eine makellose Außenwirkung war der Schlossberg enorm wichtig.
So verfügte die Schule auch über sorgfältig isolierte Klassenzimmer, die sogenannten Isozimmer. Diese fensterlosen und drohnensicheren Räume waren mit dicken Wänden und kleinen autarken Netzwerken ausgestattet. Nichts drang hinein, nichts ging nach draußen. Dort, in den muffigen Kammern konnten alle Kinder nach Herzenslust toben und Unsinn machen, ohne dass die Algorithmen der Auskunfteien und Behörden davon Wind bekamen. Nach außen, wo das kollektive Gedächtnis saß, gingen nur erlesene Wahrheiten, solche, die gründlich gefiltert und poliert den optimalen elektronischen Fingerabdruck der jungen Auskunftspersonen nicht gefährdeten.
Erfahrungslernen und Erlebnispädagogik in einer abhörsicheren Umgebung. Dieses Versprechen löste die Schlossberg als eine der ersten Schulen des Landes ein, und damit nahm die Akademie natürlich eine große Last von den Schultern der Eltern, indem sie den Kindern einen Ort gab, an dem sie ohne Sorgen um den Score, heiter und spielerisch das statistisch optimale Verhalten lernen und verinnerlichen konnten: richtig schreiben und richtig sprechen, sich richtig benehmen in der Öffentlichkeit und mäßigen in den sozialen Medien, richtig essen, richtig umgehen mit den elektronischen Zahlungsmitteln, richtig handeln bei seelischen und sozialen Leiden. Richtig leben.
Gerade wegen ihrer konsequenten Einbettung des Scores in ein ganzheitlich verfasstes Bildungs- und Erziehungskonzept (ein weiteres Bonmot aus dem pädagogischen Leitbild) genoss die Schlossberg einen fabelhaften Ruf. Stundenplan, Ernährung und Freizeit, etwa musisch-kreative und sportliche Aktivitäten, folgten stets der aktuellen Mode aus der Forschung. Und so überwiesen die Eltern jedes halbe Jahr irrwitzige Summen an die Akademie, damit ihre kleinen Genies nicht zwischen den Mauern eines winzigen verdreckten Schulhofs spielen mussten, sondern sich entfalten konnten auf einem richtigen Campus, dessen lässiger Umgang mit Luxus ihnen einen Vorgeschmack auf ihr zukünftiges Leben gab.
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Als Schönherr das Gelände der Schlossberg betrat, lag ein üppiger Park vor ihm, möbliert mit beschrifteten Themengärtchen und alten Eichen, deren Kronen reißverschlussartig ineinandergriffen. Das komplizierte Knäuel aus Wegen machte es ihm unmöglich, das Schulgebäude auf einer geraden Linie zu erreichen. Dem Richter a.D. folgte in halben, schnellen Schritten seine kleine Nichte, für die er seit dem Tod des Bruders sorgte.
Damals, als Lisa plötzlich ohne Vater und ohne erziehungstaugliche Mutter dastand, hatte Schönherr allen als idealer Vormund gegolten, soweit man von ideal nach dem, was ihr zugestoßen war, überhaupt noch reden konnte. »Was Lisa von nun an mehr als alles andere braucht«, so hatte die Familienrichterin ihre Entscheidung für Schönherr und gegen einen Amtsvormund von der Stange begründet, »ist Stabilität, Zuneigung und Bildung.« Bedenken gegen den ehemaligen Richter gab es jedenfalls nicht in der Familie und auch nicht bei den Behörden, zumal Lisa sowieso schon die meiste Zeit bei ihrem Onkel gelebt hatte. Lediglich eine gewisse Frau Schmidt-Nobel - früher Empörungsjournalistin, doch nach ihrer Haftstrafe wegen Steuerhinterziehung nur noch Bloggerin -, nur sie hatte schüchtern die Frage gestellt, ob das Gericht nicht besser daran getan hätte, »vor seiner Entscheidung eine Persönlichkeitsauskunft bei der Score Holding AG über den Herrn Doktor Schönherr einzuholen?« Aber das war damals bei den Gerichten noch unüblich gewesen. Der Score hatte ja mit Computern zu tun, weshalb gerade ältere Richter die Hilfe der Auskunfteien bei der Wahrheitsfindung ablehnten. Und so blieben die Risiken, die Lisas Wohl gefährdeten, lange verborgen.
Zur Orientierung trug Schönherr sein Telefon wie einen Kompass vor sich her, dahinter Lisa, so näherten sie sich dem Gebäude, das die CampusApp als Haupthaus auswies.
Der zentrale schlossähnliche Neubau oben auf dem Hügel war schon von weitem zu sehen und hätte gut und gerne auch in einem Freizeitpark stehen können. Oder auf einem großen Felsen, erbaut von einem schwulen König zum Beispiel. Das Schloss war mit zahllosen pittoresken Türmchen unterschiedlicher Höhe ausgestattet, wovon eines eine segmentartige Kuppel aufhatte, eine Art Glosche, wie man sie zum Abdecken von Riesenteleskopen und Atomkraftwerken benutzt. Zwei kneifzangenartig-geschwungene Auffahrten stoppten vor einem gewaltigen Holztor, das unter einem Spitzbogen und mit dekorativen Beschlägen versehen so groß und schwer war, dass man unten in die Ecke eine kleine Tür hatte aussägen müssen, um ins Haus zu kommen.
