Kurt F. Neubert

Karl Hellauers Wandlung im Zweiten Weltkrieg


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tauchte Margot Irrgang, ein sechzehnjähriges Mädchen, in derselben Straße wie Karl wohnend, vor ihm auf. Sie war sehr hübsch, hatte eine fabelhafte Figur, schwarzes Haar und dunkle Augen, die bei Tageslicht frisch gewaschenen Brombeeren glichen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet. Sie streckte ihre schmalen Hände Karl entgegen, umfasste seine Unterarme. Ihre Finger, die sich sonst im Klavierspiel übten, hatten sich festgekrallt, vibrierten und verströmten Wärme.

      „Grüß dich, Karli”, flötete sie. Die Blicke ihrer Brombeeraugen suchten Karls Augen. Und ohne seine Grußerwiderung abzuwarten, fragte sie nachdenklich: „Stimmt es, Karli, dass du morgen früh zu den Soldaten einberufen wirst?”

      „Es stimmt”, entgegnete Karl barsch und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, denn ihr Auftauchen passte ihm ganz und gar nicht. Sie riss Karl aus der erregenden Spannung, in die ihn der Film versetzt hatte. Außerdem wollte er in den letzten Stunden vor der Abreise allein sein. Und das sagte er ihr in fast verletzenden Ton. Danach fragte er: „Wünscht die Dame sonst noch was?”

      Sie lachte nur, lachte die Tonleiter hinauf und herunter, ihn damit entwaffnend. Nur langsam hatte sie sich beruhigt, dann säuselte sie: „Du bist mir schon ein seltsamer Kauz, erst hängst du mir die Schwarze Rose an, und nun erhebst du mich auch noch in den Rang einer Dame. Was ist los mit dir?”

      „Ich wollte am heutigen Abend allein sein, verstehst du das nicht?”

      Sie schnurrte wie ein Kätzchen. „Aber Karli, am heutigen Abend solltest du nicht allein sein; ich werde dir die letzten Stunden versüßen. Auf dem Nachhauseweg sollten wir noch ein wenig plaudern. Dabei ich werde dir meine geheimsten Gefühle offenbaren.”

      „Welche geheimen Gefühle?”

      Margot schmiegte sich fest an Karl. Er war verwirrt. Ihre Zähne, Perlen gleich, schimmerten ihm hell entgegen. Sie näherte ihren Mund seinem Ohr. „Karli”, raunte sie, „erinnerst du dich noch an das Weihnachtsfest und die HJ-Veranstaltung von 1939, auf der du mich Schwarze Rose genannt hast?”

      „Ich erinnere mich sogar noch sehr genau daran”, flüsterte Karl, „denn das war für mich ein bedeutendes Ereignis und Erlebnis. Erstmals konnte ich öffentlich zeigen, was in mir steckt.”

      Auf jener Weihnachtsfeier hatte Karl im Rahmen einer Veranstaltung der Hitlerjugend einige Zaubertricks vorgeführt, die Bewunderung bei den Zuschauern hervorgerufen hatten. Zum Abschluss und als Höhepunkt verwandelte er einen roten Würfel in einen blauen und den blauen in einen roten. Zur Erhöhung der Spannung, erzählte er dem Publikum die Sage von Herkules und seiner Zauberkraft aus der griechischen Mythologie, die ihm zugeschrieben wird. „In Griechenland”, berichtete Karl, „war es im Altertum Brauch, bei ernsthaften Vergehen das Urteil über Tod und Leben in die Hände der Götter zu legen. Dazu verwendete man schwarze und weiße Steine. Es ging darum, den Gebrandmarkten zu verdammen oder als unschuldig zu erklären. Es begab sich zu jener Zeit, dass ein Liebling der Götter, Myskeles, vom Tribunal wegen eines Vergehens für schuldig befunden wurde. Aber nicht wie üblich wurden schwarze und weiße Steine in die Urne geworfen, sondern nur schwarze. Das hieß: Myskeles soll sterben! Doch ein Wunder geschah. Als die Richter die Urne leerten, waren nur weiße Steine darin. Herkules hatte kraft seiner Fähigkeiten die schwarzen in weiße Steine verwandelt.”

      Um nun ebenfalls eine Verwandlung, aber von farbigen Würfeln vornehmen zu können, hatte Karl dem Publikum verkündet, benötige er dazu zwei jungfräuliche Mädchen. Er bat die blonde Ruth Wenglor und die schwarzhaarige Margot Irrgang auf die Bühne. Als beide mit ihren vierzehn Jahren im hellen Rampenlicht standen, glühten ihre Wangen. Nun reichte Karl jedem Mädchen einen Würfel, den er vor aller Augen zuvor in eine Zeitungsseite eingewickelt hatte. Um nachzuprüfen, ob Ruth den roten Würfel in den Händen hielt, riss er ein Loch in die Zeitung. Jeder sah das Rot leuchten. Gleiches tat er mit dem Würfel in Margots Händen. Die Mädchen postierte er am Bühnenrand, gut zwei Meter voneinander entfernt. Karl stellte sich dazwischen, legte ihnen die Hände auf die Schultern und begann einen Zauberspruch aufzusagen. Zum Schluss hob er seine Stimme und zelebrierte: „Kraft meiner einzigartigen Fähigkeiten, feste Körper energetisch umzuwandeln, transportiert dieses Mädchen, die ich Schwarze Rose nenne, meine Energie in den blauen Würfel, damit er rot wird.” Gleiches sprach er zur Verwandlung des roten Würfels zu Blondchen, wie er Ruth nannte.

