Nadja Solenka

Traumspuren


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ich den Schlüssel zu meiner Wohnung im Schloss umdrehte, fiel mir siedend-heiß ein, dass ich vergessen hatte, Kaffeefilter nachzukaufen. Die alltäglichen Dinge hatten angesichts einer schweren Trennung vollkommen an Bedeutung verloren.

      Bevor ich mich nach oben auf den Dachboden verzog, wollte ich mir noch ein paar Brote schmieren, mit Erdnussbutter und Honig und sie im Wohnzimmer essen. Der Blick aus dem Fenster, der die weiten, grünen Felder zeigte, würde mich sicherlich zu neuen Ideen für eine Reportage inspirieren. Geld für die Miete hatte ich genug wegen der angelegten Sozialhilfe von Gott und auch von Denis einiges bekommen, um mich über Wasser zu halten. Aber ich brauchte noch etwas Unterstützung, denn Karla brauchte neue Schuhe und ich eine neue Jacke, Denis wollte ich eigentlich nicht um mehr Geld bitten, dafür war ich mir zu stolz; er gab schon fünfhundert Euro.

      Nachdem ich Karla vom Kindergarten abgeholt hatte und wir heißhungrig zusammen das vorher bereitete, aufgewärmte Spaghetti Bolognese und den fertig gestellten Salat verspeist hatten, ging ich mit Karla spazieren. Beschloss ich, mir meinen Kummer aus der Seele zu laufen.

      Auf dem Weg begegnete mir Hildegard, die neue dralle, schwarz-blonde von Erich, der mir die Ente wieder liebevoll repariert hatte: der Treue. Auf hohen Hacken kam sie uns entgegen und schaute mich recht mitleidig an. Was die wohl dachte? Bestimmt so nach dem Motto: Ach da kommt die arme Alleinerziehende von nebenan. Aber vielleicht waren die Blicke gar nicht so gemeint. Damals witterte ich hinter allem Verrat. Was damit zu tun hatte, dass ich eben sehr, sehr sensibel auf meinen neuen Status reagierte, der, wer hätte das gedacht, von so vielen immer noch mit Argwohn und Abstand betrachtet wurde. Mit einem netten Gruß kam ich an ihr vorbei, und auch sie schien nicht gerade mit mir reden zu wollen.

      Während ich mit Karla so durch den Wald stiefelte, dachte ich doch wieder unwillkürlich über mich selbst nach, dachte an früher.

      "Denis schau dir diesen Strich da an, der sich direkt unter dem lila-farbenen anderen gebildet hat." "Ach, lass mich doch noch etwas schlafen, Mausi", meinte er. Denis drehte sich schlaftrunken zur Seite und zog sich die Decke über sein schwarzes, volles Haar.

      "Denis, wach auf und schau endlich, wir sind schwanger."

      Und er sagte bloß: "Na und?"

      Diese Na-Und-Reaktion hielt sich während der ganzen Schwangerschaft, wurde durch die Geburt ein wenig gemildert und diese Haltung änderte sich wenig. Nachdem ich mich nur noch müde durch den Tag schleppte, wollte ich nur noch ruhen. Aber auch er hatte Karla sehr sehr lieb, das war nicht von der Hand zu weisen. Wenn er mal da war schon.

      ER konnte ja arbeiten gehen, ich nicht, ER konnte nachts durch schlafen, ich nicht. ER ging abends raus, ich nicht, ER lebte sein Leben beinah weiter wie bisher und ich?

      Tief atmete ich die Waldluft ein. Trotzdem ich stramm durchmarschierte, wollte es mir noch nicht so recht gelingen, Denis aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Wollte es mir nicht gelingen ihn, der mein Leben vorher so geprägt hatte, zu vergessen.

      Emotionen, Erinnerungen kamen ungewollt wieder hoch:

      "Du, ich muss unbedingt zu diesem interessanten Workshop nach Berlin, du weißt doch, wie dringend ich den brauche. Du weißt, dass ich meinen Job vergessen kann, wenn ich da nicht mitziehe. Das musst du doch verstehen!" Klar verstand ich, er musste weg. Nach dem Motto, einer muss ja die Pflicht tun. Und ich? Tat ich etwa nicht meine Pflicht, war ich abends nicht müde? Dann versuchte ich wieder in mein jetziges Leben zu kommen. Ich brauchte wohl nur einen Anstoß.

      3. Kapitel

      "Löse, kröse, döse döse, maule waule, kaule daule, gekröse, wöse … ." Karla sang lustvoll und ohne Unterlass einen Text, der sehr phantasievoll klang. "Mausi, sag mal, was singst du da", fragte ich sie. „Ach, das ist die neue Art. Das ist sehr schwierig, das kann nur ich singen.“

      "Ach so", sagte ich. Langsam kamen wir zu dem See, der romantisch gelegen an einer Waldlichtung lag. Da es lange Zeit nicht geregnet hatte, war das Wasser sehr niedrig und schlammig. Karla wollte natürlich sofort ans Wasser, und in die schmutzige Brühe steigen, wovon ich sie gerade noch abhalten konnte. Gemeinsam setzten wir uns auf eine Bank am Ufer. Sie legte sich auf meinen Schoß und sang weiter irgendeine ausgedachte Komposition. Fest drückte ich sie an mich.

