Gunter Preuß

Julia


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      Julia riss sich los. Sie schüttelte wütend den Kopf. »Du begreifst einfach überhaupt nichts, Ellen.«

      Eine Straßenbahn hielt knirschend. Die Klingel ertönte heftig. Julia hörte ihren Namen. Sie sah hoch, erkannte ihre Mutter. Julia stieß Ellen in die Hüfte. »Komm schon! Fahren wir zum Auensee!«

      »Tag, Julia. Tag, Ellen. Schon wieder ins Bad?« Julias Mutter klingelte ab, fuhr an. »Nun bezahlt erst einmal.«

      Julias Laune hatte sich durch die Auseinandersetzung mit Ellen verschlechtert. Sie beachtete Ellen nicht, die dauernd auf sie einredete: »Ich will überhaupt nicht an den Auensee. Habe keinen Badeanzug mit, Juli. Nun hör doch mal, Juli ... «

      »Schlechte Laune, Julia?«, fragte die Mutter. »Hat es heute nicht die Mathearbeiten zurückgegeben?«

      »Hat es«, sagte Ellen. »Julia hat natürlich eine Eins.«

      Julia lehnte am Fensterglas. Sie mochte es, wenn sie in den Füßen die Bewegungen der Räder spürte und vor ihren Augen sich die Bilder veränderten: Zwei Männer beluden einen Lastwagen mit leeren Kisten; ein Mädchen rannte einem Ball hinterher; das Sonnenlicht schoss für eine Sekunde wie ein bunter Blitz durch die Blätter eines Baumes; auf einem Dach montierte ein Mann eine Antenne; ein Mann und eine Frau schoben einen Kinderwagen, sie waren stehengeblieben und küssten sich.

      »Juli! Deine Mutter fragt dich etwas!«

      Ellen wiederholte: »Wie Pit abgeschnitten hat, will sie wissen.«

      »Das hättest du doch auch sagen können«, sagte Julia.

      »Ich habe in dem Moment wohl nicht aufgepasst«, entschuldigte sich Ellen.

      »Ihr müsst aussteigen«, sagte Julias Mutter. »Erfahre ich nun noch Pits Zensur?«

      »Fünf«, sagte Julia beim Aussteigen.

      Sie lehnte sich noch einmal zur Tür hinein. »Aber das wird sich bald ändern«, versicherte sie. »Herr Rohnke wird jetzt wieder mit ihm üben.«

      Julia und Ellen liefen schweigend die abschüssige Straße zum Auensee hinunter.

      Im Altersheim standen alle Fenster offen. Die alten Leute lehnten, von der Hitze müde, in den Fenstern. Das Brückenholz roch teerig. Die Elster zog pechschwarz und schaumig zwischen ihren mit meterhohen Brennnesseln bestandenen Ufern dahin. Dahinter, vor der geschlossenen Schranke der Kindereisenbahn, die den See umfuhr, mussten Julia und Ellen stehenbleiben.

      »Du hast doch etwas?«, fragte Ellen. »Juli, wir wollen uns doch nicht streiten.«

      Julia hatte ihre Tasche abgestellt. Sie kämmte ihre langen Haare, flocht sie und steckte sich die Zöpfe hoch.

      »Es ist eigenartig«, begann Julia, »es ist höchst eigenartig, dass du die Zensur von Pit nicht ... Aber lassen wir das.«

      Ellen atmete erleichtert auf, dass Julia dieses Gespräch abbrach. »Du bist heute aber empfindlich. Überhaupt - du bist nicht mehr so lustig wie früher, Juli«, lenkte sie rasch ab.

      »Meinst du?«

      »Ja, Juli. Du stellst jetzt oft so eigenartige Fragen. Werner meint, du - du wärst in ihn verliebt ... «

      Julia musste laut auflachen. »Und wie!«, rief sie. »Ich bin ganz verrückt nach ihm!«

      Der winzige Zug schnaufte vorüber. Er war bis auf den letzten Platz mit Kindern und ein paar Erwachsenen besetzt. Die Kinder pfiffen, riefen, lachten, winkten.

      Julia winkte zurück. Da waren sechs Hänger, dachte sie. In jedem saßen ungefähr zehn Menschen. Sechs mal zehn: das sind sechzig Menschen. Sechzig Menschen zusammen in einem Zug. Und was wusste einer vom anderen? Zweiunddreißig Schüler waren in der 8b. Und kannten sie einander gut genug?

      Die Schranke wurde mit der Hand von zwei Jungen in Eisenbahneruniform hochgedreht.

      Julia und Ellen liefen weiter. Links begannen die Wiesen. Hier lagen nur wenige Menschen. Das Wasser war noch zu weit entfernt. Am Karussell tummelten sich die Kleinen. Blasmusik erklang aus dem Lautsprecher.

