Else Ury

Nesthäkchens erstes Schuljahr


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in die Tasse goss und ein Brötchen mit Butter strich, schüttelte die Kleine, die sonst immer bei bestem Appetit war, das Köpfchen.

      »Ich kann heut' wirklich nichts essen, ich bin ganz satt, und es ist auch schon viel zu spät – da klingelt die Schulglocke ja schon – ach Gott, ich komme sicher nicht mehr zur rechten Zeit!« Damit wollte Annemarie ohne Hut und Mantel zur Tür hinaus, denn von der Straße herauf klang es deutlich »klinglinglingling«.

      Vater aber holte das kleine Fräulein wieder zurück. »Das war ja bloß die elektrische Bahn, die gerade vorbeifuhr«, beruhigte er sie. »Du hast noch vollauf Zeit, Lotte, nun setze dich mal her, und trink und iß. Ein Kind, das nicht gefrühstückt hat, wird nicht in die Schule hineingelassen.«

      Wenn Vater in diesem bestimmten Tone sprach, wagte selbst sein Nesthäkchen kein »Aber« mehr. Gehorsam setzte sich Annemarie hin, trank den Kakao und würgte das Brötchen hinunter, denn die Schulaufregung machte sich jetzt doch geltend. Von ihrer Mappe aber trennte sie sich selbst beim Frühstück nicht, die blieb aufgeschnallt.

      Draußen auf dem Treppenflur war die ganze Familie versammelt, als Nesthäkchen nun an Fräuleins Hand zum erstenmal in die Schule zog. Vater winkte mit der Hand, Mutti mit dem Taschentuch, während sie sich heimlich eine Träne von den Wimpern wischte. Hanne, die Köchin, erschien mit der Markttasche, um sich das Wunder – Nesthäkchen als Schulmädel – anzuschauen. Das Stubenmädchen Frieda wedelte mit dem Staubtuch hinter Annemarie her, und Puck, das weiße Zwerghündchen, mit dem Schwanz.

      Nesthäkchen aber hatte keine Zeit mehr, sich umzugucken. Das hopste, die Kapuze des blauen Regencapes über das kurzlockige Blondhaar gezogen, selig neben Fräulein durch die Straßen Berlins. Ihr kleiner Regenschirm und die neue Schulmappe hopsten bei jedem Schritt mit.

      Klitsch – klatsch – pitsch – patsch – in alle Pfützen ging es achtlos hinein, daß Fräulein von oben bis unten bespritzt wurde.

      Plötzlich blieb Annemarie erschreckt stehen.

      »Fräulein, ich muß noch mal umkehren, ich habe ja mein neues Frühstückskörbchen vergessen! Ach Gott, sonst bin ich sicherlich, wenn du mich mittags von der Schule abholen kommst, verhungert und mausetot.«

      »Ei, Annemie, so schlimm wird es nicht werden. Ihr habt heute noch keinen richtigen Unterricht, nur Schulaufnahme und Stundenplanverteilung, das dauert nicht lange«, beruhigte sie Fräulein.

      »Glaubst du, daß viele Kinder da sein werden, Fräulein?« fragte Annemarie rasch getröstet.

      »Sicherlich«, meinte Fräulein.

      »Das ist fein,« Nesthäkchen vollführte einen Luftsprung mitten in eine Pfütze hinein, daß die Kapuze ihr von den Locken rutschte, »da können wir schön spielen.«

      »In der Schule lernt und arbeitet man, Annemie, nur in der Pause darf gespielt werden«, dämpfte Fräulein ihre Freude.

      »Dann will ich überhaupt immer nur Pause haben!« Mit dieser Vornahme betrat Nesthäkchen die neue Schule.

      Klein-Annemarie kannte das große, rote Gebäude mit der hohen Mauer bereits von der Anmeldung her. Aber als sie jetzt zum erstenmal als richtiges Schulmädel die breiten Steintreppen hinaufstieg, faßte sie doch eingeschüchtert nach Fräuleins Hand. Einen tiefen Knicks machte sie vor dem Schuldiener; ließ der sie auch rein? Sie hatte ja ihren Kakao ausgetrunken.

      Fräulein nahm ihr draußen auf dem langen Korridor die nassen Sachen ab und hängte sie an einen Garderobenhaken. Dann strich sie ihr die verwehten Locken aus der Stirn, zupfte ihr das Schulschürzchen zurecht und schob sie zur Klassentür.

      »So, Liebling, nun geh hinein und passe hübsch auf, was die Lehrerin euch sagt. Ich warte unten im Hausflur auf dich.«

      Aber Nesthäkchen hielt Fräuleins Hand fest umklammert.