Dass Lisa ohne etwas zu sagen bei Schönherr blieb, lag sicher auch daran, dass weit und breit keine Menschenseele zu sehen war. Die Schule verschnaufte. Ob der kühle Park allerdings, die gewaltigen Gebäude mit den Mosaikfenstern, ob das ganze Tamtam außerhalb der großen Ferien weniger Ängste bei ihr hervorgerufen hätte? Ob tausend Kinder ausreichten, um den fingierten Ernst dieser bizarren Wehrattrappe aus leichten Verbundwerkstoffen einzureißen und den Protz niederzutoben? Das war schwer zu sagen. Denn auf der Überholspur blieb wenig Zeit, um sich danebenzubenehmen.
Oder welche andere Erklärung käme in Betracht, das manchmal sonderbare Verhalten der Schlossbergianer zu entschuldigen? Wenn beispielsweise die kleine Clara-Lisette kurz nach ihrer Einschulung auf die Frage eines Reporters, warum sie auf die Schlossberg Academy gehe, empört antwortet: »Na um zu lernen, das ist doch logisch!«; »Und was lernst du so?«; »Weiß nicht, das kann ich nur in Englisch und Chinesisch.« Oder wenn Jan-Torben aus der Oberstufe in der Sitzungspause des Schulparlaments vor die Kameras tritt, im Maßanzug, die Hände zur Kanzlerraute gefaltet und bedeutungsvoll erklärt: »Nach meiner Graduierung werde ich auf konkreten Handlungsfeldern intensiv arbeiten und Dialogprozesse anstoßen, denn - und das sage ich ganz unmissverständlich - die Gestaltungsspielräume auf den schiefen ... ähm verschiedenen Ebenen dürfen in unsicheren Zeiten wie den unseren nicht ungenutzt bleiben.« Kurz: Wenn das Gehabe dem Verstand vorauseilt.
Der kleinen Lisa jedenfalls schien die Schule nicht ganz geheuer zu sein. Nicht nach alledem, was sie über Luxusschlösser und deren zwielichtige Bewohner schon alles hören musste. Erst gestern vor dem Einschlafen hatte ihr Tante Lena von einer bösen Königin vorgelesen, die einmal in so einem Schloss gewohnt haben soll. Aber weil die Königin fand, dass ihr Land zu klein war und weil sie chronisch sauer war, ging sie auf den Balkon und schickte wüste Beschimpfungen und allerlei Unwetter auf die andere Seite der Berge, wo es vorher ganz friedlich gewesen war. Zum Schluss schaffte es die Wahnsinnige zum Glück nicht, das andere Land zu erobern, hilfsweise zu zerstören, aber angeblich nur wegen der Schönheit einer winzigen Blume, versteckt hoch oben in den Bergen - das einzige Ding im ganzen Universum, das nicht richtig zaubern konnte -, was in Lisas Ohren ziemlich unglaubwürdig klang. Aber nachdem ihre Tante die Schlussformel aufgesagt hatte (»Und wenn sie nicht gestorben sind ...«), meinte Lisa, dass die Sarah aus der Kita den Hals auch nie vollkriegen würde.
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Die Absage der Schlossberg hatte Schönherr vor wenigen Tagen im Pepofa (Abkürzung für Personalpostfach) erreicht, diesem elektronischen Briefkasten, der im Grunde nur eine E-mail-Adresse war, jedoch zugewiesen, eingerichtet und verwaltet von einer Behörde mit einem noch frischen, semantisch unverbrauchten Namen. Jede Mitteilung, jeder behördliche Bescheid, alle Dokumente und Briefe - das nur nebenbei -, die ein Korrespondent in wichtigen Angelegenheiten an das Pepofa schickte, galten zwei Tage nach Eingang als zugestellt, ohne dass Originale oder Unterschriften auf Papier nötig gewesen wären. Dort also hatte Schönherr mit der Vorfreude auf neue Rechnungen und Supermarktreklame das elektronische Einschreiben der Schlossberg entdeckt, und auch wenn er fest von einer Zusage ausgegangen war - wer konnte denn ernsthaft etwas gegen Lisa haben? - hatte er in dem Moment, als er ein mit drei kurzen Absätzen generiertes Dokument vorfand, gespürt, dass seine Erwartung in dieser Sache nur das Resultat einer enormen Selbsttäuschung gewesen sein konnte. Freilich hatte die Schlossberg in ihrem Schreiben viel Wert darauf gelegt, dass ihrer höchst schmerzhaften Entscheidung sorgfältige Überlegungen vorausgegangen waren. Schönherr konnte förmlich nachempfinden, wie die Verantwortlichen in nächtlichen Meetings quälend lange über das Für und Wider debattiert hatten, nur um schließlich unter Tränen der Wahrheit ins Auge zu sehen, dass Lisa und die Schule auf eine seltene, unbestimmte Weise nicht zusammenpassten. So zumindest der beleidigende Ton, dessen sich der Textbaustein bediente:
... möchten wir die inkurable Betroffenheit über unser untröstliches Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass die Schlossberg Academy leider nicht den Fähigkeiten Ihrer Tochter