Clemens Anwander

Des Orakels Richterspruch


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er keinerlei Bauspuren erkennen konnte, ließen ihn auf letzteres schließen. Dem rationalen Teil seines Verstandes fiel es allerdings schwer zu glauben, dass etwas Derartiges natürlich entstanden sein sollte. Der König lenkte seine Schritte weiter und weiter in den unterirdischen, leicht abschüssigen Gang. Das Loch, durch das vorhin noch schwach rötliches Licht gefallen war, konnte er schon nicht mehr erblicken. Tiefer und tiefer führten ihn seine Schritte in das Erdreich, bis der Weg unvermittelt in eine große Höhle mündete. Wurzelfäden hingen von der Decke bis zum Grund, von oben herab hingen tropfende Stalaktiten, empor wuchsen eindrucksvolle Stalagmiten und zwischen all diesen Wundern der Natur stand eine hübsche, vollkommen in Weiß gehüllte Frau mit glattem, goldenem Haar. Erneut traute der König seinen Sinnen nicht. Zu bizarr wirkte diese Dame, die alterstechnisch wohl gegen Ende ihrer dritten Dekade war, in Mitten dieser unterirdischen Höhle. Und wie sie gekleidet war! Erst auf den zweiten Blick erkannte der Herrscher, dass das weiße Gewand eigentlich keines war, sondern nur eine Vielzahl von weißen, drei Finger breiten Streifen, die sich der Frau quer über die Vorderseite ihres Körper legten und sogar noch um einiges darüber hinaus standen. Es war ihm ein Rätsel, wie diese an ihrem Körper hielten. Er sah keinerlei Halterungen oder Befestigungen. Vielmehr wirkte es so, als würde ein konstanter Wind sie an ihren Körper pressen, doch nicht das kleinste Lüftchen blies in der Grotte. Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass ihre Rückseite wohl vollkommen nackt war. Die ganze Erscheinung hatte etwas Beunruhigendes an sich, so dass Degaar unweigerlich einen Schritt nach hinten tat und dabei beinahe ausrutschte. Mit einem schnellen Ausgleichsschritt konnte er gerade noch verhindern, dass er sich den Höhlenboden von der Nähe ansehen konnte.

      »Du willst doch nicht schon wieder gehen, Tchiyo Degaar, Herrscher über Sekoya, wo du doch gerade erst angekommen bist?«

      Ein geheimnisvolles Lächeln spiegelte sich im dem Antlitz der Frau wieder. Ihr Mangel an Respekt erzürnte Degaar etwas, da sie ihn unerlaubterweise einfach duzte – ein Privileg, das nicht viele Menschen besaßen. Allerdings spürte der König Hoffnung in sich aufkeimen. Die Unbekannte wusste, wer er war! Und das, ohne dass er sich vorgestellt hatte. Waren die Geschichten, die sich um diesen Ort rankten, vielleicht doch nicht nur Ammenmärchen, die sich angetrunkene Städter erzählten, um sich gegenseitig angstvolle Schauer über den Rücken zu jagen? Er bemühte sich um einen sicheren Stand, um nicht wieder zu straucheln, bevor er seinen Mund öffnete, um zu antworten.

      »Woher wisst ihr, wer ich bin?«

      Er schollt sich einen Narren, dass dies das Einzige war, was ihm einfiel.

      »Ich bitte dich, jedes Kind des Königreiches, das einmal eine Silbermünze in der Hand hatte, kennt dein Gesicht Degaar.«

      Dabei hielt sie feixend eine Münze zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand. Degaars eigenes Gesicht lachte ihm entgegen. Innerlich grämte er sich sehr, nicht an diese logische Antwort gedacht zu haben, wurden doch seit seinem Regierungsantritt alle neuen Münzen mit seinem Gesicht gepresst. Er war einfach zu sehr in Versuchung gewesen, an das Übernatürliche zu glauben. Aber noch einmal würde ihm das nicht passieren.

      »Aber natürlich meine Dame, daran hätte ich denken müssen. Nun, ihr habt mir gegenüber einen Vorsprung, da ihr meinen Namen wisst. Es wäre mir also eine Freude, den ihren zu erfahren. Außerdem wäre es für mich von Interesse, was ihr in dieser Höhle hier treibt?«

      Die Frau mochte zwar keinerlei Manieren an den Tag legen, doch er würde sich deswegen die seinen nicht nehmen lassen. Degaar beobachtete gespannt, wie die mysteriöse Frau leicht grinste, ehe sie zu einer Antwort ansetzte.

      »Mein Name… ist ohne Belang. Und es wäre wohl um vieles interessanter zu erfahren, was der König von ganz Sekoya in einem Erdloch mitten im Nirgendwo zu suchen hat, vollkommen alleine und ohne seiner üblichen Leibwache, als über das Schicksal einer einsamen Jungfer zu sprechen.«

      Degaar runzelte seine Stirn. Irgendetwas stimmte hier ganz sicher nicht. Nicht nur wollte die Fremde ihm ihren Namen nicht verraten, sie umging auch noch die Beantwortung seiner Fragen, was für ihn Neuland war. Er war schließlich der König, auf seine Fragen hatte jedermann zu antworten. Doch er würde schon noch herausfinden, was er wollte. Es ging vorläufig nur darum, sich nicht dumm anzustellen, und von sich selbst nicht mehr preiszugeben, als nötig.