      Beifall brandete auf als die Mädchen die Würfel aus den Zeitungsblättern auswickelten – tatsächlich, die Würfel waren vertauscht.

      Lächelnd sagte Karl: „Diesen vergnüglichen Abend, meine Liebe, werde ich wohl niemals vergessen. Auch den Namen nicht, den ich dir im Überschwang meiner Gefühle gegeben habe. Weißt du, es war Balsam für meine Seele, wie ich dich und Ruth nutzen konnte, um den Dorfbewohnern den Trick von der Umwandlung der Würfel vorführen durfte.”

      „Du bist ein Biest, ein gemeiner und hinterhältiger Kerl”, zischte Margot und öffnete dabei die Arme. Sie umarmte ihn. „Weißt du, was an jenem Abend mit mir geschah?”

      Karl schüttelte den Kopf. „Woher soll ich das wissen? Ich kann weder Gedanken lesen noch in ein Herz sehen.”

      Margots Stimme nahm einen dunklen Klang an, als sie aufgewühlt flüsterte: „Karli, ich hoffe, du verstehst mich, wenn ich meine innersten Gefühle vor dir ausbreite. Auf diese Stunde hab ich lange gewartet.”

      Ihre Finger krallten sich in seine Arme. Ein Blick zum Himmel ließ Karl erkennen, dass sich die Nachtschwärze vollständig über das Dorf gesenkt hatte. Sie waren nur noch vom Licht der flimmernden Sterne und der Stille der Nacht umgeben.

      Nach tiefem Durchatmen sagte Margot Dinge, die Karl noch nie von einem Mädchen gehört hatte. „An jenem Weihnachtsabend, Karli, fiel ich in einem Rausch. Ich begehre dich. Seitdem gibt es nur noch die Liebe zu dir. Du im Rampenlicht – das entzückte und verzauberte mich. Ich liebe dich, Karli. Seit diesem Abend sind die anderen Jungs im Dorf nur noch Luft für mich.”

      Bei diesem Geständnis erstarrte Karl. Zum Teufel mit der Liebe. Er liebte sie mit keiner Faser seines Herzens. Was sollte er ihr antworten? Was wusste er schon vom Seelenleben eines heranreifenden Mädchens, von ihren Träumen, der Glut ihres Herzens und ihren Wünschen? – Nichts! Ahnungslos suchte er nach einer Antwort.

      Der Duft von Margots Haar kitzelte seine Nase und erzeugte ein Wirrwarr in seinem Kopf. Karl überkam ein Gefühl völliger Hilflosigkeit. Dieses Mädchen, mit der er oft unbekümmert manche Stunde verbracht hatte, sprach plötzlich über ihre Liebe zu ihm. Aber je länger er darüber nachdachte, desto klarer erkannte er, er liebte sie nicht. In seinem Herzen lebte eine andere, lebte die schöne Unbekannte aus dem Stadtpark.

      Nach Augenblicken erregten Herzschlags sagte Karl: „Margot, du bist ein großartiges Mädchen, ein lieber Kerl. Dich hat die Natur zu einem sehr hübschen und faszinierenden Geschöpf aus Fleisch und Blut gemacht. Ich mag dich. Doch Liebe! – Margot, wohnt nicht in mir. Dort wohnt eine andere, ein Mädchen aus der Stadt. Sieh mal, Kleines, du weißt, mehrere Jungs aus dem Dorf sind hinter dir her. Sie heben ihr Antlitz dir entgegen und würden sich glücklich schätzen, deine Liebe zu erringen.”

      Da tropften Tränen aus ihren Augen auf Karls Hände. Maßlos enttäuscht schluchzte sie und flüsterte: „Karli, kannst du mich nicht ein wenig lieb haben?“

      „Margot, so herb es auch klingen mag, Liebe lässt sich nicht erzwingen. Bitte, du kleine Törin, ich mag dich sehr, und es war immer angenehm, mit dir über Gott und die Welt zu reden … Nur, Liebe, Kleines, ist nicht in meinem Herzen.”

      Margot löste ihre Arme. Sie wischte sich die Tränen ab. Karl sah die Feinheit ihrer Hände im Sternenlicht. Erregt antwortete sie: „Die anderen Bengels aus dem Dorf kannst du dir an den Hut stecken. Das sind Kerle, die mir hinterher laufen wie Dorfköter einer läufigen Hündin. Auf die kann ich verzichten. Außerdem könnte ich sie dressieren wie Zirkuspferde. Ich mag eben nur dich!”

      Um der Tücke des Zufalls aus dem Weg zu gehen, warf Karl einer inneren Stimme folgend ein: „Margot, vielleicht ist deine Liebe nur eine kindliche Verliebtheit. Damals hat dich der kleine Magier mit seinen Zaubertricks in die Irre geführt. Du hast dich blenden lassen und verrannt.”

      Margot