wandte sich der Goblin nach rechts und marschierte los. Tado musste sich beeilen, um nicht erneut zurückzufallen. Spiffi ging vorsichtshalber bereits mit auf die Sehne gelegtem Pfeil. Eine halbe Stunde lang stapften sie so durch den Schnee, und gerade, als sie ihre Mittagspause einlegen wollten, gewahrte Tado eine Bewegung unter der weißen Decke. „Was ist das?“, fragte er an Spiffi gewandt.
Dieser zuckte nur mit den Schultern und gab die Frage dann an Regan weiter, ohne die Stelle auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Der Goblin betrachtete die Bewegung einen Moment genauer. Dann machte er plötzlich einige Schritte rückwärts und bedeutete den beiden, es ihm gleich zu tun. Sie taten es keinen Moment zu früh. Der Schnee stob in alle Richtungen davon. Etwas sehr langes, sehr dünnes, mit vielen Gelenken, erschien. Gleich darauf ein zweites und drittes. Schließlich waren es acht Beine, jedes etwa einen Meter fünfzig lang, und der schlanke, neun Handbreit messende Körper vollendete das Bild der gigantischen Spinne schließlich. Die Füße besaßen die Form (und wahrscheinlich auch die Schärfe) einer Sichel, womit dieses Tier vermutlich tödliche Tritte verteilen konnte. Die Beißzangen an den Kiefern klappten auf und zu. Spiffi stieß bei diesem Anblick einen entsetzten Schrei aus und ließ seinen Pfeil fliegen. Das Geschoss bohrte sich tief in den Kopf des Ungetüms.
Tado kannte dieses Geschöpf. Er hatte es im Traum gesehen. Unwillkürlich hielt er nach einem Rudel Wölfe Ausschau. Nichts. Diese Erkenntnis ließ ihn erleichtert aufatmen. Doch die Gefahr war keineswegs vorüber. Die Spinne lebte noch und stand zusammengekauert da. Der Anblick löste in Tado einen gewissen Ekel aus. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Regan gerade mit seinem Morgenstern zum alles entscheidenden Schlag ausholte. Doch sein Gegner sprang blitzschnell zur Seite, wodurch die Waffe ungebremst weiterrauschte, sodass sich der Goblin einmal um die eigene Achse drehen musste, damit die tödliche Stahlkugel erneut auf die Spinne krachte. Leider stand Tado mitten im Radius des Morgensterns. Diesmal rettete ihm das Ungetüm ungewollt das Leben: Als es nämlich mit einem seiner sichelförmigen Füße nach ihm schlug, duckte sich der Angegriffene, wodurch die Waffe des Goblins einen Fingerbreit über seinem Kopf hinwegrauschte und gegen den Körper des Tieres prallte. Sie musste ihn zerschmettert haben, allerdings besaß das Geschöpf ein sehr geringes Körpergewicht, wodurch der Morgenstern nur minimal abgebremst wurde und Regan sich erneut zu drehen begann. Diesmal retteten Tado die Kräfte des Goblins, der seine Waffe einfach verschwinden ließ.
„Was ist das?!“, fragte Spiffi mit weit aufgerissenen Augen. Er starrte entsetzt auf den Spinnenkadaver, der einige Meter entfernt vor einem aus der weißen Decke ragenden Fels liegengeblieben war. Der Schnee um ihn herum hatte sich grünlich gefärbt.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Regan nur. „Aber wir sollten auf jeden Fall von hier verschwinden und unseren nächsten Rastplatz bei gegebener Deckung aufschlagen. Kommt!“ Sein letztes Wort hatte er bereits im Laufen gesagt, sodass sich Tado und auch Spiffi beeilen mussten, ihre Sachen zusammenzupacken und ihm zu folgen. Nach einigen hundert Metern, die sie im Eiltempo hinter sich brachten, mäßigten sie ihren Schritt, als es plötzlich zu schneien anfing. Zuerst fanden nur ein paar Flocken den Weg auf die Erde, doch mit fortschreitender Zeit wuchs ihre Zahl um ein Vielfaches. Nicht mehr lange, und Tado würde nicht einmal mehr die berühmte Hand vor Augen erkennen können. Doch dieser Wetterumschwung und die damit verbundene Kälte blieben nicht ihr einziges Problem. Schon seit einer ganzen Weile vernahm Tado in unregelmäßigen Abständen das unverkennbare Geheul von Wölfen. Er wusste einfach, dass es die Exemplare aus einem seiner Alpträume waren, und er hatte wenig Bedürfnis, sie auch im richtigen Leben kennenzulernen. Als er sich umblickte, erschienen schon die ersten Umrisse der Tiere hinter ihnen im Schneegestöber. Tado konnte sich ihre riesigen Fangzähne wahrlich lebhaft vorstellen, und so verfiel er wieder in einen Laufschritt. Die Lage schien trotzdem aussichtslos. Der Vorsprung schrumpfte beständig, ihren Verfolgern schien der Schnee nicht annährend soviel auszumachen wie ihnen.