      Wie ungerecht das Leben ist, dachte ich und, dass man nahezu alle Männer in den Wind schreiben konnte. Sie waren egoistisch auf ihre Karriere bedacht oder auf ihren Spaß. Auf Denis traf eher das letztere zu. Das Erstere benutzte er nur als Vorwand, um Letzteres ausleben zu können. Man konnte nach einem anstrengenden Workshop ja prima noch hinterher ins Cabaret gehen, so zum Ausgleich, oder ins Kino zum Beispiel. Irgendwas mussten Mütter stets aufs neue mit der Erziehung ihrer Söhne falsch machen, dass die so gerieten, sinnierte ich. Vielleicht, dass sie sie so erfolgreich im Leben haben wollten, damit sie ihren eigenen nicht gelebten Ehrgeiz und die Suche nach Selbstbestätigung ausleben konnten - ein Erfolg aus zweiter Hand sozusagen. Oder vielleicht waren es aber auch die Väter schuld, die nichts anderes vor ihren Söhnen lebten und nicht aufzufinden waren bei der Erziehung der männlichen Kinder. Wer weiß?

      Eines war auf jeden Fall klar, an mir war die lebenslange, schöne, aber auch verantwortliche Lebensaufgabe mein Kind großzuziehen allein hängen geblieben. Aber für die Liebe zu meinem Gott tat ich fast alles.

      "Mama, was ist das da oben?", fragte meine kleine. "Das sind Blätter, die der Wind hin- und herbewegt, und ein Drache, der dort hängt", antwortete ich. "Sollen wir hoch steigen und mal nach gucken," meinte Karla dazu. "Ach, das ist zu mühsam Süße. He, schau mal, wer da kommt", versuchte ich sie von dem unsinnigen Vorhaben abzulenken. Mit rasender Geschwindigkeit kamen Daniel und Kevin, Nachbarskinder mit ihren Fahrrädern angefahren und hatten einen kurzen Halt an unserem kleinen See. "Dr. X an Dr. O, Dr. X an Dr. O holen sie schnell die Akte, holen sie schnell die Akte", sagte Daniel als Dr. X im Geschäftston.

      Kevin als Dr. O stieg von seinem Rad und rannte schnell um den See. Bald fand er die imaginäre Akte, übergab sie an Dr. X und gemeinsam fuhren die beiden wieder einträchtig los. Karla schaute mich verschwörerisch an. Wir lächelten uns zu. Der Tag war gerettet.

      Die süßeste Tochter der Welt schlief einen seligen späten Nachmittagsschlaf und ich überlegte, wie ich einen Artikel über die Geschichte der Dünnsäure-Verklappung in die Nordsee am besten recherchieren, und an welche Zeitung ich diesen lancieren könnte.

      Nicht wirklich war ich an Geld interessiert, und wenn man sich mit Kindern beschäftigen kann und dann mehr will vom Leben, sollte man es schon in der Kombination richtig hinkriegen.

      Vielleicht sollte ich versuchen, mir durch Greenpeace einschlägiges Material zuschicken zu lassen. Mit diesem Artikel würde ich dann mit hundertprozentiger Sicherheit den Durchbruch als Star-Journalistin haben, und mit Karla in Zukunft nicht mehr so finanziell am Boden sein müssen. Bei diesen Überlegungen angelangt, aß ich akribisch das Brötchen von Karla, das sie nicht aufgegessen hatte.

      Plötzlich klingelte das Telefon. Ich raste die Holztreppe hinunter und nahm den Hörer ab. Meine Ex-Schwiegermutter war am anderen Ende. Ich benannte sie so, auch wenn sie nie meine wirkliche Schwiegermutter war, und nun titulierte ich sie eben als meinen Ex-Drachen. "Hallo, Luise. Hier ist Käthe, ich wollte mal wissen, wie es euch so geht?", flötete sie mit ihrer melodischen Stimme in den Hörer. Mit Käthe war ich immer noch in Kontakt, wenn auch wenig, weil sie Karla über alles liebte, aber mich zu oft stehen ließ. "Es geht uns ganz gut, besser kann es uns nicht gehen", log ich wie gedruckt. "Ich wollte euch beiden einen Vorschlag machen … ." Käthe tat wirklich sehr geheimnisvoll. „Ich mag das aber nicht am Telefon erzählen, willst du nicht Übermorgen zum Kaffee zu mir kommen, dann besprechen wir alles weitere?" Gerne wollte ich. Meldete sich bei Käthe nun das schlechte Gewissen? Ihren Sohn empfand ich nicht als Vater, es war ja irgendwie nahe liegend, dass sie bei Denis irgendetwas falsch gemacht haben musste.

      Nach einem unergiebigen Plausch über Käthes Gelenkwehwechen und Familienklatsch gerade noch erträglicher Sorte, stellte ich überrascht den Hörer wieder auf die Station. Was Käthe mir wohl anbieten wollte? Ich war neugierig, schon allein aus diesem Grund wollte ich nicht Nein sagen.