      »Nein – nein, Fräulein – du sollst mit reinkommen, allein habe ich so dolle Angst.« Es zuckte weinerlich um den frischen Kindermund.

      »Aber du Dummchen, ich kann doch nicht mit in die Klasse kommen; sieh nur, wie verständig die anderen kleinen Mädchen sind, die gehen ganz allein.« Fräulein wies auf mehrere kleine Mädelchen, die höchst unternehmungslustig die zehnte Klasse betraten.

      Da schämte sich Annemarie ihrer Furcht und ging herzklopfend hinter ihren neuen Mitschülerinnen her.

      »Guten Morgen«, sagte sie leise, blieb an der Tür stehen und steckte vor Verlegenheit den Finger in den Mund.

      Aber erschreckt zog sie ihn wieder heraus, denn hell klang es von einem vorlauten, kleinen Ding durch die Klasse: »Haach – die lutscht ja noch!«

      Alle Kinder blickten neugierig zu Annemarie hin.

      Die griff nach der Türklinke und wollte sofort wieder davon. Nein – hier blieb sie nicht – i wo – sie ließ sich doch nicht auslachen!

      Da aber kam eine freundliche Stimme vom Katheder her: »Na, tritt nur näher, mein Kind, gib mir die Hand und sage mir, wie du heißt.«

      Die Stimme war so sanft und lieb, fast wie die von Mutti. Und die junge Lehrerin, die Annemarie nicht gleich unter all den vielen Kindern entdeckt hatte, schaute so vertrauenserweckend aus, daß die Kleine ihren Plan, fortzulaufen, aufgab. Zögernd trat sie an das Katheder heran.

      »Wie heißt du denn, mein Kind?« klang es wieder aufmunternd an ihr Ohr.

      »Annemie«, flüsterte das kleine Mädchen so leise, daß die Lehrerin Ohren wie ein Luchs hätte haben müssen, um es zu verstehen. Dazu hielt es den Kopf fast bis zur Erde gesenkt.

      Sanft hob das Fräulein den allerliebsten Blondkopf des schüchternen kleinen Dingelchens zu sich empor.

      »Ei, du schämst dich doch nicht etwa, daß du mich nicht ansehen magst?« fragte sie lächelnd.

      »Nein, gar nicht, bloß weil die Kinder mich ausgelacht haben, schoniere ich mich«, stieß Klein-Annemarie etwas hörbarer hervor. Denn sie hatte inzwischen Vertrauen zu der netten, jungen Dame gefaßt.

      Da lächelte das Fräulein noch mehr.

      »Na, dann sage uns doch mal ganz laut, wie du heißt, du kannst doch gewiß schreien!«

      »Annemie, und wenn ich artig bin, ›Lotte‹«, brüllte Nesthäkchen jetzt, daß die Lehrerin und alle Kinder vor Schreck zusammenfuhren. Das mußte sogar Fräulein unten im Treppenflur vernommen haben.

      »So ist's recht, nun möchte ich aber auch gern noch wissen, wie dein Papa heißt, Annemie?« sagte die Lehrerin, wieder schnell gefaßt.

      »Der heißt Vater.« Die Kleine sah das Fräulein treuherzig an.

      »Ja, aber er muß doch noch einen anderen Namen haben?« Nesthäkchen dachte nach.

      »Freilich, Mutti nennt ihn ›Edchen‹, und manchmal auch ›mein Einziges‹, aber Hanne und Frieda sagen ›Herr Doktor‹«, rief sie voll Stolz über ihre Schlauheit.

      Da lachte Fräulein ganz laut, und alle Kinder lachten mit, ohne eigentlich zu wissen warum.

      Klein-Annemarie wandte den Kopf verlegen nach der Tür. Wurde sie nicht schon wieder ausgelacht? Diesmal blieb sie aber nicht hier. Spornstreichs machte sie kehrt, und fort war sie, ehe die erstaunte Lehrerin sie noch zurückhalten konnte.

      Drunten im Treppenflur stand Fräulein mit mehreren Müttern und Kindermädchen und wartete auf Annemarie. Da erschien Nesthäkchen plötzlich vor ihr mit heißem Gesicht, ohne Hut und Mantel.

      »Kind – Annemie – warum kommst du denn jetzt schon wieder, ist denn die Schule schon aus?« fragte sie erschreckt.

      »Nein, aber ich gehe nicht mehr in die olle Schule,« erklärte die Kleine weinerlich, »ich will nach Haus zu Vater und Mutti, und zu Hanne und Frieda!«

      »Aber Annemiechen, warst du denn unartig, daß man dich fortgeschickt hat?« forschte Fräulein, aufs höchste betroffen.

      »I wo« – unter Tränen begann es in Nesthäkchens