Und wäre Spiffi nicht zufällig hineingestolpert, hätten die Drei vermutlich ihre einzige Rettung übersehen. Vor ihnen lag eine Höhle, deren Eingang absolut nicht zu erkennen war, wenn man nicht genau wusste, wonach man suchte. Tado folgte seinem tollpatschigen Begleiter, der sie diesmal ausnahmsweise gerettet hatte.
Der Goblin betrat als Letzter den großen, überraschend warmen Raum. Die Wölfe schienen den Fluchtort ihrer Beute merkwürdigerweise nicht zu sehen, sondern liefen daran vorbei.
„Glück gehabt“, sagte Regan, als das letzte Exemplar des hundert Tier starken Rudels in der Ferne verschwunden war. „Ich habe solche Wölfe noch nie gesehen.“
„Das sind Schatteneiswölfe, Diener des Lords.“
Tado fuhr überrascht herum. Vor ihnen stand eine Gruppe von ungefähr zwanzig Mann, allesamt in schwere Fellmäntel gekleidet. Einer war hervorgetreten und hatte die Drei angesprochen.
„Wer seid ihr?“, entfuhr es Regan, der seine Fassung als erster wiedergewann.
„Nun, ich dachte, dass Fremde ihren Namen vielleicht immer zuerst nennen sollten, aber in Anbetracht der Umstände werde ich mich wohl zunächst vorstellen müssen.“ Er räusperte sich. „Mein Name ist Etos, ich bin der ehemalige König der Aonarier. Dies hier ist unser Versteck, seit der Lord die Stadtfestung gestürmt hat.“
Damit wäre die Frage, ob sie zum Lord gehören, wohl auch geklärt, dachte Tado bei sich. Auf Etos’ Frage hin nannten die Gefährten nun auch ihren Namen.
„Wie mir scheint, seid ihr keine Verbündeten des Lords. Nun denn, da wir alle Flüchtlinge, die uns finden, aufnehmen, heiße ich natürlich auch euch willkommen. Ihr könnt hierbleiben, solange ihr wollt.“
„Das ist wirklich großzügig“, begann Regan, „aber ich denke, dass-“
„Selbstverständlich werden wir eurer Einladung nachkommen, da die Zeit bereits recht fortgeschritten ist, und somit eine heutige Weiterreise nicht in Frage kommt“, unterbrach ihn Tado.
„Weiterreise?“, fragte der König zweifelnd. „Ihr wollt doch nicht etwa da raus?“ Er deutete auf die eisige Einöde hinter dem Höhleneingang, auf die noch immer Tonnen des kalten, weißen Schnees fielen. „Es wäre euer sicherer Tod. Schatteneiswölfe und Schneespinnen und noch gemeinere Geschöpfe treiben dort ihr Unwesen!“
„Wir müssen“, brachte sich nun auch Spiffi in das Gespräch ein. „Wir müssen es tun, da das Ziel unserer Reise noch in weiter Ferne liegt.“
„Euer Ziel?“, wiederholte Etos.
„Die Trollhöhle.“ Diese beiden von Tado gesprochenen Worte lösten ein Raunen in der Mannschaft hinter dem König der Aonarier aus.
„Und was“, fragte dieser gefasst, „treibt drei Wanderer dazu, diesen Wahnsinn durchzuführen, außer dem Willen, zu sterben?“
Tado seufzte innerlich. Warum schafften es nur alle, ihn so zu entmutigen? Einen Moment spielte er sogar mit dem Gedanken, Etos die ganze Geschichte zu erzählen, besann sich dann jedoch eines Besseren und sagte stattdessen: „Genau das ist der Grund.“
Regan und Spiffi sahen ihn nur mit deutlicher Verwunderung an, doch der König schien diese Antwort zu akzeptieren, wahrscheinlich hatte er auch keine wirkliche Begründung erwartet; er machte nur eine Handbewegung, als wolle er das Thema beiseite schieben und fuhr dann schließlich fort: „Also schön. Ihr wollt das Tal durchqueren. Das dürfte ein kleines Problem darstellen. Alle Ausgänge dieses Tals sind mit einem magischen Zauber belegt. Und ihr dürft raten, wie man diesen brechen kann.“ Er sah die Drei erwartungsvoll an, nahm dann aber, ohne ihnen die Möglichkeit einer Erwiderung zu eröffnen, die Antwort vorweg: „Gar nicht, richtig.“ Er nickte, wie um seine eigenen Worte zu bestätigen. „Denn dazu müsstet ihr den Lord des Frostes töten.“
„Anscheinend bleibt uns keine andere Wahl“, sagte Tado geradeheraus, ohne sich der Folgen seiner Worte bewusst zu sein. Im Nachhinein vermochte er nicht mehr zu sagen, ob es gedankliche Abwesenheit oder einfacher Übermut war, der ihn zu dieser Aussage trieb.
„Mir scheint, etwas vernebelt eure Sinne. Ein solches Vorhaben ist zum Scheitern verdammt, noch ehe der Gedanke daran überhaupt gefasst, geschweige denn ausgesprochen wurde.“
Tado