Aufrichtigkeit.“
„Aufrichtigkeit?“ stammelte Alain zweifelnd. Sein Blick war forschend, die Pupillen plötzlich ganz dunkel.
„Planen wir nicht, werden wir verplant. Kümmern wir uns nicht, dann verkümmern wir. Im Glück wie in der Trauer, in der Niederlage wie im Erfolg, ist die persönliche Aktivität ausschlaggebend für deine Gefühle. Du musst dich selbst einbringen um zu leben, letztendes um zu überleben.“ Vertrauensvoll klopfte Bernard seinem Schützling auf die Schulter.
„Du schaffst das schon. Übrigens“, fügte er noch rasch hinzu, „was ich dir heute erzählt habe bleibt unter uns. Kein Mensch weiß davon, nicht einmal deine Mutter. Dein Vater hatte es gewusst. Adieu mein Junge, bis Morgen. Mit neuem Tatendrang, neuem Mut, wie es sich für einen Mann gehört!“
Dieses Gespräch hatte vor einigen Wochen stattgefunden. Getröstet und voll Optimismus durchlebte Alain eine beglückende Wandlung seiner selbst. Darum stimmte er auch dem Vorschlag Marie-Louises letztendes zu, das kommende Osterfest noch einmal auf Schloss Vallouchon zu verbringen. Hier wollte er, wie ein Jahr zuvor, ihrer beider Liebe neu entfachen, die altvertraute Leidenschaft anheizen, seiner Marie all ihre schnöden Spielchen verzeihen, schlichtweg glücklich sein.
Das Schicksal hatte es anders gewollt. Marie-Louise verfiel in Gesellschaft der leichtsinnigen Freunde blitzartig in ihr gewohntes Fahrwasser. Sie flirtete, ließ sich ungeniert eindeutige Avancen machen. Sie kompromittierte Alain auf verletzende Weise. Er war geflohen und hatte Isabelle getroffen.
„Wenn es den Schmerz nicht gäbe, könnte man die Freude nicht schätzen.
Vier Jahre später in Wien.
Seit Stunden schon irrte Isabelle in dem kahlen Haus umher. Leere Gardinenstangen, kahle Wände, matte Parkettböden. Vorhänge und Teppiche waren in der Reinigung, Möbel auf kleinstem Raum zusammen geschoben, mit Tüchern und Packpapier abgedeckt. In der weitläufigen Diele hatten die Maler am Vormittag Leitern und Farbtöpfe abgestellt. Morgen sollte mit der Renovierung begonnen werden.
Schweren Herzens hatte sie das elterliche Haus mitsamt Inventar, Ordination- und Privaträumen, an einen jungen Arzt vermietet. Ein Entschluss, den sie bis zum letzten Moment hinausgezögert hatte. Unmittelbar bevorstehende Ereignisse erforderten durchgreifende Maßnahmen. Ein großes Schild prangte an der Eingangspforte. „Neueröffnung der Ordination in zwei Monaten!“
Ob der „Neue“ wohl so tüchtig sein würde wie einst Dr. Steiner, ihr Vater? Sie kannte den jungen Arzt kaum, hatte lediglich einige Male mit ihm telefoniert, ihm dann bei einem kurzen Abendessen den Mietvertrag unterfertigen lassen.
Jetzt zupfte sie an lose hängenden Tapeten, wischte mit einem Lappen über die Glasflügel der großen Wohnzimmertüre, betrachtete mit starren Augen die dunklen Risse im Parkett. Immer wieder kehrte sie in ihr vertrautes Kinderzimmer zurück, wo sie zufrieden und froh war, weil niemand sie störte. Die letzten Jahre hatte sie hier glücklich gelebt.
Seit frühester Kindheit hegte Isabelle den Wunsch, ebenfalls Ärztin zu werden. Der Vater, ein in Wien anerkannter Internist und Diagnostiker, lebte ihr selbstlose Menschlichkeit vor, die Mutter mit Verständnis und Geduld mehrte. Vater meldete häufig Bedenken an.
„Arzt sein ist ein Beruf voll Aufopferung und Selbstaufgabe. Möglicher Weise musst du auf eine Familie, auf Kinder verzichten.“
All diese wohlgemeinten Einwände konnten Isabelle von ihrer vorgefassten Leidenschaft nicht abbringen. Das Lernpensum der Maturaklasse erledigte sie mit Mindestaufwand. Das war auch nötig bei all den Aktivitäten, die sie sonst noch verwirklichen wollte. Ihr Terminkalender glich dem eines Managers. Montag hatte sie seit ihrem sechsten Lebensjahr Klavierunterricht. Später studierte sie auch Gesang. Dienstag und Freitag wurde geritten. Pferde waren Isabelles zweite große Leidenschaft. Mit sieben Jahren hatte sie bereits begonnen. Um Mutters Ängste zu beruhigen, wenn die temperamentvolle Tochter stundenlang durchs Gelände streifte, kaufte sich Papa auch ein Pferd. Er begleitete sie, wann immer es seine Zeit erlaubte. Tosender Applaus bei Wettkämpfen, wenn sie wagemutig über Hindernisse setzte. Angst kannte sie nicht. Mutter meinte bisweilen etwas geschockt. „Ich wäre sehr froh, du würdest dich einmal fürs Schachspielen interessieren!“
Isabelle liebte nun mal das Außergewöhnliche. Mittwoch und Donnerstag jobbte sie mit Eifer. Sie gab Nachhilfestunden, und unterstützte die Freundin ihrer Mutter bei der Aufzucht ihrer vier Sprösslinge. Knochenarbeit, die sie ebenfalls mit bestem Erfolg absolvierte. Immerhin konnte sie sich einen Gutteil ihrer reichlich teuren Reitstunden damit selber finanzieren.