      An der Tombola kaufte Julia ein Los. Sie kam einfach an keiner Losbude vorbei. Sie gewann eine Rolle Drops, die sie einem Jungen schenkte, der die weggeworfenen Lose noch einmal auf einen Gewinn kontrollierte. Der Stimmenlärm nahm zu. Das schmale, am Wasser langgestreckte Stück Wiese war von Badelustigen eng bevölkert. Sogar unter den Bäumen war alles besetzt.

      Julia blieb stehen. Sie hielt Ellen fest. Sie sagte: »Ellen, was weißt du eigentlich über Pit Janko?«

      Ellen sah Julia verständnislos an. »Was ich über Pit weiß?« Ellen hatte Liebscher gesehen. Er stand von Jungen und Mädchen der 8b eingeschlossen und balancierte einen Ball auf der Stirn. Pele hatte sie entdeckt. Er rief: »Hallo, hierher!«

      Ellen wollte loslaufen. »Nun, was weißt du über ihn?«, forderte Julia eine Antwort.

      »Aber Juli«, sagte Ellen, »sie rufen nach uns. Na schön - also wir kennen uns doch alle. Pit ist ein gutmütiger Junge. Er ist ein bisschen schwerfällig und ... «

      »Und?«

      »Er ist sonst ganz in Ordnung. Jetzt komm aber, Julia.«

      Julia ging langsam hinter Ellen her, die sich sofort unter Liebschers Bewunderer mischte. Also Pit war ein gutmütiger, ein bisschen schwerfälliger Junge, sonst ganz in Ordnung. Was hatte sie da noch hinzuzufügen? Dass er sehr pünktlich war und sie jeden Morgen zur Schule abholte.

      War das alles, was sie von ihm wusste?

      Julia dachte an das Gespräch zwischen Pit und Olaf, das sie auf der Heuweger Wiese belauscht hatte. Pit hatte Sorgen. Niemand wusste davon. Was ist nur in mich gefahren?, dachte sie. Was ist es nur, was mich so unruhig macht?

      Julia zog den Bikini an. Liebscher setzte den Ball ab, als er sie sah. Er schnalzte laut mit der Zunge.

      Julia lief gleich ins Wasser. Sie kämpfte sich durch das Gewühl der Nichtschwimmer. Bis zu den Bohlen schwamm sie hinaus. Sie sah zum Strand zurück. Liebscher balancierte wieder den Ball auf der Stirn. Die anderen spielten Karten und Federball. Julia fragte sich: Warum war eigentlich Pit nie mehr am Auensee? Das war ihr bisher gar nicht aufgefallen. Anfangs, als er in ihre Klasse kam, war er immer dabei gewesen.

      Julia schwamm mit ruhigen, kraftvollen Zügen. Alles um sie herum strahlte Harmonie und Ruhe aus. Und die Mädchen und Jungen der 8b sahen von Weitem aus wie eine verschworene Gemeinschaft.

      Als Liebscher und Pele ans Wasser kamen, schwamm sie zurück.

      »Wir dachten schon, du bist abgesoffen«, feixte Pele. »Hätten natürlich sofort Erste Hilfe geleistet.«

      Liebscher sagte: »In der Mund-zu-Mund-Beatmung bin ich Spezialist. Üben wir mal, Julia?«

      Julia fing den Ball geschickt auf, den Liebscher ihr zuwarf. Sie warf ihn in die Luft, trat wuchtig mit dem Bein danach. Der Ball zischte hoch, über die Bäume hinaus, und plautzte zwischen ein paar aufkreischende Kinder ins Wasser.

      Pele lachte anerkennend. »Du hat ja einen tollen Schuss drauf, Julia!«

      Liebscher befahl: »Mach schon, Pele, hol das Leder zurück!«

      Pele gehorchte. Er rannte ins Wasser, dass es hoch aufspritzte.

      Julia legte sich neben Ellen in die Sonne. Sie hatte eigentlich gleich zu Pit fahren wollen, um mit ihm zu sprechen.

      Aber Julia ließ sich jetzt von der Badestimmung gefangen nehmen. Sie schloss die Augen, hörte die angenehme Lebendigkeit um sich herum: Lachen, Rufen, Radiomusik, den Aufschlag eines Balles, die Detonation, wenn ein Flugzeug die Schallmauer durchbrach. Vor allem hörte sie Liebschers Stimme.

      Julia sprang auf. Sie hielt es nicht mehr aus, stillzuliegen. »Gib doch mal den Ball ab, Pele!«, rief sie.

      »Spielen wir ein Halbes«, schlug Liebscher vor. Er teilte die Mannschaften ein, verscheuchte ein paar Jungen und Mädchen von den Decken, damit sie