Leo Abt

Der Score


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schüttelte ab und zu den Kopf, dann wieder schien er konzentriert zu lesen, und dabei sah er wie ein junger Arzt aus, der sich aus langen Zahlenkolonnen vom Labor einen Reim zu machen versuchte. Nach einer Weile ließ er das Tablet auf seine Knie sinken, auf eine Weise, die keine gute Diagnose versprach.

      »Also, wenn Sie mich fragen, da sollten mal Spezialisten drüber schauen.«

      »Was soll das heißen?«

      »Lisas Score. Ich meine, ich kann hier so nebenbei logischerweise keine richtige Analyse machen, aber da gibt's ein paar Sachen, die statistisch reinhauen.«

      »Was denn für Sachen?«

      »Na, zum Beispiel die medizinische und soziale Vorgeschichte der Eltern.«

      »Dafür kann Lisa ja wohl nichts!«

      »Klar, aber umso wichtiger wäre ja eine regelmäßige psychologische Vorsorge gewesen, nur als Beispiel. Wenn Sie eine Agentur zur Score-Optimierung aufsuchen würden - LS Consulting, Norm & Rich und wie sie alle heißen -, da könnte man schon was machen, denke ich.«

      »Zeigen Sie mir bitte Lisas Score«, flüsterte Schönherr.

      *****

       LS Consulting Group - Infomaterial an unsere Mandanten. Glossar. Stichwort: 'Mathematische Form des Scores'

       Der Score ist als Matrix definiert, die zahllose, nach einer komplizierten Systematik gegliederte Kapitel umfasst, auch wenn in der Presse oft vom Score-Wert die Rede ist. Zwar kann man aus der Score-Matrix durch eine mathematische Operation - intern als dope ( d egree o f pe rfection) bezeichnet - ein Persönlichkeitsskalar, also eine Art Gesamtnote berechnen, allerdings wurde den Auskunfteien letztinstanzlich vom Bundesverfassungsgericht untersagt, einen solchen Zahlenwert an ihre Kunden weiterzugeben. Die eindimensionale Bewertung einer Person käme einer Wertung des Menschen an sich gleich und verletze in mehrerer Hinsicht die im Grundgesetz verankerten Persönlichkeitsrechte.

      *****

      Thiel wischte über das Tablet, löschte das Licht, verdunkelte die Fenster, und im nächsten Moment wurde Lisas Portrait auf dem Bildschirm durch unübersichtliche Linien ersetzt: steigende, fallende und schwankende Kurven, die wie die Gewinnerwartung eines Unternehmens oder die Populationsdynamik einer Art aussahen.

      »Was Sie hier sehen«, begann Thiel, »ist ein Ausschnitt aus Lisas Sozialprognose für die nächsten fünf Jahre. Beispielhaft aufgegliedert in die Kategorien Resilienz, Belastbarkeit in schulischen Angelegenheiten - oben gestrichelt, sehen Sie? - Frustrationstoleranz, Kompromissfähigkeit, soziale Interaktion, Empathie, Soziabilität, praktische und akademische Intelligenz, prognostizierter Lernfortschritt und verschiedene Aggressionsformen, in braun dargestellt. Ganz links sind die aktuellen Skalare aufgetragen.«

      »Quasi-aktuell«, ergänzte der Schulleiter. »Das dürfte aus der Sammelauskunft vom letzten Monat stammen?«

      Thiel nickte. »Aber ich kann das auch eben aktualisieren?«

      Schönherr winkte ab.

      Thiel schaute fragend in die Runde. Da sich keiner rührte, fuhr er fort: »Nach rechts aufgetragen ist die prognostizierte Entwicklung einiger F-Felder.«

      Sechs Augen schimmerten in den Farben der Score-Kurven. Thiel tippte, der Schulleiter nickte stumm vor sich hin, nur Schönherr suchte noch nach Orientierung. Zwar waren ihm die Diagramme, mit denen man verschiedene Aspekte des Scores graphisch darstellen konnte, nicht unbekannt, aber er hatte sich nie so intensiv damit beschäftigt, dass er eine Art intuitives Verständnis entwickelt hätte.

