin auf dem Weg in eine andere Stadt. Dort werde ich studieren und alleine für mich leben. Niemand wird mich mehr stören. Meine Scheinfamilie wird in der Entfernung Hunderter von Kilometern verschwinden. Ich werde endlich allein sein, allein und ungestört und niemand wird mich allein lassen, weil ich niemandem die Möglichkeit dazu gebe.

      Kapitel 1 - Die Suche nach dem Sinn des Lebens kann auch im Kleiderschrank beginnen

      Die Zugfahrt verlief ruhig. Das Abteil war fast leer. Mit jedem Kilometer der vorbeiziehenden Landschaft, der Wälder und Städte, entschwand meine Vergangenheit mehr und mehr, und mit ihr alle dunklen Wolken. Ich saß da, die Beine halb angezogen, und sah durchs Fenster nach draußen. Ich stellte mir vor, durch die feuchten Wälder zu laufen, die kühle frische Luft zu atmen, meine Gedanken tanzten umher, ich betrachtete mein halb durchsichtiges Spiegelbild in der Scheibe, was würde wohl die Fensterscheibe über mein Aussehen sagen, wenn sie reden könnte? Ich lachte leise. Eine Mitreisende schaute irritiert zu mir herüber, ich wandte mich lachend ab. Als ich in der Universitätsstadt, in der ich nun leben würde, ankam, lagen über 700 km zwischen meinem bisherigen und meinem neuen Wohnort. Die beiden Männer, die immer noch so taten als wären sie meine älteren Brüder, lebten zu meiner Erleichterung noch weiter entfernt. Endlich konnte ich diese Familie vollständig hinter mir lassen, ein Stück abgeschlossener Vergangenheit. Auf Wiedergänger konnte ich gut verzichten.

      Ich atmete auf, ich fühlte mich leicht, ich fühlte mich das erste Mal in meinem Leben wirklich frei.

      Ich lief durch die Stadt, als würde ich zum ersten Mal eine Stadt sehen. Die Sonne schien und doch war die Luft angenehm kühl. Die kleinen Gassen mit ihren Geschäften und Caf és waren von Menschen erfüllt und doch fühlte ich mich nicht von ihnen bedrängt. Alles, was ich dabei hatte, waren ein großer Rucksack und mein Laptop. Alles, was ich sonst brauchte, würde ich mir kaufen und das meiste würde sowieso vorhanden sein. Meine Patentante, die als Wissenschaftlerin für drei Jahre in den USA arbeitete, hatte mir ihr Haus zur Nutzung überlassen. "Ich bin froh, wenn es nicht leer steht".

      Langsam stieg ich vom Tal, in dem sich der Bahnhof und das Stadtzentrum befanden, den Hang, an dem das Haus lag, hinauf, ein ganzes Haus, das nur mir zur Verfügung stehen würde, nur für mich. Das Haus stand hinter Bäumen und wirkte hier in dieser Gasse zwischen den Nachbarhäusern, als schliefe es.

      Ich fühlte mich etwas unsicher, als ich die Tür öffnete, staubige Luft schlug mir entgegen, ich lief durch die Zimmer und öffnete die Fenster. Alles war perfekt ausgestattet. Die Zimmer gefielen mir alle. Meine Patentante hatte mich nur gebeten, ihr Schlafzimmer und das Arbeitszimmer nicht zu nutzen, alle anderen Zimmer standen mir zur Verfügung – mehr als genug Platz.

      Ich ließ meinen Rucksack oben in einem der beiden Gästezimmer, das ich zukünftig für mich nutzen wollte, und kochte mir in der Küche einen Espresso, schäumte Milch auf und setzte mich mit dem Latte Macchiato im Wohnzimmer ans Fenster. Ich würde niemanden hierher einladen, in meine Festung der Ruhe. Dann richtete ich mich ein.

      Auch an der Universität gelang es mir, die Distanz zu wahren. Ich hatte mich an der philosophischen Fakultät eingeschrieben und würde in diesem Semester nur zwei Seminare und eine Vorlesung besuchen. Meine Zeit brauchte ich für andere, wichtigere Dinge.

      Oben unter dem Dach des alten Gebäudes, in dem die Philosophieseminare stattfanden, war eine alte Bibliothek. Sie schien übrig geblieben zu sein aus einer vergangenen Zeit. Die meisten besorgten sich ihre Literatur online. Die Räume hier oben waren bis auf die Bücher leer und still. Nur im vordersten Raum saß eine Bibliothekskraft und las. Hierhin würde ich mich zurückziehen, falls mir der Universitätsbetrieb zu laut wurde. Ich war begeistert.

      Doch Ruhe ist oft der Anfang von etwas anderem. Ich hätte es wissen müssen, nicht umsonst heißt es: ‚die Ruhe vor dem Sturm’.

      Nachdem ich in der Universität alle Formalitäten erledigt hatte, kaufte ich auf dem Rückweg alles was ich brauchte. Ich hatte mir alles auf einer Einkaufsliste notiert: Milch, Kakao, Obst, Gemüse, Dosenfisch, Eier, Brot, Aufstrich und Kaffee. Dann war ich endlich wieder zurück in meinem neuen Zuhause. Ich war frei und glücklich. Doch als ich gerade im Bad war und mich frisch machte für meinen nur mir gehörenden freien Abend hörte ich über mir ein Poltern. Das Geräusch kam aus dem Zimmer, in das ich eingezogen war.

      Nur das Regal, es war nur das Regal, welches zusammengebrochen war. Ich hatte es wohl zu einseitig mit meinen Sachen belastet. Ich sortierte alles wieder ein und verteilte dabei alles gleichmäßiger. Dann setzte ich mich unten in die Küche,