Nadja Solenka

Traumspuren


Скачать книгу

zu einer Zigarette greifen. Aber noch in der Bewegung zur Zigarettenpackung hielt ich inne. Ich spürte, dass mein Magen sehr empfindlich auf die Erinnerungen reagierte. Also sagte ich mir: Rauchen ist gänzlich überflüssig. Ich fühle mich ruhig, zufrieden und geborgen; Magenkanal arbeitet völlig normal. Überall und jederzeit finde ich Freiheit, Sicherheit und Geborgenheit. Ich bin empfinde mich als ruhig und sicher. Mein Magen- Darmtrakt arbeitet ganz frei! Diese Formel, die ich mir aus einem Buch für autogenes Training extra umformuliert hatte, wollte diesmal nicht so richtig greifen. Wie stark ich mir auch diese Formel verinnerlichte, es klappte nicht. Hektisch zündete ich mir also eine Zigarette an und pustete hastig den Rauch aus.

      Viel zu viele Erinnerungen über die Vergangenheit kamen hoch und es fehlte mir gerade jetzt jemand, der mich trösten konnte. Ich hatte mir den meisten Besuch abgeschafft, wegen ihren Wünschen sich unentwegt nur aus sich selbst heraus auf ihr geerdetes Selbst zu beziehen, um Gott unentwegt sich selbst gefallen zu lassen. Wenige Freunde waren mir eh nur gewesen, nachdem Denis mich so verlassen hatte.

      Vor mir lag das Buch "Schicksal als Chance", das ich momentan las. Ohne groß zu überlegen griff ich mir Thorwald Dethlefsen Buch, und schlug es beim Lesezeichen auf. Ich las unter der Kapitelüberschrift "Das Gesetz des Karma": "(...) Wirkungszusammenhang zwischen den Taten der Vergangenheit und dem aktuellen Schicksalsablauf nennt man allgemein das Karma. Karma ist das Gesetz des Ausgleichs, das dafür sorgt, dass der Mensch immer wieder mit demselben Problemtypus konfrontiert wird, bis er durch sein Handeln das Problem erlöst und sich der Gesetzmäßigkeit untergeordnet hat. Hierdurch wird jede Handlung, sogar jeder Gedanke unsterblich und unauslöschlich. Denn alle Taten und Gedanken warten darauf, durch eine Gegenbewegung kompensiert zu werden."

      Zornig schob ich mir eine Locke hinters Ohr. Ja, ich war bisher immer mit demselben Problemtypus konfrontiert gewesen und zwar mit demselben Problemtypus Mann. Aber jetzt wollte ich eine geeignete Gegenbewegung starten. Würde ich bei mir und nur bei mir anfangen. Anfangen mich von anderen unabhängig zu machen. Ich wollte lernen, ganz ich selbst zu sein, denn was kam schon dabei heraus, wenn man sein Schicksal nicht begreift? Auch ich wollte mich darin nicht einbringen, aber nur wenn es mir nicht gut ging.

      Karla tapste die Treppe herauf, setzte sich auf meinen Schoß und drückte mir zärtlich und unbeholfen einen Kuss aufs Kinn. Dann fragte sie: "Mama, wo ist mein gelber Flummi.“

      Ja verflixt nochmal, wo war der gelbe Flummi eigentlich?

      4. Kapitel

      Manchmal schneit es Anfang April noch, und dann senken sich weiße Flocken auf die Felder und Wiesen, auf den Asphalt und überall hin, hüllen alles in eine gnädige, flauschige Hülle. Manchmal verwandelt sich danach wieder alles recht schnell in eine schmutzige Welt.

      Ich saß nur so für mich in einem Cafe, in dem ich als Studentin oft meine freie Zeit verbracht hatte, und das war viel Freizeit gewesen. Hier versuchte ich nun mit mir ins Reine zu kommen, wollte mir einfach nicht mehr die Kontenance geben, mein Liebesaus mit Denis zu betrauern. Aber alles um mich herum lenkte mich ab.

      Wie ich sie um ihre Freiheiten beneidete, die Studenten und Studentinnen, die am Nebentisch über Gott und die Klimakatastrophe debattierten.

      Sie wussten gar nicht, wie gut sie es doch hatten. SIE konnten sich kochen, wann und was sie wollten. SIE konnten fast jederzeit einen Stadtbummel unternehmen, spontan ins Kino oder in Kneipen gehen, und sich unmögliche Klamotten anziehen, ohne dass irgendwelche Kindergartentanten die Nase rümpften. Sie konnten blass, dick, dünn sein, indifferent oder jähzornig und keiner würde sagen, was für eine schreckliche Mutter, oder ach, das arme Kind.

      Das Leben ging weiter, sagte ich mir. Nebenan wurde nun über einen Streik heftig diskutiert, über die lächerlich geringen finanziellen Mittel für die "Studierenden", und die Überalterung des Lehrmaterials. Denen ging es doch nicht schlecht, dachte ich voller Selbstmitleid, und sie wissen gar nicht, wie gut es ihnen wirklich ging. Selbstgefällig und gnädigst grinste mir über seiner Kaffeetasse ein Student mir Brille und Zopf entgegen. Es wurde Zeit zu gehen, das war nicht mehr mein Alter, meine Welt, das merkte ich.

