rannten sie die Elsbethstraße hinunter. Die Sonne hieb heiß auf sie herunter.
An der Kreuzung stauten sich die Autos. In der Ferne ertönte ein Sirenenlaut, schnell näher kommend. Eine Straßenbahn hielt kreischend. Neben ihnen schrie ein Junge. Eine Frau lachte. Die Schornsteine der Brauerei stießen wieder ihre schwarzen Abgase ins Viertel. Und für den Bruchteil einer Sekunde konnte man einen Sperling tschilpen hören.
Die große Stadt! Julia war froh, dass sie wieder hier war, und es tat ihr gut zu rennen. Sie dachte daran, was Pit eben über Herrn Rohnke gesagt hatte. Irgendwie hatte Pit nicht unrecht, wenn er sich in letzter Zeit vernachlässigt fühlte. Julia hatte manchmal das Gefühl, dass Herr Rohnke sich um Pit nicht mehr genügend kümmerte. Pits Leistungen lagen weit unter dem Klassendurchschnitt. Es war fraglich, ob er die 8. Klasse schaffen würde.
In letzter Zeit hatte Julia öfter über Pit nachdenken müssen. Warum war er so verschlossen und schwer zugänglich. Sie sagte sich aber schnell: Alles würde wie immer gut gehen. Auch mit Pit. Herr Rohnke hatte es immer geschafft.
Für Julia und die 8b war Herr Rohnke so etwas wie ein Hexenmeister, der nicht nur traumhaft sicher mit Zahlen und Worten umgehen konnte und im Sportunterricht ein As war, der auch, wenn die Klasse etwas angestellt hatte, alles wieder in Ordnung brachte.
2.
Am Ende der Elsbethstraße, entfernt vom Lärm der Hauptstraße, liegt die Schiller-Oberschule, ein großes putzbröckliges Gebäude. Zur Straße hin stehen vor dem Fenster drei mächtige Kastanien, die den jüngeren Kindern als Klettergerüst und den Sperlingen als Versammlungsort dienen. Zur anderen Seite des Gebäudes dehnt sich der grasbewachsene Schulhof, in dessen Mitte sich ein Fahnenmast wie ein gutmütig drohender Zeigefinger erhebt.
An den Schulhof grenzt die Kleingartenanlage »Heuweg«, Die nahe gelegenen Gärten werden von den Schülern der Schiller-Oberschule fleißig und unentgeltlich abgeerntet. Daraufhin greifen alle Jahre wieder die Kleingärtner zu Feder und Papier und beschicken die Direktion der Schule und die zuständige Polizeistelle mit Beschwerdebriefen und Anzeigen.
Als Julia und Pit atemlos das Schulgebäude erreichten, hingen noch ein paar verspätete Kletterer in den Kastanien. Jemand rief: »Der Pit und die Jule, die komm' zu spät zur Schule!«
Pit war stehengeblieben. Er schaute gegen das Licht in die Kronen der Bäume.
»Nun komm schon!« drängelte jetzt Julia. »So was hört man doch gar nicht.«
Pit hatte seinen kleinen Bruder Olaf erkannt, der in der Spitze eines Baumes wippte.
Pit wölbte die Hände vor dem Mund und rief: »Olaf Komm sofort herunter!«
Die Antwort war ein Hagel von Kastanien. »Lass ihn doch sitzen!«, rief Julia ärgerlich. »Es wäre das erste Mal, dass er auf dich hört.«
Pit schaute hilflos zu Julia, dann zu seinem Bruder.
»Von mir aus klettere zu ihm hoch und lege ihn trocken!«
Julia lief wütend in die Schule und erreichte noch vor Herrn Rohnke das Klassenzimmer.
Sie ärgerte sich über Pit, wie immer, wenn er sich ihren Wünschen widersetzte.
Die 8b begrüßte Julia mit »Hallo!«
Liebscher schien gerade eine Episode aus seinen Ferienerlebnissen zum Besten gegeben zu haben.
Ellens Blicke hingen noch bewundernd an Liebschers schmalen Händen, die durch ihre beschwörende Gestik seinen Erzählungen große Lebendigkeit verliehen. Schon seit dem Kindergarten war Ellen Julias Freundin. Ellen hatte immer etwas zum Schwärmen gebraucht. Erst war es ein luxuriöser Puppenwagen gewesen, dann ein roter Luftroller, ein Sportrad, später dann war es ein Jugendbild des französischen Filmschauspielers Alain Delon, und nun war es seit einem Jahr Liebscher. Ellen hatte Julia gestanden, dass sie in Liebscher »völlig weg« war. Ellen glaubte, dass ihr neuer Schwarm ihr großes Geheimnis war, dabei wusste die ganze Klasse davon, aber niemand witzelte darüber. Pele hatte es einmal versucht, da hatte Liebscher ihn in einen seiner Judogriffe genommen, einen Armhebel. Pele hatte vor Schmerz aufgeschrien und um Entschuldigung gebeten.
