Else Ury

Nesthäkchens erstes Schuljahr


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mußte Nesthäkchen Aufstellung nehmen, ob sich kein braunhaariges Köpfchen drüben am anderen Kinderstubenfenster zeigen wollte. Aber soviel Annemarie auch lugte, nickte und winkte, ja sogar auch hinüberrief, die kleine Margot ließ sich nicht blicken.

      Nesthäkchen aber hatte noch mehr zu tun, als am Fenster zu stehen. Das mußte vor allen Dingen Mätzchen frisches Wasser und Futter geben. Denn morgens war dazu keine Zeit mehr gewesen. Annemarie sorgte stets selbst für ihr Kanarienvögelchen, sogar von ihrem Apfel steckte sie meist ein Schnittchen zwischen die Messingstäbe seines Bauers. Dafür sang Annemaries Mätzchen aber auch so schön wie kein anderer Kanarienvogel.

      Als Mätzchen versorgt war, ging es zu Hanne in die Küche hinaus.

      »Hanne,« begann die Kleine nachdenklich, »was haben Sie denn heute bloß mit dem Bonbon gemacht, den der Kaufmann mir immer zugeschenkt hat, wenn ich mit einholen gegangen bin?«

      »Den habe ich mir natürlich nun allein gut schmecken lassen«, lachte die Köchin.

      »Wirklich?« zweifelte Klein-Annemarie und setzte dann gutherzig hinzu: »Na, ich habe ja auch dafür die große Schultüte von Großmama!«

      Inzwischen waren auch die Brüder aus der Schule gekommen.

      »Na, hast du schon einen Tadel bekommen, Annemie?« fragte Bruder Hans, der Untertertianer, neckend das Schwesterchen beim Mittagessen.

      »Nee, aber eine seine Schultüte von Großmama; ich gebe dir auch etwas ab, Hänschen – und dir auch, Kläuschen«, setzte das gute, kleine Ding schnell hinzu, als es die begehrlichen Braunaugen des frischgebackenen Sextaners Klaus sah.

      »Hast du denn schon eine Schulfreundin?« forschte der.

      Nesthäkchen überlegte keinen Augenblick.

      »Ja, alle fünfzig Kinder sind meine Schulfreundinnen; so viel Freunde hast du sicher nicht, Kläuschen«, übertrumpfte sie den Bruder.

      »Nee,« machte der Sextaner verächtlich, »ein ordentlicher Junge hat überhaupt nur einen Schulfreund. Und höchstens noch einen zweiten für den Notfall, wenn er mal mit dem ersten ›schuss‹ ist. Und mit all den anderen keilt man sich bloß.«

      »Dann kann ja Margot Thielen von drüben meine Schulfreundin sein, aber heulen darf sie nicht immerzu. Und wenn ich mit ihr ›schuss‹ bin, dann kommt die Hilde dran, aber nur als zweite Freundin, denn die kann ich nicht recht leiden. Und mit den anderen Kindern werde ich mich gleich morgen keilen!« rief Nesthäkchen eifrig, das sich in allem ein Vorbild an den großen Brüdern nahm. Dazu reckte die Kleine bereits unternehmungslustig die Arme.

      »Pfui, Lotte, kleine Mädchen hauen sich doch nicht«, unterbrach Mutti die kriegerische Vornahme ihres Töchterchens mißbilligend.

      Vater aber, der es nicht sehen konnte, wenn sein sonniges Nesthäkchen traurig war, fragte schnell, da es bei Muttis Verweis feucht in den Blauaugen seines Lieblings flimmerte: »Wie gefällt dir denn dein Lehrer, Lotte? Hat er denn auch einen Rohrstock?«

      Da lachte Annemarie wieder.

      »Wir haben doch gar keinen Lehrer, nur ein Fräulein. Und einen ulkigen Namen hat die – wie war er denn bloß noch?« Die Kleine dachte angestrengt nach. »Fräulein Bückling oder Fräulein Flunder, so ähnlich war's. Ach nee, Fräulein Hering; aber süß ist sie!«

      »Ich kenne nur sauren Hering,« lachte Hans, »süßen habe ich noch nie gegessen.«

      »Mein Fräulein Hering ist aber gar nicht sauer, die ist wirklich süß«, versicherte das Schwesterchen. Dann holte sie die große Schultüte und bot jedem davon etwas an. Sogar auch Hanne und Frieda. Nur für Klaus und Puck suchte sie selbst ein Stück heraus, denn bei beiden war zu befürchten, daß sie sich mehr nahmen, als ihnen zugedacht war.

      Als Annemarie nach Tisch mit ihrer roten Tüte wieder mal zum Fenster lief und zu Thielens hinüberspähte, da lugten dort hinter der weißen Mullgardine zwei große, braune Kinderaugen hervor. Die sahen gar nicht mehr verheult aus, sondern lachten und grüßten strahlend herüber.