      »Nun, Madame, wie ihr schon richtig festgestellt habt, bin ich der König und somit im Besitz all dieser Ländereien. Ich kann also hingehen, wohin ich möchte, und heute hat mich mein Weg zufällig hierher verschlagen. Ein…«, Degaar suchte nach dem passenden Wort, »…einzigartiges Heim habt ihr hier.«

      Mit diesem Worten begann er in der Höhle umherzustreifen und offenkundig die Wände zu bestaunen, auch wenn er dabei die Augen nicht eine Sekunde von der rätselhaften Frau nahm. Seltsamerweise schienen die weißen Streifen, die sich an ihren Körper schmiegten, mit seinem Blick mitzuwandern, so dass sie allzeit die prekären Stellen von seinen neugierigen Blicken abschirmten.

      »Nicht wahr? Ich habe hart gearbeitet, um es so wohnlich zu machen.«

      Offensichtlich hatte die Fremde ihren Spaß daran, diese fruchtlose Unterhaltung weiterzuführen.

      »Ach wirklich?«, erwiderte Degaar und zog dabei eine Augenbraue in die Höhe. »Dabei kann ich nichts entdecken, das auf ihre Betätigung hinweist.«

      »Dann solltet du deine royalen Augen aufmachen. Direkt hinter dir steht er doch, mein Schrein.«

      Degaar wandte sich um, und da stand ein aus Stein gehauenes, viereckiges Podest, das ihm etwa bis zum Bauchnabel ging. An den Seiten eingemeißelt waren detailreiche Verzierungen, die in erster Linie Bäume, aber auch Wurzeln, Blätter und andere natürliche Motive zeigten und die auf eine hohe Kunstfertigkeit des Künstlers schließen ließen. Das Unheimliche daran war, dass Degaar genau an dieser Stelle eben vorbei marschiert war, und er hätte schwören können, dass da noch nichts gestanden hatte. Obenauf befand sich ein steinerner Ring mit einem Durchmesser von einer Handlänge, welcher Degaar an die Kommode erinnerte, auf der er abends immer seine königlichen Insignien ablegte.

      »Tatsächlich, der muss mir im schwachen Schein meiner Fackel wohl entgangen sein. Ein sehr schönes Stück, wenn ich das bemerken darf.«

      Dabei schwang er seinen Lichtspender so, dass er die Fremde wieder gut betrachten konnte.

      »Du solltest die Fackel wohl eher in Richtung des Bodens, und weniger mir ins Gesicht halten, ansonsten stolperst du in deiner königlichen Tölpelhaftigkeit noch über deine eigenen Füße. So wie es dir vorhin beinahe passiert wäre.«

      Diesen Ton schlug ihm gegenüber sonst niemand an, und er musste sich beherrschen, um seine Contenance nicht zu verlieren. Immerhin wusste er jetzt, dass die Unheimliche einen scharfen Blick hatte, war ihr doch weder sein kleiner Fehltritt von vorhin, noch die Tatsache, dass er seine Augen nicht von ihr nahm, verborgen geblieben. Er wandte sich von dem Schrein ab und beendete seinen Rundgang durch die Höhle. Sie war sogar noch größer gewesen, als er es am Anfang gedachte hatte, aber außer der Frau, einigen Wohnutensilien und dem steinernen Sockel befand sich nichts von Belang darin. Außerdem gab es nur den einen Durchgang, durch den er gekommen war. Auf diese Weise hatte das Ganze keinen Sinn mehr. Die Höhle war leer und die Frau wirkte entschlossen, von sich aus nichts zu erzählen. Der Ritt hierher wäre verschwendete Zeit gewesen, wenn er jetzt nicht mit offenen Karten zu spielen begann. Seine Gedanken wanderten erneut zurück zu Naileen, seine Augen wurden davon wässrig. Er war sich schon immer bewusst gewesen, wie abgöttisch er seine Frau liebte, doch dieser Schmerz des Machtlosseins gegenüber ihrer Krankheit, war beinahe zu viel für ihn. Er hatte keine Lust mehr auf die stupiden Spielchen mit der seltsamen Dame in der Höhle.

      »Also gut, ihr wolltet wissen, was ich hier tue. Man sagte mir, dass man hier im Schatten des mächtigen Baumes seine Zukunft erfahren kann. Deswegen bin ich hier.«

      Die Frau sah ihn nachdenklich an, ehe sie zu einer Antwort ansetzte.

      »Und ich dachte, du wärst hier, um zu erfahren, wie du deine Frau retten kannst. Mein Fehler.«

      Degaar schluckte. Er hatte nichts von Naileen gesagt, und dieses Mal war es nicht so einfach, an diese Information zu gelangen wie vorhin, als ein Blick auf