Die Wochenenden waren ausgefüllt mit Lernen, Kuchenbacken und sonstigen Annehmlichkeiten, wie Geburtstagspartys, später Tanzkränzchen beim Hübner im Stadtpark. Nach bestens bestandener Matura schrieb sie sich auf der medizinischen Fakultät ein. Vom ersten Augenblick an war sie eine begeisterte Hörerin, die allen Schwierigkeiten mit Bravour trotzte. Sie büffelte viele Nächte lang, wollte ihrem Vater absolut keine Schande machen.
„Ich habe es geschafft Papa! Du kannst stolz auf dein Mädchen sein“, flüsterte sie jetzt mit tränenerstickter Stimme.
Das Medizinstudium hatte ihr wenig Freiraum gelassen. Vorlesungen bis spät in die Nacht. Anatomie, Biologie, Chemielabor, Physikalisches Institut. Sie war von einer Vorlesung zur anderen geschwirrt, hatte besessen geschuftet, war brillant vorangekommen. In kürzest möglicher Zeit hatte sie ihre Prüfungen abgelegt. Jetzt famulierte sie im AKH, dem größten Krankenhaus Wiens, verbrachte viele Nächte dort. Das Haus stand also wirklich sehr oft leer. Warum überkam sie heute solch entsetzlicher Abschiedsschmerz. Etwas unerklärbar Endgültiges.
Leere Kartons warteten geduldig mit Habseligkeiten vollgefüllt zu werden. Nichts geschah. Ihr Hirn war ausgebrannt, die Glieder unendlich schwer. Warum tat sie sich das an? Sie wollte die Städte ihrer Kindheit doch gar nicht verlassen. Trotzdem schien alles seinen Lauf zu nehmen, unabänderlich, vorprogrammiert.
Schätze aus längst vergangenen Kindertagen, Spieldosen, Puppen, Teddybären, Bilder an den Wänden, all das sollte für immer verloren sein? Sie liebte jedes einzelne Stück, verband unauslöschliche Erinnerungen mit ihnen. Hier war sie zufrieden, unbeschwert, bis zu diesem Herzzerbrechenden Augenblick vor vier Jahren, als zwei Polizisten vor der Tür standen, mit ernster Miene das Schreckliche vermeldeten.
„Ihre Eltern sind heute Morgen bei einem Verkehrunfall auf der Autobahn verunglückt. Ihr Vater starb noch an der Unfallstelle. Ihre Mutter wurde ins Allgemeine Krankenhaus gebracht!“ Ungläubig hatte sie die beiden Männer angestarrt. Sie wollte die Tür zuschlagen, alleine sein. Doch der ältere meinte, man würde sie ins Krankenhaus bringen, wenn sie das wolle. Sie war mitgefahren.
Mutter lag in Verbände gewickelt unter einem Sauerstoffzelt. Zischen und Klopfen erfüllte den Raum. Ein Gewirr von Schläuchen. Lebenserhaltende Infusionen, hoffte Isabelle. Unablässig streifte sie über die blasse Hand der sterbenden Frau. Kalt lag sie regungslos auf dem Laken.
„Mutter, kannst du mich hören. Ich bin es, deine Isabelle. Komm mach die Augen auf, schau mich einen Moment lang an, bitte Mutter!“
Schluchzend wandte sie sich an den eintretenden Arzt. „Wird sie überleben? Mutter ich brauche dich! Lass mich nicht allein!“
Stunden waren vergangen. Isabelle war auf dem unbequemen Stuhl eingenickt. Monotone Signale der Apparaturen. Irgendwann, nach Mitternacht schreckte sie auf.
„Isabelle“, hörte sie die flüsternde Stimme.
„Mutter, bist du wach. Kannst du mich hören?“
Sie blickte in gebrochenen Augen einer sterbenden Frau. Die Lider flatterten. Mühsam hob Mutter die blasse Hand an die Wange ihrer geliebten Tochter, lächelte. Ihre Finger berührten sich erst zaghaft, dann immer heftiger. Ein verzweifelter Kampf. Sie fühlte, dass Mutter ihr etwas sagen wollte. Die Lippen formten sich zu Worten, kaum hörbar, schließlich doch verständlich.
„Isabelle, du musst stark sein. Du schaffst es mein Kind. Paris. Suche Marie-Louise de Valloir. Sie ist…. «
Kraftlos sank die sterbende Frau in