ihr fiel das Lernen leicht, überall hatte sie Erfolg.
Pit warf den Apfelrest bis an das Ende des Schulhofs. Er fragte: »Wie waren die Ferien? Bist ja toll braungebrannt.«
»Sieh mich nicht so an«, sagte Julia. Sie dachte: Jetzt hat er mich angesehen wie Liebscher. Oder war es nur ihr Ärger, der sie das denken ließ?
Sie ging zu Liebscher und den anderen und sagte mitten in das Gespräch hinein: »Es ist also beschlossene Sache, dass Pit die achte Klasse nicht schaffen wird!«
Das Gespräch brach augenblicklich ab. Nach einer Weile sagte Pele: »Sag mal, spinnst du? Hast du an der See verdorbenen Fisch gegessen oder was ist?«
Gerda Munkschatz, die immer dabei war, wenn sich etwas gegen Julia richtete, warf ihr vor: »Du willst dich doch nur wieder interessant machen! Sie will die Hauptrolle spielen in diesem Jahr! Julia sucht ihren Romeo!«
Gerda Munkschatz sah dabei zu Liebscher, und sie verzog ihr breites, sommersprossiges Gesicht zufrieden, als sie sah, dass einige zustimmend lachten.
Julia achtete weder auf Pele noch auf Gerda Munkschatz. Sie sah Liebscher fest an, und es fiel ihr sehr schwer, zu sagen: »Ich glaube, Herr Rohnke hat in der vergangenen Stunde einen Fehler gemacht!«
Julia hatte das leise, wie nebenbei sagen wollen, aber es war laut und vorwurfsvoll herausgekommen.
Das Schweigen war beklemmend. Erst schauten alle aneinander vorbei, blickten dann zu Liebscher, als müsste er für sie die Antwort geben. Sie waren es gewohnt, dass Herr Rohnke oder Liebscher für sie sprach. Obwohl Julia nicht gesagt hatte, welchen Fehler Herr Rohnke gemacht hatte, wussten alle, dass Pit gemeint war.
Liebscher sah Julia betroffen an. Er wollte einfach nicht wahrhaben, was sie da gesagt hatte. Er war Julia gegenüber immer nachsichtig gewesen, wenn sie wieder einmal etwas Verrücktes getan hatte, aber bei Herrn Rohnke hörte der Spaß auf!
Liebscher rekelte sich vom Stuhl hoch. Er spürte eine wachsende Wut in sich, und hätte er jetzt einen Jungen vor sich gehabt, hätte er zugeschlagen.
Julia stand vor ihm über einen Stuhl gebeugt, sie atmete heftig, und sie kam Liebscher vor wie eine zum Sprung bereite Katze.
Ellen versuchte mit kläglicher Stimme zu schlichten: »Julia ... lass doch das Streiten!«
Pit stand noch immer am Fenster, aber jetzt zur Klasse gewandt. Es war ihm unangenehm, dass Julia sich für ihn stritt. Er stand mit hängenden Armen, und er kam sich hilflos, zu groß und zu plump vor.
Er wünschte sich weit weg.
Liebscher überragte Julia um einen ganzen Kopf. Langsam sagte er: »Das nimmst du zurück, was du eben über Herrn Rohnke gesagt hast!«
Die Mädchen und Jungen der 8b hatten das Klingelzeichen überhört.
Herr Rohnke kam mit eiligen Schritten ins Klassenzimmer. Er war bereit zu neuen weltgeschichtlichen Taten. In der ersten Stunde hatte er Napoleon endgültig in der historischen Versenkung verschwinden lassen, nun wollte er die Gründung der »Heiligen Allianz« nachvollziehen und über den zweiten Pariser Frieden sprechen.
Der Lehrer, besessen von seiner Arbeit, spürte nicht die Unruhe in der Klasse. Er ertappte Liebscher bei einer Unaufmerksamkeit, aber er schob dessen Zettelschreiberei einem kleinen nachsommerlichen Flirt zu, den er nachsichtig belächelte. Erst gegen Ende der Stunde gelang es ihm, die Klasse für seinen Stoff gefangen zu nehmen.
Liebscher hatte einen Zettel geschrieben, den er an Julia weiterreichen ließ. Sie las: WIR SPRECHEN UNS NOCH!
Julia überlegte: War sie zu weit gegangen? Pit hatte kein Wort gesagt. Jetzt rutschte er unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Warum regte sie sich wegen Pit so auf? Nun gut, sie war mit ihm befreundet, aber das war sie auch mit anderen. Das war nicht der Grund. War vielleicht etwas dran an Gerda Munkschatz' Gerede? Nein, auch das war es nicht. Es war etwas anderes, eine gewisse Unzufriedenheit darüber, wie das neue Schuljahr begonnen hatte. Genauso hatte das alte Schuljahr geendet. Es war doch kein Zufall gewesen, dass Herr Rohnke bei der Verabschiedung in die Ferien für Pit kein Wort gefunden hatte. Vielleicht war sie auch nur überempfindlich, gereizt.
