Doch den Verletzten interessierte die Schönheit dieses Anblickes im Moment nicht im Geringsten, er öffnete sie stattdessen und trank einen großen Schluck daraus. Der Schmerz verschwand so plötzlich, dass er schon fast damit rechnete, er würde im nächsten Moment wieder auftauchen. Nichts dergleichen geschah.
Soweit, so gut. Tado brach den Zahn auf die gleiche Weise wie den ersten ab und umklammerte das Bruchstück, das noch immer in seinem Arm steckte, mit der freien Hand. Er presste die Augenlider zusammen, so fest es ging und zählte in Gedanken bis drei.
Als er bei der vorletzten Ziffer angekommen war, stieß er einen halblauten Schrei aus und riss sich den Hauer des Wolfes aus dem Handgelenk. Kein Schmerz. Anscheinend tat das Wasser seine Wirkung noch immer. Langsam öffnete Tado seine Augen. er erwartete eine tiefe Fleischwunde, aus der eine Blutfontäne schoss und einige zerrissene Arterien und Venen heraushingen. Nichts davon war der Fall. Der Schnee rings um seinen Arm herum hatte zwar eine rote Färbung angenommen, an die Verletzung selber erinnerte aber nur noch eine kleine Narbe und ein wenig angetrocknetes Blut, was noch an der Hand klebte.
Tado starrte fassungslos auf das unglaubliche Bild. Sein zweiter Gedanke galt allerdings seinen sechs Begleitern. Diese hatten den Angriff der Ungeheuer natürlich um einiges besser und bis auf einige kleine Schrammen auch unverletzt überstanden. Schließlich besaßen sie alle Waffen. Dennoch schienen sie sogar noch länger als er mit ihren ungleichen Gegnern gerungen zu haben, denn auch sie standen erst jetzt auf oder befreiten sich von dem kalten Schnee. Der Kampf hatte sie weit auseinander getrieben, sodass sie sich erst einmal sammeln mussten. Nicht wenige Blicke galten dabei der riesigen Blutlache, die sich immer noch an Tados Platz befand. Offenbar schien es sie zu wundern, dass das ganze Rot nur aus der Kehle des Wolfes stammen sollte. Er löste seinen Blick langsam von dem grausigen Anblick und ging zu den anderen hinüber.
„Ich schlage vor“, sagte Etos nach einem kurzen Moment des Schweigens, „dass wir unsere erste Rast im Gebirge machen. Dort sind wir sicherer.
Nach allgemeiner Zustimmung zu diesem Vorschlag setzten die Sieben ihren Marsch weiter fort. Sie gingen nun weitaus zügiger und kamen schon nach zehn Minuten am Fuße eines nicht allzu steilen Gebirgspfades an.
„An dieser Stelle betreten wir das Reich der Sonnenkönigin“, sagte Etos, der stehengeblieben war und sich zu ihnen herumgedreht hatte. „Ihr solltet von nun an vorsichtig sein, der folgende Weg ist mit Fallen überseht. Ich glaube zwar nicht, dass sie für Menschen und Goblins gefährlich sind, aber trotzdem halte ich es für besser, euch zu warnen.“ Mit diesen Worten marschierten sie weiter. Schnee lag hier merkwürdiger Weise nicht.
Bald darauf kamen sie an einer solchen ‚Falle’ vorbei. Sie entpuppte sich allerdings als das Primitivste, was Tado jemals gesehen hatte: In einem etwa mannshohen Loch lag ein Stück Fleisch. Mehr nicht. Anscheinend schien diese Grube nur für Wölfe gedacht zu sein. Nach einer guten halben Stunde Fußmarsch standen sie auf einem Plateau, was in Tado sofort eine ungute Erinnerung an einen gewissen Traum hervorrief. Allerdings war es keine Nacht, was ihn zumindest minimal beruhigte. Er folgte Etos und den anderen an den nordwestlichen Rand der Hochebene, von wo aus man einen atemberaubenden Blick über das gesamte Sonnengebirge hatte. Gar nicht weit unter ihnen glitzerten einige Häuser im Licht der Sonne. „Das ist es“, sagte der König der Aonarier. „Das erste Ziel unserer Reise. Allerdings ist das Volk für seinen Stolz bekannt. Deshalb solltet ihr euch nicht zu viel versprechen. Sie helfen nicht gerne, ebenso wie sie selbst Hilfe für gewöhnlich ablehnen.“
Tado starrte ihn an. Wozu machten sie sich denn die Mühe und schleppten sich diesen Berg hoch, wenn sowieso keine Unterstützung in Sicht war? Er sprach diesen Gedanken laut aus.
„Nun, weil es der sicherste Weg zu den anderen Völkern ist.“ Einer der drei Männer hatte anstelle von Etos geantwortet. Grook, wenn Tado sich richtig erinnerte. Der König der Aonarier sagte nur: „Wir werden hier rasten.“
Hier?!, dachte er entsetzt. Nach der betäubenden Kälte im Tal brannte nun die Sonne unerbittlich auf ihren Köpfen. Außerdem gab es da ja noch eine gewisse Gestalt in schwarzem Umhang und rot glühenden Augen...