      »Lisa ist den Anforderungen der Schule, was den reinen Lernstoff betrifft, gewachsen, da gibt es kein Problem. Aber, und das können Sie hier sehen -«, Thiel wackelte mit dem Schullogo als Zeiger auf einer roten Kurve, die wie ein Börsenkurs erst unentschlossen seitwärts kroch, bevor sie zweieinhalb Jahre in der prognostizierten Zukunft plötzlich ins Bodenlose stürzte. »Man muss leider davon ausgehen, dass Lisa sich auf Schlossberg mehr und mehr von der Gemeinschaft isolieren würde, was mit einer Verzögerung von einigen Monaten massive Auswirkungen auch auf ihre schulischen Leistungen hätte.«

      »Ich möchte hinzufügen«, sagte der Schulleiter, »dass die Kurven bereits auf das Score-Spektrum der Schlossberg normiert sind. Was ich damit sagen will, ist, dass Lisas Separationstendenzen und ihre emotionale Empfindlichkeit in einer anderen sozialen Umgebung möglicherweise weniger stark hervortreten würden, beziehungsweise besser aufgefangen werden könnten. Ich möchte aber noch auf einen weiteren wichtigen Umstand hinweisen, den wir bei Lisa besonders unter die Lupe genommen haben: Herr Thiel, können Sie bitte F11 und F12 vergrößern und uns vielleicht Lisas Borderline-Index ausrechnen?«

      Sofort änderte sich der Bildschirm, es erschienen neue Kurven mit bedrohlichen Ausschlägen. Thiel sagte, dass Lisas Aggressionsrisiko gegen sich und andere, prognostiziert für die Pubertät, erheblich sei und von der Schlossberg nicht toleriert werden könne.

      »Herr Thiel, Sie können das Licht jetzt wieder einschalten.«

      Bevor Hoffmann weiterredete, rutschte er ganz nach vorn auf die Sesselkante, als sei eine unbequeme Sitzhaltung das mindeste, was er seinem Gast schuldete.

      »Glauben Sie mir, Doktor Schönherr, es tut mir in der Seele weh, weil Lisa ja ein ganz außergewöhnliches Mädchen ist. Aber bedenken Sie meine Lage: Das Handeln des Präsidenten der Schlossberg Academy ist an das Wohl der Studierenden und an den Erfolg der Akademie geknüpft.«

      »Und jetzt denken Sie, Lisa ist der Teufel und würde das Ende der Schule bedeuten?« giftete Schönherr, der längst begriffen hatte, dass hier und heute nichts zu holen war.

      Hoffmann schüttelte den Kopf und verneinte. »Wir kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass die Schlossberg den besonderen Begabungen ihrer Nichte nicht gerecht wird.«

      Hoffmann fand weitere Floskeln, Lisas statistische Defizite in Fähigkeiten zu verwandeln und die Schuld rhetorisch auf die Kappe der Schule zu nehmen. Dann sah er Schönherr verständnisvoll an. Die Generation, der sie beide angehörten, war ganz ohne den Score ausgekommen, und neben seiner Verantwortung als Schulleiter schien er auch den Wunsch zu verspüren, sich mit Schönherr gegen diese selbstgerechten Thiels zu verbünden. Nachdem er erneut in die Herstellung seiner Wortschlangen eingetaucht war, vielleicht auf der Suche nach einem freundlichen, verständigen, weniger tadelnden Blick seines Gastes, redete und redete, erhob sich im Hintergrund Thiel.

      »Ich müsste dann mal«, sagte er und winkte ungeduldig.

      Hoffmann schien bemüht, seinen halben Gedanken nicht aus dem Kopf zu verlieren, nickte kurz, tippte sich ans Handgelenk und raunte: »Nach dem Mittagessen, vierzehn Uhr, wegen der Fördersache?«

      Als Hoffmann mit seinem Gast allein war und auf immer neue Art die Zwänge beschrieb, die ihn an der Durchsetzung seines an sich ja guten Willens hinderten, musste Schönherr an eine Frau in Lila denken, die im Fernsehen neulich vor den Ansteckungsgefahren des Scores gewarnt hatte. Sie war als Leiterin eines Institutes mit einem sehr langen Namen vorgestellt worden. Er hatte das Interview mit der Aufmerksamkeit desjenigen verfolgt, der den Fernseher als Schlaftablette benutzt, dennoch war ihm in Erinnerung geblieben, dass die Forscherin medizinisches Vokabular benutzt hatte. Von Infizierten hatte sie gesprochen, Seuche und Scorebut. Der Score reagiere empfindlich auf das soziale Umfeld. Ob Hoffmann in Wirklichkeit fürchtete, dass Lisa ihre Mitschüler anstecken könnte? Vielleich lag das Problem bei den Eltern, die viel Geld bezahlten und dafür einen makellosen Score ihrer Liebsten erwarteten?

      Während Schönherr überlegte, ob es klug sei, das Thema Ansteckung anzusprechen, steckte plötzlich Frau Schäfer den Kopf durch die Tür, um den Schulleiter an seinen nächsten Termin zu erinnern.

      Hoffmann wirkte erleichtert und war sofort bereit, zum Ende zu kommen. Er schnaufte und stöhnte, dass man soweit alles besprochen habe. Dann blieb ihm nur der nochmalige Hinweis auf seine gebundenen Hände.

      *****

      Als Schönherr das Vorzimmer