      Annemarie hielt ihre große, rote Schultüte hoch und zeigte sie stolz der kleinen Nachbarin. Sofort wurde drüben als Antwort eine grüne Schultüte in der Luft herumgeschwenkt – ei, da hatte die Margot auch eine geschenkt bekommen. Darum war sie auch sicher jetzt so vergnügt. Das wurde nun ein Winken hinüber und herüber. Auch Puppe Gerda mußte sich an die Fensterscheibe stellen und vor der neuen Freundin ihrer kleinen Mama einen Knicks machen.

      Dann spielte Nesthäkchen mit allen ihren Puppen Schule.

      Sie selbst war Fräulein Hering. Mariannchen, welche die Augen trotz aller Katzenköpfe, mit denen die Lehrerin sie reichlich bedachte, nicht öffnen wollte, bekam Babys Windel als Taschentuch vors Gesicht und stellte die heulende Margot vor. Gerda aber hieß natürlich Annemarie Braun.

      »So, Kinder, nun sagt mir mal alle, wie euer Vater heißt«, verlangte das kleine Fräulein Hering, das sich die Tischdecke als langen Rock umgebunden hatte, damit die Schulkinder auch Respekt vor ihr hatten.

      »Meiner heißt Papa – meiner August – meiner ist schon längst totgestorben, Tante – meiner heißt Vatichen«, so ließ Annemarie ihre Puppenschülerinnen durcheinanderrufen.

      Dann aber schüttelte sie mitleidig lächelnd den Blondkopf, ganz wie die Lehrerin.

      »Quatsch – euer Vater heißt Doktor Braun, merkt euch das, Kinder, groß genug seid ihr doch dazu. Und zu mir wird nicht Tante gesagt, nee, da müßtet ihr euch ja als Schulmädel schonieren. Ich heiße Tante Fräulein Hering. Na, was gibt's denn darüber zu lachen, Hilde? Wenn es noch Rollmops wäre, aber Hering ist ein sehr schöner Name, und der beißt auch gar nicht.«

      Doch da die schwarze Lolo noch über das ganze Mohrengesicht grinste und sogar ihre Nachbarin Gerda vor Vergnügen in die Seite puffte, wurde sie zur Strafe von Tante Fräulein Hering in die Ecke gestellt. Dort tauchte auch Kurt auf. –

      »Na, du möchtest wohl auch gern mitspielen?« fragte Annemarie ihren Puppenjungen. »Du kannst der Herr Schuldiener sein und läuten.« Kurt wurde mit der Kuhglocke aus der Schweiz ausgerüstet. »Und mein Herr Leutnant ist der Herr Direktor. Aber deinen Helm kannst du dann nicht aufbehalten, ich mache dir einen Papierhut.« Die Kleine griff nach einem Zettel, den Fräulein auf den Kinderstubentisch gelegt hatte, und fabrizierte daraus einen feinen Dreimaster für den Herrn Direktor.

      »So, Kinder, nun will ich auch noch jedem eine Schultüte schenken, die braucht man als Schulmädel. Weil ihr doch keine Großmama habt, die euch eine mitbringt.« Klein-Annemarie drehte fünf niedliche, kleine Papiertüten, sie nahm dazu, was ihr gerade in die Hand kam. In jeder Tüte aber legte sie ein Stück Schokolade aus ihrer eigenen großen.

      Gerade als Mariannchen mit geschlossenen Augen »Müde bin ich, geh zur Ruh« betete, und Kurt, der Schuldiener, dazu aus Leibeskräften mit seiner Kuhglocke bimmelte, erschien Fräulein. Sie trug die Schulsachen von Nesthäkchen im Arm, in die sie die Namen der Kleinen eingenäht hatte. Sogar in das Regenschirmchen und in die winzigen Gummischuhe, denn das war Vorschrift.

      »So, Annemiechen, nun wollen wir die noch fehlenden Hefte und Bücher für die Schule besorgen. Du kannst mitkommen; es hat aufgehört zu regnen«, sagte sie und begann auf dem Kinderstubentisch zu suchen.

      »Ich weiß doch ganz genau, daß ich deinen Stundenplan und den Zettel für die anzuschaffenden Bücher vorhin hierhergelegt habe. Hast du sie fortgenommen, Annemie?«

      Die Kleine schüttelte den Kopf. Sie konnte sich gar nicht darauf besinnen, die Zettel gesehen zu haben.

      »Was machen wir denn jetzt bloß?« Fräulein suchte in größerer Hast. Die Mappe wurde ausgekramt, die Fibel durchblättert, aber weder Nesthäkchens Stundenplan noch Bücherzettel wollten sich finden.

      Fräulein war ganz ratlos.

      »Weißt du was, Fräulein, wir lassen uns von Margot ihre Zettel borgen«, schlug Annemarie vor, und ihr Herz jubelte bei der Vorstellung, die kleine Nachbarin besuchen zu dürfen.

      Aber Fräulein