Tado versuchte verzweifelt, sich an mehr Details aus dem Traum zu erinnern, um notfalls das Plateau wiederzuerkennen. Vergeblich. Also fügte er sich seinem Schicksal und lehnte sich an einen Felsen, um etwas auszuruhen und zu essen.
Erst nach einer geschlagenen Stunde machten sie sich wieder zum Aufbruch bereit. Als sie endlich an der Stadt ankamen, hatte die Sonne ihren Zenit bereits weit überschritten und der Dämmerung Platz gemacht.
Die Sieben schritten über eine sorgsam gepflasterte Straße genau auf den Palast zu. Dabei handelten sie sich nicht wenige neugierige oder misstrauische Blicke ein. Offenbar gab es hier nicht sehr oft Besuch.
Schließlich standen sie vor zwei gigantischen, hölzernen Torflügeln, vor denen gleich fünf Männer in blank polierten Rüstungen und mit riesigen Speeren bewaffnet Wache hielten.
„Von nun an ist es besser, wenn ich die Unterredungen führe“, sagte Etos ernst und trat dann auf die mittlere Wache zu. Doch er kam gar nicht dazu, etwas zu sagen. Der Krieger hob sofort den Arm (wobei seine Rüstung ein wenig schepperte) und bedeutete dem König, zu schweigen.
„Die Königin wünscht jetzt keinen Besuch, schon gar nicht von Fremden“, begann er. Etos wollte etwas erwidern, doch erneut schnitt ihm die Wache mit einer befehlenden Geste das Wort ab. „Eure Beweggründe sind mir egal und sie gehen mich auch nichts an. Ich darf euch nicht hereinlassen. Allerdings“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, „könnt ihr mir eine Botschaft hinterlassen, ich werde sie bei Gelegenheit der Königin überbringen.“ Er sah den König erwartungsvoll an. Doch dieser erwiderte nur: „Wie ihr schon richtig sagtet, unsere Beweggründe gehen euch nichts an.“
Mit diesen Worten drehte er sich um, ließ den völlig verdutzten Soldaten einfach stehen und ging zu Tado und den anderen, die ihm zwar zugesehen, aber nicht alles gehört hatten, zurück.
„Und? Dürfen wir in den Palast?“, fragte Regan.
„Wie es scheint, ist die Leibgarde der Königin nur mit Narren gesegnet“, sagte Etos, wohlweislich aber nur so laut, dass die Wachen es nicht hören konnten.
„Das heißt dann wohl nein“, meinte Spiffi seufzend.
„Ja. Aber es gibt noch einen Weg, um in den Palast zu kommen. Einen geheimen, den nicht einmal die Königin kennt; vermutlich einst als Fluchtweg geplant, muss er in Vergessenheit geraten sein. Ich habe ihn einst zufällig entdeckt, als ich ebenso wie gerade am Haupteingang abgewiesen wurde und um das Gebäude schlich, in der Hoffnung, ein offenes Fenster zu finden, durch das ich einsteigen könnte. Der versteckte Eingang liegt hinter dem Palast. Also dort, wo Unbefugte keinen Zutritt haben.“ Bevor die anderen irgendwelche Einwände erheben konnten, verschwand Etos in einer Seitengasse, sodass die anderen ihm folgen mussten.
„Vielleicht sollten wir lieber noch etwas warten, bis es vollends dunkel ist“, wandte Baako ein. Sie befolgten seinen Rat. Nur wenige Minuten mussten sie im Schatten der Häuser verharren, bis die Sonne hinter den Berggipfeln verschwunden war.
„Lasst uns zuerst dort zur Seitenwand des Palastes gehen, dort haben wir eine gute Deckung.“
Sofort machten sich die Sieben daran, Etos’ Plan in die Tat umzusetzen. Nacheinander schlichen sie geduckt bis zur Mauer des Schlosses. Und dann hörten sie das Scheppern von Rüstungen und Schritte, die sich schnell näherten.
„Vorsicht! Das sind Sonnenkrieger. Wir müssen uns verstecken. Wenn sie uns sehen, ist es aus“, flüsterte der König der Aonarier. Die kleine Gruppe suchte Deckung hinter einigen Kisten, die an der Wand des Palastes aufgestapelt worden waren. Keine Sekunde später bog eine Patrouille der Sonnenkönigin, bestehend aus drei Mann, um eine Ecke der Schlossmauer. Sie trugen Fackeln bei sich, schienen ihre Aufgabe allerdings nicht sehr ernst zu nehmen. Der zu bewachenden Umgebung schenkten sie höchstens einen flüchtigen Blick, um dann wieder in ihr angeregtes Gespräch zu verfallen. Bald darauf waren sie wieder verschwunden.
Die sieben Eindringlinge liefen bis zur Hinterseite des Gebäudes und Etos machte sich daran, eine im Boden verborgene Falltür