Rohnkes Unwillen erkannt, war aufgesprungen, nahm ihm die Blumen ab und sagte laut zu den Mädchen gewandt: »Gemüse!« Er stellte die Blumen in die äußerste Ecke unter ein Fenster.
Herr Rohnke nickte Liebscher zu und schnürte sich den lästigen Binder vom Hals. Für gewöhnlich trug er karierte Sporthemden, dunkle Manchesterhosen, eine abgetragene Wildlederjacke und Sommer wie Winter eine lederne Schildmütze, die sein lichtes Haar vor Hitze und Kälte schützen sollte. Seine Kleidung und sein strenges, eckiges Gesicht mit den prüfenden Augen ließen nicht den Lehrer vermuten. Eher dachte man an einen Jockei oder an einen Kriminalkommissar.
Der Lehrer steckte den Binder in die Tasche seiner Lederjacke, und er lächelte, als er merkte, dass die Klasse amüsiert diesen Vorgang beobachtete.
»Na, dann wollen wir mal«, begann er. »Übrigens - wo ist Pit Janko?«
Die Klasse schwieg.
»Julia, weißt du etwas?« Herr Rohnke sah ungeduldig auf seine Armbanduhr.
Julia überlegte. Sollte sie erzählen, dass Pit wahrscheinlich auf die Kastanie gestiegen war, um von dort seinen Bruder Olaf herunterzuholen? Herr Rohnke würde sich nur wieder über Pit ärgern. Das wollte sie auf jeden Fall vermeiden.
Liebscher sah Julia vorwurfvoll an. Sein Blick befahl: Nun Julia, sag endlich etwas.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Julia atmete auf. Es war Pit, der schmutzig und verschwitzt, mit Laub behangen und eine Kratzwunde im Gesicht, ins Klassenzimmer trat.
Herr Rohnke musterte ihn kurz und sagte: »Du hast wohl deine Ferien im Urwald verbracht?«
Die Klasse lachte.
Pit wollte eine Entschuldigung vorbringen, aber Herr Rohnke forderte ihn auf: »Setz dich. Du störst den Unterricht.«
Julia fand es ungerecht, dass Pit nicht erklären durfte, warum er zu spät kam. Sie hatte das Gefühl, dass es den Lehrer nicht interessierte, was Pit ihm sagen wollte.
Sie knuffte Pit, der eine Reihe vor ihr saß, in den Rücken und flüsterte: »Red doch! Sag schon was! Bist doch nicht zum Spaß auf den Baum gestiegen!«
Julia wusste, es war bei Pit keine Feigheit, dass er sich wortlos auf seinen Platz gesetzt hatte. Es war ihr unverständlich, dass Pit sich oft von seiner Umwelt absperrte.
Pit machte noch einen Versuch zu sprechen, aber Herr Rohnke bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken.
Der Lehrer hatte begonnen, mit Leidenschaft und Begeisterung, die sich bald auf die Klasse übertrugen, seine Unterrichts- und Leistungsziele für die 8b vorzutragen. Den Klassendurchschnitt, der auf 1,8 stand, wollte er auf 1,5 verbessern. Er sprach mit jedem der Schüler, sagte, in welchen Fächern noch mehr als bisher zu tun wäre. Das alles schien für jeden klar und leicht erreichbar. Rohnke demonstrierte es ihnen vor wie eine Mathematikaufgabe, deren anfänglicher Schweregrad bei seiner Erklärung zu einer einfachen Additionsaufgabe zusammenschrumpfte.
Auch Julia war bald von Rohnkes Eifer und Bestimmtheit gefangen, da gab es keinen Zweifel mehr, nur noch klares Ja und Nein, und es machte Spaß, sich seinen Forderungen unterzuordnen.
Jetzt war Herr Rohnke bei Julia angelangt. Sie hörte gespannt, was er ihr zu sagen hatte. »Julia, dein Hauptkampfgebiet wird die Mathematik sein. Halte dich da an Liebscher. Er kann dir viel beibringen. Eine Eins ist drin!«
Herr Rohnke war schon beim nächsten. Julia bemerkte, dass Liebscher sich umdrehte und lächelnd zu ihr sah.
Sie tat, als hätte sie außerhalb der Fenster, hinter dem Schulhof in den Gärten etwas Wichtiges entdeckt. Es machte sie nervös, wenn Liebscher sie so ansah.
Der Name »Janko« fiel.
Pit!, dachte Julia. Was wird Herr Rohnke zu ihm sagen?! Sie blickte auf Pits breite Schultern, über die sich der blauweiß gestreifte Pulli spannte, die sich nun abwehrend nach oben zogen.