Julia wurde immer unsicherer, zumal sie den Widerstand der ganzen Klasse gegen sich spürte. Sie führte ein Streitgespräch mit sich selbst. »Du bist undankbar und egoistisch! Deine guten Leistungen hast du doch zum großen Teil Herrn Rohnke zu verdanken! Vergiss das nicht!«
»Soll ich etwa meine Zensuren mit meinem Schweigen erkaufen?«
»Warum willst du denn unbedingt reden? Willst dich wohl großtun? Hast doch bisher keine Sorgen gehabt. Herr Rohnke hat dir alles abgenommen.«
»Aber ... «
»Nichts aber!«
»Was faselst du denn da?«, wollte Ellen wissen. Sie legte Julia ihre kühle Hand auf die Stirn. »Fühlst du dich nicht gut? Du bist doch nicht etwa krank, Juli?«
Julia riss sich aus ihrem Selbstgespräch. »Es ist nichts, Ellen. Lass nur, ich bin ganz in Ordnung.«
Julia bekam nichts mit von Rohnkes Unterricht. Auch über die folgenden Stunden bei Frau Täuscher hätte sie kaum etwas zu sagen gewusst. Eine unerklärliche Unruhe hatte sie erfasst. Sie lag mit sich selbst im Streit.
Sie atmete tief auf, als der Unterricht beendet war, sie Ellen und ihre Geschwätzigkeit abschütteln und eilig das Schulgebäude verlassen konnte.
4.
Julia ging durch den Heuweg. Anfangs schaute sie sich oft um, ob ihr auch niemand folgen würde. Im Schulhaus war ihr Liebscher hinterhergerannt, aber sie war durch die Hausmeisterwerkstatt in die Gartenkolonie entschlüpft. Sie wollte jetzt keine endlosen Diskussionen.
Ja, was wollte sie eigentlich?
Julia zog sich an einem Zaun hoch, pflückte einen Apfel. Sie hatte vergessen, sich umzusehen, ob »die Luft rein war«. Aber die Kleingärtner kamen meist erst abends und zu den Wochenenden in ihr Zehnquadratmeterparadies, das sie mit hohen Zäunen und dichten Hecken gegen die Außenwelt abzusperren versuchten.
Julia störten diese Zäune nicht, im Gegenteil, sie forderten auf zum Drübersteigen. Manchmal kam ihr der Appetit auf einen Apfel nur, wenn er schwer zu erreichen war.
Vom grauen Himmel senkte sich ein heißer Dunstschleier auf die Gärten. Das Bunt der Blumen flimmerte vor Julias Augen. Es roch nach Rosen, nach trockener Erde und Ruß.
Julia lief auf eine Wiese, die mitten in den Gärten zum Niederlegen einlud.
Sie warf ihre Tasche an den Stamm eines Baumes und sah müde zu dem verlassenen Klettergerüst und den Sandkästen. Auch in dem barackenförmigen Flachbau der Gartenkantine war niemand zu sehen.
Julia wollte allein sein - aber sie hätte jetzt auch gern mit jemandem gesprochen. Mit jemandem, der nicht gleich selber losplapperte, sondern zuhören würde.
Sie legte sich, den Kopf auf ihre Tasche gebettet, die Beine ins warme Gras gestreckt. Sie schloss die Augen und befahl sich: »Du bist ganz ruhig. Du bist ganz ruhig.« Herr Rohnke hatte diese Methode der Klasse beigebracht. Sie hieß Autogenes Training und sollte ihnen die Angst und die Aufregung vor Prüfungen nehmen.
Herr Rohnke! Immer wieder: Herr Rohnke!
Unruhig setzte sie sich auf. Dieser erste Schultag war unerträglich. Die ganze Stimmung war ihr verdorben. Am liebsten hätte sie den Tag mit einem Radiergummi ausgelöscht.
Julia hörte Stimmen. Sie sah Pit und seinen kleinen Bruder Olaf auf die Wiese treten. Sie stritten, setzten sich in den Sandkasten und ließen den Sand durch ihre Hände rinnen.
Julia hatte rufen wollen: Hallo, Pit! Aber sie schwieg, versteckte sich hinter dem breiten Stamm des Baumes.
»Aber du musst ihm gehorchen!«, hörte sie Pit eindringlich sagen. »Er ist jetzt dein Vater ... «
»Ach -