Es war Frau Saube aus der Erdgeschosswohnung. Sie hielt einen Bogen Papier in der Hand und fragte: »Julia, ist dein Vater da? Oder deine Mutter?«
»Niemand zu Hause«, sagte Julia. Sie war enttäuscht, dass Frau Saube geklingelt hatte. Sie hätte nicht sagen können, wen sie erwartete. Vielleicht Liebscher, der ihr sagen würde, dass Rohnke seine Entscheidung zurückgezogen hat. »Heute Abend«, sagte Julia noch, »kommen Sie heute Abend noch mal, Frau Saube.« Julia stellte die Dusche ab.
»Dunnerlüttchen!« fluchte sie und ärgerte sich, dass sie wie Herr Rohnke schimpfte. Dieses Dunnerlüttchen würde sie sich schnell wieder abgewöhnen. Eigentlich klang es auch albern. Da war Vaters Himmelkreuzdonnerwetter doch stärker.
Julia probierte ihre Sachen durch: Jeans und Pulli, zwei Kleider, Wildlederrock und Mutters rote Bluse. In allen Sachen fand sie sich doof und hässlich. Schließlich zog sie die alten, an den Knien zerfetzten Jeans und ihren ersten und, wie sie sich vorgenommen hatte, letzten selbstgestrickten Pullover an.
Julia drehte sich vor dem Spiegel. In den Pullover hätte Mutter noch mit hineingepasst. Sie zog ihn weit vom Körper ab und schnitt Grimassen.
Sie stellte sich als Clown vor. Mit tapsigen Bewegungen lief sie durch ihr Zimmer. Dann drückte sie sich ihr Mathebuch als Geige zwischen Kinn und Schulter, nahm das Lineal als Bogen und fiedelte drauflos. Es wurde ein sehr trauriges Lied, was sie spielte. Sie musste die Tränen zurückhalten.
»Du bist ja reif für den Friedrichstadtpalast. Wirklich, eine komische Nummer bist du, Julia.«
Julia sah erschreckt auf. Sie hatte ihre Mutter nicht kommen hören.
»Hast du dich hereingeschlichen?«, fragte sie ärgerlich. Sie warf das Buch und das Lineal auf ihr Bett.
Die Mutter zog sich ihre Uniformjacke aus und setzte sich aufs Bett. »Komm einen Moment zu mir, mein kleiner Clown«, sagte sie. »Was gibt es Neues?«
Julia setzte sich zu ihrer Mutter. Sie schmiegte sich an sie. War froh, dass sie jemanden gefunden hatte, an den sie sich anlehnen konnte.
»Frau Saube war da«, sagte Julia. »Wollte euch sprechen. Sie hatte irgendein Papier in der Hand. Vielleicht eine Spendenliste.«
Julia wollte nicht gleich von ihren Sorgen mit Herrn Rohnke erzählen. Dazu brauchte sie erst einen Anlauf. Aber heraus musste es.
»So, Frau Saube«, sagte die Mutter. Sie drückte ihre Tochter fester an sich. »Julia, du - ich hatte fast einen Unfall ... «
»Was!« Julia sah sich ihre Mutter genauer an. »Du bist ja ganz blass, Mutsch!«
Julia sprang auf, lief in die Küche und kam mit einem Glas Wasser wieder.
»Danke, Kind.« Die Mutter trank einen Schluck. Dann erzählte sie: »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. In der Kurve zum Hauptbahnhof ... Plötzlich stand da ein Mann auf den Schienen …Ich glaube, ich habe die Augen zugemacht, als ich bremste …«
»Ja und? Ist was passiert?«
»Nein, nein. Es ist nichts passiert. Aber es hätte etwas passieren können. So knapp war es noch nie. Dieser Schreck, verstehst du ... «
»Aber du hattest doch keine Schuld ...?«
Julias Mutter rieb sich die Stirn mit einem Eisstift ein.
»Schuld? Ich weiß nicht. Mir geht die ganze Zeit der Streit mit Vater durch den Kopf. Du weißt doch - wegen mehr gemeinsamer Freizeit. Aber ich sehe keine Lösung ... «
Die beiden saßen eng beisammen, schwiegen eine Weile. Dann sagte Julia: »Bei uns gab es auch ein Unglück. Da konnte niemand mehr bremsen. Halt dich fest, Mutsch: Herr Rohnke will von uns weg! Er übernimmt eine zwölfte Klasse!«
Die Mutter begriff nicht: »Herr Rohnke ... «
Es klingelte stürmisch. Julia öffnete. Es war Vater. Er war in blendender Laune. Er stellte sich in Boxerstellung vor Julia. »He, Tochter, wer hat denn da den Schlüssel wieder nicht abgezogen? Ist mein Schneewittchen schon zu Hause?«
Der Vater lief an Julia vorbei in die Stube. Julia hängte seine Jacke vom Haken auf einen Bügel. Na, das konnte ja heiter werden. Wenn Vater zu Mutter Schneewittchen sagte, dann hatte er ein Glas zu viel getrunken.
