Geschwindigkeit stark verringernd, rollte der Zug langsam in den Anhalter Bahnhof ein. Plötzlich knirschten und quietschten die Bremsen, und ruckartig, Menschen und Gepäck wild durcheinanderwirbelnd, blieb der Zug stehen. Krachend flogen Türen auf. Nun entstand ein einmaliges Geschiebe und Gehetze. Wie planlos schwirrte alles durcheinander. Unfassbar für Karl war das hektische Treiben. Rufe hallten laut über die Menge; Hände winkten, Zeitungsverkäufer schrien; Kofferträger boten ihre Dienste an; Elektrokarren mit Koffern, Kisten und Postsäcken beladen, fuhren die Bahnsteige entlang. Dazwischen lebhafte Begrüßungen, Leute fielen sich Tränen überströmt um den Hals.
Fasziniert und hingerissen vom unbekannten Fluidum eines Großstadtbahnhofs, folgte Karl der Menge zum Ausgang. Einen Bahnbeamten bat er um Auskunft, wie er nach Neuruppin gelange.
Endlich stand Karl im Herzen des Vaterlandes. Von hier aus, so glaubte er, sollte nach des Führers Willen die Welt neu geordnet. werden. Nur die göttliche Vorsehung konnte Adolf Hitler auserwählt haben, damit er die Geschicke Deutschlands in die Bahnen eines triumphalen Aufstiegs lenke. Vor Aufregung klopfte Karls Herz plötzlich heftiger. Für einen Augenblick rührte er sich nicht von der Stelle. Er genoss das Gewimmel der Straße, genoss die brausenden Geräusche der Busse und Personenkraftwagen, genoss das Rumpeln und Quietschen der Straßenbahn; schaute entzückt auf das gewaltige Häusermeer, über dem sich ein strahlend blauer Himmel erhob.
Langsam ging er nach rechts, bestaunte prächtige Bauwerke aber auch plumpe Häuser mit verschmutzten Fenstern, die lehmfarben vor sich hindröselten. Zitternd stand über dem Häusermeer die Luft wie in einem brodelnden Kessel. Karl aber ließ sich treiben. Noch hatte er Zeit. Ab und zu blieb er stehen, betrachtete die Fülle der Auslagen in Geschäften. Vor dem Portal eines großen Hotels erstaunte er beim Anblick eines älteren Portiers, weil der in seiner Uniform mit den goldenen Schnüren und der Prunkmütze einem Operettengeneral glich. Mein Gott, dachte er, was muss dieser Mensch wohl erleiden.
Im gemäßigten Tempo ging Karl weiter, schritt über den Potsdamer Platz und erreichte die Straße Unter den Linden. Pfeilgerade führt sie zum Brandenburger Tor. Karl bestaunte die Schönheit der Gebäude, ihre Architektur, die Feinheit und Eleganz. „Überwältigend”, dachte er. Ein wenig närrisch folgten seine Augen den flanierenden Frauen und Mädchen, die in leichter Sommerkleidung den schönen Sonnentag genossen. Er spürte in allem den einzigartigen Charme dieser Stadt. Alles war umduftet von den Linden. Und er wünschte sich in jener Stunde, öfter in Berlin weilen zu dürfen.
Auf die Uhr blickend, stellte Karl fest, dass er sich sputen musste, um den Lehrter Bahnhof zu erreichen. Kurz davor, im Schatten einzelner Bäume, erreichte er einen jungen Burschen seines Alters, der wie Karl einen Persil-Karton unter dem Arm trug. Dieser wendete den Kopf und fragte, das sächsische nicht verleugnend: „Entschuldige, Kamerad, wo gehst’n hin? Auch zu den Soldaten?”
Seinen Schritt verkürzend, antwortete Karl: „So ist es! Ich habe mich in Neuruppin bei den Panzern zu melden.”
„Herrjemine”, rief der Junge Mann aus, „da muss ich ja auch hin. Gönmer da nich zusammen fahr’n?” Karl lächelte und sah auf den Einmetersechzigburschen herab, und sagte seinen Namen. So lernte er den achtzehn Jahre alten Harry Kleinschmidt aus Dresden kennen, der sich nicht freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hatte, sondern gezogen wurde. Sein feines Gesicht trug die Spur einer Blässe, die Karl auf Blutarmut zurückführte. Über den schönen blauen Augen des Dresdners wölbten sich geschwungene Augenbrauen, die einem Mädchen zur Zierde gereicht hätten. Er trug sehr kurz geschnittenes blondes Haar. Im Zug sich gegenüber sitzend, kamen sie sich näher. Auch wenn die körperliche Konstitution Harrys schwächlich wirkte, so besaß er doch eine Stimme, die hell und kräftig war. Harry plauderte ununterbrochen. Und er besaß das einzigartige Talent, seine Heimatstadt, die Herder einst „Elb-Florenz” genannt hatte, in den schillerndsten Farben darzustellen. Große Freude hatte Harry erfasst, als Karl stumm, aber höchst interessiert seinen Worten lauschte.
