Milena Himmerich-Chilla

534 - Band I


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Andrey stöhnte entsetzt auf. »Auriel, wir wissen nicht, was das alles zu bedeuten hat. Ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache, zumal der Anhänger eine Vorgeschichte hat. Außerdem hast du keine Ahnung, wohin du gehen musst, um Antworten zu bekommen.«

      Dendayar hätte seinem Vater recht geben sollen, doch blieb stumm in seinem Stuhl zurückgelehnt sitzen. Er selbst war neugierig, was dies zu bedeuten hatte. Wenn jedoch jemand heraus bekommen konnte, was dahinter lag, dann war es sein Bruder, kein anderer.

      Auriel blickte gebannt auf das Leuchten in seinen Händen und schüttelte sanft den Kopf. Er wusste mit tiefsitzender Gewissheit, dass nur er erfahren würde, was es mit dem seltsamen Verhalten des Steines auf sich hatte.

      Er stand auf, wobei sein Stuhl polternd nach hinten fiel. Dabei schlug er seine rechte Handfläche auf die hölzerne Tischplatte. Das helle Geräusch hallte kurzzeitig von den kargen Wänden der kleinen Küche, in der sie gesessen waren, wider. Andrey seufzte und sah mit müden Augen seinen Ältesten an, der bedeutungsvoll seine Augenbrauen hochgezogen hielt und sich ebenfalls erhob.

      Andrey, der noch immer stumm in seinem Stuhl verharrte, blickte auf die Silberkette, die aus Auriels geballter Faust hervorlugte. Beklemmung ergriff seine Brust. Ihm wurde übel bei dem Gedanken daran, seinen Sohn fortgehen zu lassen, in eine Zukunft, von der er aus ging, dass diese in einer Katastrophe enden würde. Die Stimme seines Vaters hallte in seinem Kopf, als auch er sich schließlich unter einem Stöhnen erhob, seinen Sohn mit geröteten Augen ansah und kaum merklich nickte.

      Auriel öffnete die geballte Faust und legte unter dem kühlen Blick seines Bruders und den abgewandten Augen seines Vaters das warme Metall um seinen Hals. Morgen, wenn die Sonne aufgegangen war, würde er seine Stadt verlassen für eine Zukunft, die in seinen Augen besser war, als das Schicksal, welches hier auf ihn wartete.

       Kapitel XVII

      Berge des westlichen Rings – Liliths Ruhestätte

      Elisabeth hielt ihre Augen geschlossen und lauschte gedankenvoll in die sie sanft umhüllende Dunkelheit. Verzweifelt versuchte sie sich dabei, an die letzten Momente im Detail zu erinnern, doch blieb ihr Bestreben erfolglos. Alleine das Standbild eines sich nähernden Wagens war ihr vergönnt, nichts weiter.

      Sie atmete geräuschvoll aus und bog prüfend die schmalen, zarten Finger. Der von ihr erwartete Schmerz blieb jedoch aus. Dies nahm ihr zu einem kleinen Teil die vorherrschende Anspannung. Es gab also doch keinen Unfall, aber was war dann passiert?

      Elisabeth ließ ihre Handfläche zögerlich über den überraschend kühlen, feuchten Untergrund wandern. Erst in jenem Moment wurde sie sich des modrigen Geruches gewahr, der ihr unerbittlich in die Nase stob. Sie verzog nachdenklich das Gesicht, bevor sie, ihren Mut fassend, die nunmehr stechend blauen Augen aufschlug und mit unklarem Blick jene steinerne Decke über sich zu fixieren versuchte.

      Die scharfen Umrisse der Stalaktiten, welche gewichtig über ihr herabhingen und dabei mahnend auf sie deuteten, verschlugen ihr just den Atem. Sie keuchte erschrocken, während weiches, golden schimmerndes Licht über die raue Oberfläche des Kalkgebildes zuckte. Wo um alles in der Welt befand sie sich?

      Panik kroch ihren Rücken hinauf und benetzte ihr Bewusstsein, bevor sie hektisch den Blick über die steinernen Wände zog. Diese hielten ihren Körper rings um gesäumt. Ein Ruck durchfuhr bei deren Anblick den zierlichen Körper. So stand sie bereits wenige Augenblicke danach auf nackten Füßen.