»Niemand zu Haus! Es ist noch niemand zu Haus!« hörte sie ihn aus der Stube singen.
Julia ging in ihr Zimmer zurück. Ihre Mutter war vom Bett aufgestanden. Sie ordnete ihre Sachen, kämmte sich die Haare.
»Bitte, Julia«, sagte sie, »erzähle Vater nichts von der Sache am Hauptbahnhof. Du weißt, er würde mich sowieso lieber als Sekretärin vor einer Schreibmaschine sitzen sehen. Fahrerin ist ihm für eine Frau zu gefährlich.«
»Er hat einen kleinen Affen«, sagte Julia.
»Was soll denn das nun wieder heißen?«
»Na, er hat einen sitzen, einen gehoben oder so.«
Julias Mutter schüttelte den Kopf. »Kann man das nicht einfacher sagen? Eine Ausdrucksweise hast du manchmal.«
Julia folgte der Mutter in die Stube. Es ärgerte sie, dass die Mutter ihr Problem mit Herrn Rohnke schon wieder vergessen hatte. Julia wollte darüber sprechen. Vielleicht hatten die Eltern eine Idee, wie Herr Rohnke zu halten wäre. Nun hatte Vater Alkohol getrunken, da war kaum vernünftig mit ihm zu reden. Es kam selten vor, dass er trank, obwohl er Bierbrauer war. Aber zu besonderen Anlässen kam es ihm auf ein Glas mehr nicht an. Dann war er nur noch zu Späßen und Neckereien aufgelegt. Zu besonderen Anlässen? Julia lachte bitter. Die gab es heute. Mutters Fast-Unfall und der Unfall in der 8b.
Der Vater hob Mutter hoch zur Begrüßung und küsste sie.
»Weißt du das Allerneuste!«, rief er. »Hör mir zu, meine kleine Frau: Ich werde meinen Meister machen! Marek, der Werkleiter, fragte mich heute! Ich habe zugesagt, mein Kleines. Na, ist das nichts?!«
Er hatte seine Frau wieder abgesetzt und wartete auf den Beifall der beiden. Julia und ihre Mutter nickten nur schwach.
»Freut ihr euch denn gar nicht?« Julias Vater sah betroffen auf sie herunter.
»Natürlich freuen wir uns«, sagte Julias Mutter.
»Doch, doch«, bestätigte Julia.
Der Vater setzte sich, zog aus seiner Tasche zwei Schachteln Pralinen. »Für meine Naschkatzen«, sagte er. »Freut ihr euch auch wirklich? Das ist doch ein Angebot: Meisterschule. Oder nicht? Nun sagt doch endlich was, Leute!«
Die Mutter setzte sich in einen der Drehsessel und drehte nach links und rechts wie sonst Julia.
»Setz dich endlich, Julia«, sagte sie etwas gereizt. »Sie hat Sorgen, Horst. Nun rede schon, Julia!«
»Sorgen!« Dem Vater entglitt seine gute Laune. »Wie du wieder aussiehst, Tochter. Wie ein Zirkusclown. Hast du keinen anderen Pullover? Der ist doch nur noch als Bohnertuch gut.«
Julia war stehen geblieben. »Aber ich mag ihn«, entgegnete sie trotzig. »Er ist mein schönster Pullover.«
Julia hatte sich das Gespräch mit den Eltern ganz anders vorgestellt. Nicht so überstürzt. Sie merkte es Vater doch an: Er war gar nicht in der Stimmung, um über ihre Probleme zu reden.
»Mädchen, muss man bei dir in letzter Zeit um jedes Wort betteln!«, fuhr der Vater hoch. »Nun mach doch den Mund auf, Tochter!«
Julia war durch diesen heftigen Ton beleidigt. So sprach der Vater sehr selten zu ihr. Sie wollte gehen. Die Mutter hielt sie am Arm fest. »Du bleibst«, sagte sie. »Bist doch aus dem Trotzalter heraus. Setz dich bitte.«
Julia setzte sich in den anderen Sessel Nach einer Weile, in der nur Vaters Räuspern und das Ticken der Uhr zu hören waren, begann sie endlich zu erzählen.
Als sie geendet hatte, ging Julias Vater zu der selbstgebastelten fahrbaren Hausbar, nahm eine Flasche Korn und ein Glas heraus.
Er setzte