Als sich Julia neben Ellen setzte, fiel die Freundin ihr um den Hals.
»Grüß dich, Julia! Eine Ewigkeit haben wir uns nicht gesehen! Findest du nicht auch? Erzähl schon, wie war es an der Ostsee? Bei mir war's langweilig. Dresden. Mein Vater schleifte uns von einem Museum ins andere. Abends waren wir vielleicht kaputt, kann ich dir sagen ... «
Auch Julia freute sich, Ellen wiederzusehen.
»Beträufelst du dich neuerdings etwa mit Parfüm?« fragte Julia.
»Parfüm? Nur mal probiert. Nur einen Tropfen. - Java!«, flüsterte Ellen. Sie verdrehte ihre großen grauen Augen; dann fuhr sie sich verlegen mit den Händen durch ihr kurzes blondes Haar, das einen von allen Mädchen beneideten Glanz hatte.
»Na, Schönste?«, rief Liebscher jetzt zu Julia. »Ist unsere knusperbraune Südseekönigin wieder im Sachsenlande««
Erst jetzt bemerkte Julia, dass die Jungen sie lächelnd ansahen und die Mädchen neidisch guckten.
Liebscher stellte einen Fuß auf seinen Stuhl, imitierte eine Gitarre in seinen Armen, sah sie herausfordernd an und sang: »Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen trägt Julia seit heut zu ihrem Kokosnusskleid ... «
Affe!, dachte Julia. Und doch fühlte sie sich geschmeichelt. In Liebscher waren fast alle Mädchen der Klasse ein bisschen verliebt. Julia machte sich manchmal vor den anderen Mädchen lustig über ihn und seine Verehrerinnen, sagte, dass Liebscher aussähe wie in einer Filmfabrik produziert. Dann sagte sie unter dem Gekicher der Mädchen Liebschers Merkmale wie ein Rezept auf: »Man nehme einen sportlich schlanken Körper, groß und gut durchwachsen, dazu einen schmalen Kopf, gepflegte schwarze Haare, braune Augen, einen schmalen Mund und zwei Portionen Verstand, schüttele alles dreimal kräftig durcheinander, stelle es eine halbe Stunde in die Sonne - und man hat einen gut aussehenden, gebräunten Werner Liebscher, Klassenbester und Lehrer Rohnkes Lieblingsschüler.«
Liebschers Ständchen wurde durch das Schrillen der Klingel und durch das Eintreten Rohnkes unterbrochen.
Liebscher sprang auf seinen Platz und hatte jetzt nur noch Augen und Ohren für Herrn Rohnke.
Auch alle anderen standen erwartungsvoll. Das achte Schuljahr würde ein entscheidendes Jahr werden.
Julia wollte bis zum Abitur in der Schule bleiben und später Pädagogik studieren. Das war noch ein weiter und mühsamer Weg. Doch sie war überzeugt: Mit Herrn Rohnke war das zu schaffen.
Herr Rohnke lief mit langen energischen Schritten zu seinem Tisch, auf den die Mädchen einen Strauß bunter Astern gestellt hatten.
»Guten Morgen, Freunde!«, sagte der Klassenlehrer mit Bassstimme, die eigentlich gar nicht zu seinem schlanken, durchtrainierten Körper passte.
Die Klasse donnerte ein »Guten Morgen, Herr Rohnke!«, zurück.
Herr Rohnke packte seine Unterlagen aus. Er kam immer sorgfältig vorbereitet zum Unterricht. In seiner heutigen ersten Stunde unterrichtete er Geschichte.
Julia freute sich auf diese Stunde. Geschichte war bei Rohnke besonders interessant und spannend. Es war immer ein Ausflug in die Vergangenheit, bei dem der Lehrer sich und die ganze Klasse in die aufregendsten weltgeschichtlichen Abenteuer stürzte. Als sie die Französische Revolution von 1789/94 behandelt hatten, waren nach dem Unterricht alle erschöpft gewesen, als hätten sie selbst mit Robespierre, Marat, Danton und dem Volk von Paris um Freiheit und Gerechtigkeit gekämpft.
»Legt mal die Bücher noch einen Moment zur Seite«, sagte Herr Rohnke. »Ihr wisst, ich bin kein Freund von großen Vorreden, aber zu Beginn dieses für alle wichtigen Schuljahres will ich euch zwei, drei Sätze sagen.«
Herr Rohnke nahm die Blumen von seinem Tisch, sie störten ihn beim Sprechen. Er liebte nichts Unnützes,