Friedrich von Bonin

ZwischenWelten


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worden, niemand wusste, warum. Sehr oft in den acht Jahren des Krieges waren Truppen durch das Land gezogen, über die Elbe, durch Leipzig, durch Dörfer, über die Felder, und hatten alles geplündert, was sie finden konnten. Schauergeschichten hatten die Ältesten an den Abenden in den Hütten oder im Sommer unter der Linde vor der Kirche erzählt von verbrannten Dörfern und Städten, von vergewaltigten Frauen und Mädchen, von gestohlenem und verbranntem Eigentum. Die Felder waren nach dem Durchzug von Truppen immer verwüstet. Hatten nicht die Kaiserlichen vor etwas mehr als einem Jahr drei Städte in der Nähe niedergebrannt und geplündert?

      Nach dieser Nachricht hatte es Heinrich Reinstätten in seinem Dorf bei seinem friedlichen Amt nicht gehalten. Er hatte die alte Muskete von der Wand genommen, sein schartiges Schwert gegürtet, Frau und die drei Kinder geküsst und war davongegangen, nach Norden, von der Neiße weg, wo er die Protestantischen vermutete, um ihnen seine Dienste anzubieten.

      Sie hatten nur wenig von ihm gehört, er konnte nicht lesen und nicht schreiben, aber vor drei Monaten war ein Soldat in das Dorf gekommen und hatte ihnen die Nachricht gebracht vom Tode seines Vaters, tapfer sei er in der Schlacht gefallen bei einer Stadt, deren Namen Hans nicht behalten hatte, einer Schlacht, in der die Lutherischen einen Sieg zum Ruhme Gottes errungen hätten. Hans Reinstätten erinnerte sich des großen Jammers, den der Bote in ihrer Hütte hinterlassen hatte und noch jetzt krampfte sich sein Herz zusammen, wenn er daran dachte, dass er den Vater nicht mehr sehen würde.

      Ein Gebell des Hirtenhundes riss ihn aus seinen Träumen, er sah sich um. Die Herde hatte eine riesige Staubwolke hinter sich gelassen, deshalb ging er ihr auch voran, auf den Hund, Hasso, vertrauend, der sie zusammenhalten würde. Jetzt stand der Hund im Gebüsch neben dem Weg und gab Laut. Hans hörte ein jämmerliches Blöken von dort. Er lief hin und tatsächlich war eines der kleineren Lämmer in das Brombeerdorngestrüpp geraten, es kam nicht vor und nicht zurück. Fluchend kroch Hans in das Gebüsch, die Dornen zerkratzten ihm die Arme und das Gesicht, bis er das Lamm erreichte, es umfasste und herauszog.

      „So, du dummes Vieh, geh da jetzt nicht mehr rein“, schimpfte er und führte es zur Mutter. Langsam zog die Herde weiter.

      2.

      Es war am späten Nachmittag, als Hans Reinstätten den Weg erreichte, der nach links vom Fluss weg und in das Dorf führte. Die Dörfler hatten versucht, den Weg zur Straße auszubauen und ihn mit Feldsteinen belegt, damit er von den Karren besser befahren werden konnte. Hans wusste, dass er dadurch für die Tiere mit ihren schmalen Hufen schwerer zu begehen war, er ließ die Herde daher neben den Steinen laufen. Die ersten Hütten kamen in Sicht.

      Neissmund war ein sehr kleines Dorf mit armen Bewohnern. Der reichste Bauer, der gleichzeitig der Bürgermeister war, hatte fünf Morgen Land hinter seinem Haus, er hatte ein Pferd, das er zum Pflügen anspannen konnte und zwei Kühe, deren Milch er an die Nachbarn verkaufte. Die anderen Bauern bewirtschafteten ihre kleinen Gemüsefelder, von deren Erträgen sie lebten und hielten sich das Vieh, das die Familie Reinstätten hütete. Meistens hatten sie vier oder fünf Schafe, Hühner und einige Ziegen. Im Dorf gab es sieben Schweine, die sich frei auf den Feldern herumtrieben und ihr Futter suchten. Sie gehörten dem ganzen Dorf und wurden nur geschlachtet, wenn die Bewohner eines der Feste feierten, die es im ganzen Jahr verteilt gab. Eines dieser Tiere war dem Pfarrer vorbehalten, der mit seiner Familie von seinem Fleisch und von den Früchten lebte, die die Bauern ihm brachten.

      Ein friedliches Dorf war Neissmund, alle Bewohner waren so arm, dass für Neid kein Raum blieb. Streit gab es allenfalls dann, wenn zwei junge Männer das gleiche Mädchen wollten, dann konnte es notwendig werden, dass der Bürgermeister oder sogar der Pfarrer ein Machtwort sprach. Andere Konflikte gab es kaum.

      Dennoch ging Angst um im Dorf, Angst davor, dass der langjährige Frieden zerstört werden konnte, weil sich entweder eines der feindlichen Heere oder auch nur versprengte Soldaten hierher verirrten. Schließlich war Glogau nicht weit, Cottbus, die großen Städte, die in den Auseinandersetzungen der Mächtigen eine große Rolle spielten. Bisher waren sie verschont geblieben, hatten allerdings schon drei Männer an den Krieg verloren, die sich, wie Hans‘ Vater, freiwillig gemeldet hatten.

