Kurt F. Neubert

Karl Hellauers Wandlung im Zweiten Weltkrieg


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heißt Abschied nehmen

      Der letzte Tag seines zivilen Lebens – es war ein Sonntag – entstieg einer milden Frühlingsnacht. Der Himmel, wolkenlos, verkündete einen heißen Tag. Hoch im Äther jubilierten Lerchen. Im Gebüsch vor Karls Fenster tschilpten aufgeregt muntere Spatzen. Schwalben schossen Futter suchend durch den weiten Domänenhof.

      Nach einem gemütlichen Frühstück mit der Mutter und den Geschwistern zog es Karl zu den Großeltern väterlicherseits. Die Eltern der Mütter waren verstorben. Langsam ging Karl durch die Straßen. Die Vormittagssonne schwebte schon dem Zenit entgegen. Heiß brannten ihre Strahlen aufs Land. Vor der Kirche, zur Kirchgasse hin, zog der Duft von Linden, der sich mit den scharfen Gerüchen des Schafstalls vermengte, in Karls Nase. Zwei Amseln, auf einem Grasstück hüpfend, flatterten angesichts Karls Näherkommen davon.

      Karls Blick ging in die Ferne, wo hinter dem Ort das Goldgrün der Hügel und Berge leuchtete. Die Sehnsucht, dort hinauf zu wandern musste er sich heute versagen. In die Kirchgasse einbiegend, stand er wenige Augenblicke danach vor dem Haus, in dem die Großeltern wohnten. Mit gemischten Gefühlen betrat er den Hof. Der Großvater, ein großer, stattlicher Mann, der einst Hünenkräfte besessen, stand vorm Kaninchenstall und fütterte. Die Großmutter, rundlich, mit offenem gütigem Antlitz, das stets warm leuchtete, saß im Schatten des Hauses und strickte. Bei Karls Erscheinen zog ein helles Aufleuchten in ihre dunklen Augen. Sie legte das Strickzeug zur Seite und rief: „Opa, Karli ist gekommen!”

      Sie stand auf, umarmte Karl und drückte ihn fest an ihre Brust.

      Leise sagte sie zu ihm: „Es ist schön, mein Junge, dass du uns noch einmal besuchen kommst!” In ihren Augen schimmerten Tränen. Der Großvater verriegelte den Kaninchenstall und trat zu den beiden. Strahlend sagte er zur Großmutter: „Nun lass den Karli mal wieder los. Du erdrückst den Jungen noch, bevor er Soldat wird.” Auch er schloss seinen Enkel herzlich in die Arme. In seinem schmalen Gesicht traten die Wangenknochen seit einiger Zeit immer stärker hervor. Sein Kaiser-Wilhelm-Bart war aber wie eh und je gezwirbelt. Die Männer setzten sich zur Großmutter auf die Bank. „Schön, mein Junge”, meinte der Großvater, „dich noch einmal zu sehen, denn man weiß ja nie, was im Krieg alles passieren tut.”

      „Male den Teufel nicht an die Wand!” sagte die Großmutter zornig. Ihre Stimme zitterte, als sie erregt fortfuhr: „Denk doch nur an unseren Paul, der in seinem achtundzwanzigsten Lebensjahr von blutiger Hand in Polen gemordet wurde. Und für wen?”

      Betretenes Schweigen folgte. Auch wenn die Großmutter elf Kindern das Leben geschenkt hatte, war ihr doch jedes Kind ans Herz gewachsen. Unfassbar war daher der Tod des zweitjüngsten Sohnes.

      Karl konnte die Verbitterung der Großmutter verstehen. Auch wenn die Familie groß war, so waren sie immer ein Herz und eine Seele gewesen. Es gehörte bis zu Kriegsbeginn zur Selbstverständlichkeit, dass die Kinder und Enkel sich an den Sonntagnachmittagen bei den Großeltern einfanden, um Kaffee zu trinken, zu plaudern, Skat zu spielen oder einfach nur dabei zu sein. Die Enkel spielten oder tollten herum, hörten Grammophon oder lauschten den Witzen, die Onkel Gustav lachend erzählte.

      Nach einem kurzen Schweigen erzählten die Großeltern von ihrem harten und entbehrungsreichen Dasein. ,Nun müssten sie mit Bitternis erleben’, äußerte sich Großmutter, ,dass nicht die Alten sterben, sondern die Blüte der Jugend auf den Schlachtfeldern sinnlos verreckt.’

      „Und warum das alles?” fragte die Großmutter mit hochrotem Kopf. Ihre Antwort hatte sie auch sofort parat: „Weil die Politiker der Welt unvernünftig sind und sich nicht einigen können.”

      Großvater kniff die Augenlider Spalt breit zusammen. Er stieß Karl an. „Das ist Großmutters letzte Weisheit”, meinte er gelassen. „Von großer Politik versteht sie nichts, wie fast alle Frauen. Aber sie sind gern feurige Scharfrichter. Wir, mein Junge, sind die Söhne des Vaterlandes. Unsere Aufgabe ist es, mit Leib und Seele die Heimat zu verteidigen und gehorsam unsere Pflicht zu erfüllen. So war es schon beim Kaiser, als ich treu gedient habe. Ich war ohne Furcht. Sei auch du ein tapferer Junge.” Zufrieden strich er seinen Kaiser-Wilhelm-Bart.