Herr Rohnke schaute Pit an. Pit sah an ihm vorbei. Der Lehrer runzelte ärgerlich die Stirn. Er holte geräuschvoll Luft und sagte nur: »Tja, Nun, wir werden sehen ... «
Herr Rohnke rief Gerda Munkschatz auf, die neben Pit saß. Pit hatte alle seine Muskeln fest anspannen müssen, um nicht zusammenzuzucken oder aufzuspringen, als der Lehrer ihm nichts zu sagen wusste.
Julia hatte für Pit ein Wort erhofft, das ihm für dieses Jahr Mut gemacht hätte; obwohl Herr Rohnke im vergangenen Schuljahr eine Menge Schwierigkeiten mit ihm gehabt hatte.
Für Julia hatten Rohnkes Worte wie eine vorzeitige Verabschiedung Pits aus der 8b geklungen.
Pit versuchte, wieder ruhiger zu werden und sich auf die bunte Glaskugel in seinen Händen zu konzentrieren, die Olaf ihm vorhin in dem Wipfel der Kastanie geschenkt hatte, um einer Strafpredigt seines großen Bruders zu entgehen.
Der Unterricht begann.
Der Lehrer eröffnete mit Vehemenz die Schlacht bei Waterloo, und bald befand sich die 8b mitten im Kriegsgetümmel. Blücher, Wellington und Rohnke gelang es, die preußischen und britischen Truppen und die 8b zum endgültigen Sieg über Napoleon I. zu führen.
Julia war diesmal nicht so recht dabei. Sonst stand sie bei solchen Auseinandersetzungen immer an vorderster Front, wo es am heißesten herging. Sie sah Pit vor sich sitzen, als hätte er sich in seine Schultern eingesperrt.
Sie war froh, als die Klingel eine Pause ankündigte.
3.
Die 8b scharte sich um Liebscher. Alle außer Julia und Pit waren von dieser ersten Geschichtsstunde begeistert.
Liebscher rief: »Das könnt ihr mir glauben, Leute, so einen Lehrer wie Herrn Rohnke gibt es nicht wieder!«
Pele stöhnte: »Für die nächste Stunde bin ich schon geschafft.«
Ellen nahm zwei Äpfel aus ihrer Tasche, in der alles ordentlich seinen Platz hatte. Sie nahm den größeren, sonnengelben Apfel und warf ihn Liebscher zu.
Julia saß nachdenklich auf ihrem Tisch. Ihre linke Hand drehte unruhig die Spitze ihrer Haare, und in der rechten Hand hielt sie ihr Frühstücksbrot. Sie hatte keinen Appetit. Sie war enttäuscht von Herrn Rohnke, von Pit, von der 8b. Und von sich. Hatten sich alle schon damit abgefunden, dass Pit die achte Klasse nicht schaffen würde?
Julia war aufgeregt. Was sollte sie tun? Sollte sie aufspringen, ins Lehrerzimmer rennen und Herrn Rohnke sagen: Haben Sie es nicht bemerkt? Es ist etwas passiert! Jetzt eben. In Ihrem Unterricht. Mitten in der Schlacht bei Waterloo!
Ellen rief: »Komm her, Julia! Hör dir das an! Da ist Werner etwas passiert in Bulgarien!«
Julia winkte ab. Bulgarien! Liebscher war mit seinen Eltern drei Wochen in Nessebar gewesen. Er hatte Julia eine Karte geschickt, auf der das lichtblaue Meer zu sehen war. Also in Nessebar war etwas passiert. Dafür interessierten sich alle. Und dass hier etwas passiert war, hier, in der eigenen Klasse - das merkte keiner!
»Geht es dir nicht gut, Julia?«, fragte Liebscher. »Wie war es eigentlich bei dir? Hast du dir einen angelacht an der Ostsee? Einen flotten Matrosen? Oder einen alten Seebären?«
»Lass sie doch in Ruhe damit«, sagte Ellen.
»Misch du dich nicht ein«, entgegnete Liebscher.
Julia trat zu Pit ans Fenster. Pit lehnte weit nach draußen, als wollte er so weit als möglich weg vom Klassenzimmer.
Auf dem Schulhof machte eine erste Klasse mit viel Geschrei Pausengymnastik. Den dicken Lehrer konnte man hier im ersten Stock noch schnaufen hören. Drüben, im Gartenverein »Heuweg«, stieg eine Rauchsäule steil in den Himmel.
»Es wird Herbst«, sagte Pit. Er biss in einen Apfel, dass er knackte. »Die Heuweger beginnen schon, das Laub zu verbrennen.«
Er fühlte, dass Julia mit ihm über das kommende Schuljahr reden wollte. Doch darüber wollte er nicht sprechen, am allerwenigsten