      Jetzt kam der Hirte mit der Herde am Rande des Dorfes an, auf dem Platz, auf dem er sie anhielt und die Eigentümer sich ihre Tiere heraussuchten. Und dort, Hans‘ Herz stockte, da stand sie, Gesine Ammermann, Gesine, nach der er sich seit Wochen und Monaten verzehrte. Er liebte sie, er wollte sie zur Frau nehmen und er wusste, sie sah ihn auch freundlich an.

      „Hans“, rief sie ihm lächelnd entgegen und er schmolz dahin, „guten Tag, Hans, hast du die Tiere gut geweidet?“

      „Klar“, lächelte er zurück und sein Herz klopfte, „und ich bringe dir eure Tiere heil zurück und satt.“

      Nun war er herangekommen und versuchte, sie zu umarmen. Sie wehrte ihn ab.

      „Hans, du weißt, ich mag dich sehr, aber mein Vater will das nicht. Er könnte uns hier sehen.“

      „Kannst du mich denn heute Abend treffen?“, fragte er leise zurück.

      „Ich würde gern, aber der Pfarrer. Du weißt, dass der Pfarrer jedem die Hölle angedroht hat, der auch nur ein Mädchen oder einen Jungen anfasst. Nach der Heirat, so hat er gesagt, und heiraten lässt uns mein Vater nicht.“

      Hans wusste es. Er war der Hirte des Dorfes, gut angesehen bei allen Bauern, weil er sich sorgsam um ihre Tiere kümmerte, aber er und seine Mutter, überhaupt die ganze Familie, hatten kein Land, das sie bestellen konnten und das bei einer Heirat mit dem Ammermannschen Hof zusammenfallen würde. Und der Hof von Gesines Vater war groß, vier Morgen hatte er, eine Kuh, die er melken konnte und die, wenn sie alt war, noch Fleisch brachte. Ammermann gehörte das zweite Pferd im Dorf, ein Kaltblüter war das, ein riesiges, stämmiges Tier, das der Bauer vor den Pflug spannen und so tiefer pflügen konnte als die anderen und vor allem auch schneller. Und dieser Bauer würde seine einzige Tochter niemals dem Hirten geben, das kam nicht in Frage und Hans und Gesine wussten das.

      Und obwohl sie sich liebten, duldete Gesine nicht einmal, dass er sie in den Arm nahm. Zu bestimmt waren die Worte des Pfarrers Melcher gewesen, eines alten, hageren, starkknochigen Herrn mit glühenden schwarzen Augen.

      „Und wer der Fleischeslust frönt, der sei der Hölle!“, donnerte er sonntäglich von der Kanzel herab, „und diese Sünde ist schon begangen, wenn der Junge das Mädchen auch nur begehrlich ansieht!“

      Und genau das tat Hans Reinstätten, tags, wenn er auf der Weide die Schafe hütete und nachts, wenn er auf seinem Lager lag, die Augen geschlossen, aber schlaflos, weil sein Geschlecht sich erhob und nach Erlösung schrie, die es nicht gab, denn: „Wer Hand an sich legt, der ist der Hölle!“ Auch das predigte der Pfarrer und Hans fürchtete sich grausam vor der Hölle und ihren Qualen, die der Prediger so drastisch zu beschreiben wusste.

      3.

      Ein Monat ging ins Land. Im Spätsommer war es kalt geworden, Regen war gefallen, herrlicher Regen, auf den die Natur lange Wochen so begehrlich gewartet hatte. Regen war ohne Unterbrechung vom Himmel gekommen, leise, plätschernd, alles mit Nässe durchdringend. Hans war mit der Herde jeden Tag hinausgewandert, die Tiere mit ihrem triefenden Fell hatten die Köpfe hängen lassen. Schwer hing den Schafen die jetzt schon kräftigere Wolle von den Körpern, durchnässt. Das Wasser war durch Hans‘ Umhang gedrungen, er fröstelte den ganzen Tag vor Nässe und Kälte.

      Aber jetzt war die Sonne noch einmal durchgekommen, die Wärme kam in die Welt zurück, selbst abends saßen die Menschen wieder draußen. Hans traf Gesine öfter, jetzt, wo es warm war, und jeden Abend bat er sie um ein Treffen und jeden Abend verweigerte sie es. Zu groß war ihre Angst vor Vater und Pfarrer.

      Hans hatte sich am Fluss gegenüber der Stelle, an der er tagsüber in den Weg zum Dorf einbog, einen Platz im Uferschilf geschaffen, hatte die Pflanzen herausgerissen, mit dem Stock den Boden abgeklopft, um Schlangen zu vertreiben und kam nun abends, so lange es warm war, an diesen Ort, sah auf den Fluss hinunter und träumte.

      Er folgte mit den Blicken dem schnell fließenden Wasser, das zur Oder strömte, mit der es sich einige Kilometer abwärts vereinigte, sah,