      Großmutter warf den Kopf zurück. Ihre Augen funkelten zornig.

      „Und das ist deines Großvaters Weisheit: Untertan zu sein und zu gehorchen! Es zerreißt mir fast das Herz, unsere Kinder für einen sinnlosen Krieg opfern zu müssen. Dazu haben wir Frauen die Kinder doch nicht zur Welt gebracht.”

      Karl zog sie an seine Brust und küsste ihre Stirn. „In kurzer Zeit, Oma”, tröstete er sie, „kehre ich mit den Siegern nach Hause zurück. Aber erst einmal verlasse ich Volkstedt, um als Patriot und Panzersoldat mitzuhelfen, den Krieg zu gewinnen.”

      „Junge, es ist doch entsetzlich, wenn einem Kugeln um den Kopf sausen und von allen Ecken starrt dich der Tod an … Der Krieg ist ein Riesenunglück, weil er nur Elend und Jammer bringt.”

      „Oma, wir deutschen Patrioten dürfen keinesfalls knieweich werden. Der Geist, der unser Volk für einen siegreichen Feldzug begeistert, fordert auch meinen selbstlosen Beitrag. Angesichts der feindlichen Bedrohung sind unsere jugendlichen Seelen in heiliger Pflicht entbrannt, um das Vaterland allseitig zu schützen.”

      In diesem Augenblick läuteten die Glocken der Kirche zum Gottesdienst. Weithin hallten sie anschwellend und kraftvoll tönend durchs weite Tal. Da Karl die Absicht hatte, noch einmal den Gottesdienst zu besuchen, verabschiedete er sich in aller Herzlichkeit von den Großeltern.

      Ein kühler, erquickender Luftzug schlug Karl in der Kirche entgegen. Seine Schritte verhallten in der Stille des Kirchenschiffes. Er zwängte sich in eine leere Bank. Wie an allen Sonntagen waren fast nur Frauen und Kinder zum Gottesdienst erschienen. Ihr Gebet galt den fernen Vätern, Söhnen und Brüdern.

      In die Stille nach dem letzten Glockenschlag, ertönten die gewaltig brausenden Klänge der Orgel. Wie vom klaren Himmel kommend, rauschten die empor schwellenden Melodien in die Herzen der Besucher. Tief bewegt lauschte Karl den seligen Tönen, die, das Göttliche verkündend, quellend in seine Seele drangen. Karl schien in der Flut der jubelnden, unvergänglichen Orgelklänge zu versinken.

      Für einen Augenblick verstummte die Orgel. Sekunden banges Schweigen. Aber schon erhob das Kircheninstrument erneut die Stimme, leis und zart, einem göttlicher Hauch gleich, schwebte der Klang wie silberhelles Licht durch die Weite des Kirchenraumes, brach sich schwingend am hohen Gewölbe und stieg farb-und nuancenreich, gleich einem zartem Engelschor, schlicht und anrührend herab. Welch ein Genuss! Welche Erhabenheit! Karl stockte der Atem.

      Seine Blicke gingen zum Superintendenten, der die Kanzel bestiegen und mit einer Predigt begonnen hatte. Mit seiner sonoren Stimme zitierte er aus dem Evangelium des Matthäus: „Und Jesus Christus der Herr sagte: ,Ihr sollt nicht wähnen, dass ich kommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht kommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert’. (Kapitel 10, Vers 34).”

      Die strengen Augen des Superintendenten suchten die Blicke seiner Schäfchen, bevor er weitersprach. „Und nach diesem Evangelium handelt unser alles geliebter Führer Adolf Hitler. Das Wort des Herrn ist auch seines. Er hob das Schwert des Herrn auf, mit dem Ziel, das Böse dieser Erde zu züchtigen und auszumerzen. Wie aber wollen wir der Feinde giftige Zähne ausbrechen, wie ihre Tyrannei tilgen, wenn nicht durch das Schwert!”

      Karls Gedanken schweiften ab. Seine Augen folgten dem Sonnenlicht, das schräg durch die Kirchenfenster fiel und goldfarben auf die Bänke und den Fußboden floss. Unter dem Lichteinfall erstrahlte plötzlich das Bild des Gekreuzigten in den schönsten Farben. Voller Bewunderung verweilten seine Augen auf dem Gemälde.

      Der Gottesdienst ging allmählich zu Ende. Noch einmal erklang wohltönend die Orgel. Unfassbar, welche Kraft und welch göttliches Feuer dem wundervollen Instrument zu entlocken war!

      Karl strebte dem Ausgang zu. Seine Seele hatte Kraft getrunken. Zufrieden schlenderte er nach Hause.

      Den Nachmittag verbrachte er mit seinen besten Freunden, dem Fritz, dem Paul und dem Heinz in der Schenke „Zum Frankenkrug“. Nachdenklich, Karls Abschied vor Augen, kramten sie ihre Kinder und Jugenderlebnisse hervor.