      Es pochte schmerzhaft gegen ihre Schläfen und ließ sie so geschwächt gegen das harte Granit am Fußende des Sarges taumeln. Jene allererste Berührung mit der ihr neuen Umgebung riss sie augenblicklich von den Füßen. Die Sekunden dehnten sich für Elisabeth zu einer schieren Endlosigkeit, bevor sie am Ende doch auf dem unnachgiebigen Boden aufschlug und es erneut dunkel um sie wurde.

      Noch immer lag ihr, von grauem Schleier verhangener Blick auf der Höhlenwand, als sie, unter Krämpfen gepeinigt, sich erbrach. Jener Eigengeruch der Höhle, welcher bis zu diesem Zeitpunkt den Ort in einem eisernen Griff gehalten hatte, vermischte sich nunmehr mit der Penetranz bitterer Galle, die gelblich zäh neben Elisabeths Körper über den Boden kroch.

      Unter einem kläglichen Laut stemmte sie ihren leichten Körper hoch und lehnte sich nach einigen, wenigen unbeholfenen Schritten an die kühle Steinwand am anderen Ende der Höhle. Noch immer ging ihr Atem stoßweise und erfüllte als Dröhnen den Ort. Ihr Blick musterte dabei die vereinzelt in den Ecken stehenden Kerzen. Diese brannten stetig rings um das Steingefängnis. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken, während sie sich gewahr darüber wurde, dass jemand kurz vor ihrem Erwachen hier gewesen sein musste, um diese zu entzünden.

      Es verging kaum mehr eine Sekunde, als sie auch schon unbändige Wut ergriff. Unausgesprochen nahm sie sich vor, diese Person ausfindig zu machen und dazu zu bringen sie wieder nach Hause zu schicken.

      Von dieser starken Emotion getrieben, presste sie ihren schmalen Körper an der Felswand entlang und begann den Weg in Richtung des bläulichen Lichtkegels am Ende der Höhle. Ihre Zehen krallten sich dabei, gleich ihren schmalen Fingern in den darunter gelegenen Stein, als sie kurzzeitig an ihrem Körper hinab blickte. Was sie jedoch sah, schien in jenem Moment ihrer Alpträume entsprungen zu sein.

      Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als ein fremd klingender Schrei aus ihrer Kehle drang. Dieser erfüllte sogleich die kleine Höhle zur Gänze hin und rollte durch die schmale Öffnung, hinaus in den nächtlichen Wald.

      Elisabeth rannte über den feuchten Stein, während das klatschende Geräusch ihrer blanken Sohlen von den Wänden zurückgeworfen wurde, und sie so für einen kurzen Moment der irrationalen Panik aussetzte, nicht alleine zu sein. Die gehasteten Schritte trugen sie hierbei, so schnell sie konnten, Richtung einer schmalen Felsspalte, durch die sie mit Tränen in den Augen trat und sogleich die kühle Nachtluft einsog. Erst nach einem tiefen Atemzug, der ihre Lungen zum Bersten füllte und ihr langsam die Übelkeit vertrieb, öffnete sie ihre Augen und konnte sich ein Bild von den bläulich gefärbten, unter ihr gelegenen, Baumwipfel machen.

      Der Mond hing weit über der naturbelassenen Szenerie, welche sich schier endlos vor ihrem Blick bis an den Horizont erstreckt hielt.

      Elisabeth ließ ihre Augen über das befremdliche Land wandern, während die Vermutung, sich nicht mehr in München zu befinden, sich zusehens erhärtete. Tränen stiegen ihr erneut auf, als sie vorsichtig die Füße über das Stein-Sand-Gemisch schob und ihre Arme seitlich des kindlichen Körpers hielt. Das weiß-rote Kleid, welches an seinen breiten Trägen von ihren dürren Schultern hing, umhüllte ihren zierlichen Körper größtenteils und tänzelte im sanften Wind spielerisch um die Fußgelenke. Dabei kämpfte sie verzweifelt gegen ihre Emotionen an und erstickte jene schmerzhaft noch in ihrem Hals. Was war mit ihr geschehen? Wo war sie nur?

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