      Wenn Gott einen Menschen sehr liebt, dann erfüllt er einem einen lang gehegten Traum und dann nimmt er nicht Rücksicht darauf, ob man gerade vorhat, allein gegen den Sturm, das Schicksal, und gegen das Leben im allgemeinen anzurennen.

      Käthe hatte von ihrer 90Jährige Tante viel Geld geerbt und wollte sich einen Wunsch verwirklichen, eine Reise nach Mallorca. Und Karla und meine Wenigkeit sollten mitkommen!!!!

      Die alte Dame saß an dem blank polierten, schlanken Kirschholztisch und schenkte mir, ihrer Ex-Schwiegertochter, Tee nach. Karla tobte draußen auf dem englischen Rasen herum und begann ihre Füße in den Zierteich zu stecken.

      Käthe sagte: "Na, was sagst du dazu Luise ...?" Und: "Oh schau mal was Karla da macht, ich muss mal eben raus ... ."

      So hatte ich also Zeit zu überlegen, während Käthe mit Karla draußen kämpfte. Was sollte ich schon dazu sagen, vielleicht den blöden Spruch, wer kann dazu schon nein sagen? Ich wollte, und wie ich wollte.

      Die lila getönte, sorgfältig gelegte Frisur meiner Ex-Schwiegermutter war durch das Gerangel mit ihrer Enkelin völlig in Unordnung geraten. "Also was ist, kommt ihr nun mit?", fragte Käthe, als ich neben ihr im Garten stand.

      Ich nahm ihr meine rot-verschwitzte, fürchterlich trotzige und wie am Spieß brüllende Tochter ab und sagte: "Wann können wir fliegen?"

      Koffer ließen sich ganz schnell packen, vor allem, wenn man das Bedürfnis hatte, einfach nur herauszukommen, aus der Öde, der Leere und dem freien Fall. Chaotisch war ich zwar, dass musste ich zugeben, aber eines wusste ich aus unzähligen Reisen zuvor, für Ferien musste man in erster Linie drei Dinge unternehmen, die zwingend mit dazugehörten: Die Krankenkarte mitnehmen, an Creme gegen Mücken denken, und Sonnenöl kaufen.

      5. Kapitel

      "Fasten your seat belts, schnallen sie sich bitte an, ... . Wir erreichen bald Palma de Mallorca." Diese allbekannte Ermahnung drang nur diffus in meine Ohren.

      Lieber, lieber Gott ich will auch all meine Sünden bereuen. Dass ich Denis damals nicht geheiratet hatte, dass ich mein Studium nicht beendete, und dass ich in den vielleicht letzten Stunden meines Todes fürchterlich beschwipst war vom Sekt, den ich mir an Bord der Maschine bestellt hatte. Arg wackelte und zitterte das Flugzeug dem Flughafen entgegen, und meine Seele fuhr wegen der ach so nahen Höhe Achterbahn.

      Nach einer wie mir schien endlosen Zeit erreichte das Flugzeug seinen Hafen, nicht ohne vorher dreimal aufzusetzen. Schweißgebadet wischte ich mir meine brünetten Locken aus der Stirn und sicherlich die Hälfte unserer Mitreisenden atmeten erleichtert mit mir auf, als wir die Gangway hinunterstiegen, um zum Bus zu gehen. Jetzt war alles da: Der Wind, der nach Salz schmeckte, die Frühlingssonne und das Gefühl nach ewig langer Zeit wieder mitten im Leben zu sein.

      Wind rauschte in den Palmen. Bunte Sträucher, sorgfältig gepflegt, verschönerten die Rasenfläche. Und Karla, die ja aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen war, und eine anstrengende Reise hinter sich hatte, tobte mit zehn anderen Kindern um den Swimmingpool herum. Als wäre sie schon immer hier gewesen. Und hunderte goldener Sonnenlichter auf dem klaren Wasser des Schwimmbeckens tobten mit. Käthe und ich dagegen waren einfach nur müde und erschöpft und hatten es uns auf dem Balkon unseres Appartements gemütlich gemacht. Wir schauten auf das tiefblaue Wasser und sogen die unzähligen Düfte der Pflanzen und Menschen auf. Endlich, endlich war ich auf der spanischen Insel. Am Swimmingpool stand geschäftig nun ein netter Mensch, der mit einem Netz durch das Wasser fuhr. Spatzen pickten die Brotkrumen unter den Tischen auf. Braun gebrannte Touristen lagen auf weißen Liegen unter blau-weißen Sonnenschirmen an der Swimmingpool-Landschaft. Und alles war so ruhig und beschaulich.

      Aus der Hintertasche meiner viel zu dicken Jeans holte ich ein Haarband und band meine Locken zu einem Zopf zusammen. Glücklich war ich wie eine Königin, die ein Diadem geschenkt bekommen hatte. Für zehn Tage konnte ich alle meine Sorgen vergessen.