Zuerst zeichnete er in groben Zügen das Bild der glanzvollen Geschichte Dresdens bis ins 19. und 20. Jahrhundert. Dabei hob er besonders das Wirken August des Starken in der Entwicklung von Kunst und Kultur hervor. Förmlich in Verzückung war er geraten, als er vom Kunstgenuss berichtete, den der Besucher erlebe, wenn er den Zwinger, die Brühlschen Terrassen, das Grüne Gewölbe, die Semperoper, die Gemäldegalerie und die großartigen Kirchen besichtige.
Und sein Schwärmen fand kein Ende. Schon erzählte er verzückt von Raffaels Gemälde: der Sixtinischen Madonna. Er mochte nicht aufhören, die Schönheit, Harmonie und den ausgewogenen Bildaufbau zu erklären, der die Seele wie kaum ein anderes Gemälde zum Schwingen bringe.
Auf Karls Frage, woher sein phänomenales Wissen stamme und welchen Beruf er habe, antwortete er: „Von Beruf bin ich Bau-und Maschinenschlosser; und meine bescheidenen Kenntnisse habe ich über das Elternhaus, die Schule, durch unermüdliches Lesen und nicht zuletzt durch den Besuch der Museen, der Kunstsammlungen, der Schlösser, der Galerien, sowie beim Studieren der Architektur der einzelnen Kunstepochen erworben.”
So war die Zeit schnell vergangen. Der Bahnhof von Neuruppin kam in Sicht. Sie stiegen erwartungsvoll aus.
Auf dem Weg zur Kaserne fragte der Dresdener zaghaft, ob er weitere Details seiner Stadt Karl darlegen dürfe. Karl war damit einverstanden.
3. Kapitel
Ankunft in Neuruppin
Auf dem Weg zur Kaserne waren Karls Gedanken noch immer bei der lieblichen Stadt Neuruppin, die sich mit seinen schmucken Bürgerhäusern anmutig als südlichster Zipfel der Ruppiner Schweiz darbot. Schon die Überquerung des Ruppiner Sees, der sich weit vom Nordosten bis tief zum Süden der Stadt hinzog, mit seinem üppigen Ufergrün und den purpurnen Sonnengefunkel auf dem wiegenden Wasser, hatte die Phantasie Karls anschwellen lassen. Auch brachen sich in den nahen Fensterscheiben der Häuser grell bunt die Sonnenstrahlen. Und glänzend wie Metall leuchteten die Türme zweier Kirchen.
,Die Straßen mit dem holprigen Kopfsteinpflaster sind zwar nicht die besten’, dachte Karl, ,doch sie werden jeden Asphaltbelag um hundert Jahre überdauern’. Er bewunderte die zahllosen alten breitwipfligen Bäume, deren Blattwerk kühlenden Schatten spendete. Auch die in vielen Vorgärten blühenden Blumen und die breit wuchernden Hecken und Büsche gaben der Stadt ein interessantes Aussehen. Außerdem garantierte das Buschwerk der Vogelschar eine schlichte Unterkunft.
Ein Fuhrwerk, mit müden Kleppern bespannt, zuckelte mühselig über das holprige Pflaster. Der alte Kutscher, sicher eine gute Seele, lief müde neben den beiden Pferden. Er wollte nicht auch noch die eigene Last den Pferden aufbürden. Auf einer kleinen Weide, die schon arg ramponiert war und unter hohen Bäumen lag, spielten Jungen Fußball. Eine Promenadenmischung von Hund, an einen Pfahl gebunden, kläffte heiser die Spieler an. Direkt vor einem Bäckerladen stritten Frauen. Ihr Gezeter, das von spitzen Zungen zeugte, konnten die beiden Neuankömmlinge nicht verstehen.
Auf einer Freitreppe im Garten eines Bürgerhauses saß, wie auf einem Hügel inmitten von Koniferen, ein sehr hübsches Mädchen mit schulterlangem, blondem Haar. Karls Blicke kreuzten sich mit denen der stolzen Schönheit. Für einen Augenblick wurde ihm schwindlig, denn diese Blondine glich fast aufs Haar dem unbekannten Mädchen aus dem heimatlichen Park. Sie lächelte Karl zu. Langsam mit geschmeidigen Bewegungen aufstehend, zuckte um ihre Mundwinkel der Schelm. Schon drehte sie sich um und verschwand in der Haustür.
Indes hatten Karl und Harry das Areal der Kaserne, das nördlich an der Straße nach Alt Ruppin liegt, erreicht. Plötzlich blieb Harry stehen. Mit starrem Blick betrachtete er die Kasernenblöcke hinter einem hohen Eisengitterzaun. Dahinter erhoben sich sonnendurchflutet Kiefern. Harry warf seinen Kopf zurück. Auf seinem Gesicht, das vor Erregung glühte, lag ein merkwürdiger Zug, den Karl nicht zu deuten vermochte.
Unruhevoll und ungestüm brachen plötzlich Sätze aus dem Burschen heraus, die in dieser Zeit einer gefährlichen Art von Hetze glich: „Hier, Karl Hellauer“, sagte er bestimmt, „stehen wir am Ende jeder Freiheitsidee. Hier beginnt der Anfang des Verderbens. Hier, in dieser Kaserne lebt der Ungeist Preußens fort. Hier werden wir in Blöcken eingesperrt und wie räudige Hunde von Barras-Schindern gedrillt und geschunden,