Kurt F. Neubert

Karl Hellauers Wandlung im Zweiten Weltkrieg


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die Bankherren und Junker. Wir sind nicht besser als Schäferhunde, die jeden Befehl ihres Herrn bedingungslos und mit preußischem Kadavergehorsam, auszuführen haben.”

      Wie gelähmt stand Karl angesichts dieser unerwarteten Lästerung der Wehrmacht vor Harry. Dessen Wahnsinnsideen taumelten wie Gift in Karls Kopf. Was dieser Junge soeben geäußert hatte, war der blanke Wahnsinn. Welch außergewöhnliche Ansichten!

      Empört stieß Karl hervor: „Höre, Kumpel, du dichtest der Wehrmacht Willkür, Gewaltherrschaft und Vernichtungswillen an. Du wirfst mit Unrat um dich, als wärest du der Richter über des Führers Plan, mit einem vortrefflich ausgerüsteten Heer Deutschlands Ehre in der Welt herzustellen und die Schande von Versailles zu tilgen. Deine Äußerungen, Harry, sind geradezu hanebüchener Unsinn, – besser gesagt – primitiv und eines Kulturmenschen unwürdig. Mein Gott, wer hat dir bloß solche Scheiße ins Hirn eingetrichtert?”

      Harrys Brauen zuckten. Sein rotfleckiges Gesicht wurde Schweiß nass. Leise und wie abwesend sagte er leise: „Mein Freund, die meisten Deutschen merken nicht, wie die geistigen Militärstiefel des Alten Fritz auf ihrem Schädel lasten. Und unter den Nationalsozialismus wurden die Gelüste des Herrenmenschentums neu aufpoliert, damit noch gnadenloser über das Volk geherrscht werden kann. Wir Deutschen wurden chloroformiert, so betäubt, dass uns die Nationalsozialisten ohne Bedenken in das gefährlichste Abenteuer stürzen konnten: in den Krieg. So ist das, Karl. Ich habe versucht, in meinem Leben stets sittlich zu denken, und wenn es wünschenswert ist, auch so zu handeln. Ich kann nicht kaltblütig einen Menschen töten, der weder mein Feind ist noch mir jemals etwas zu leide getan hat. Aber in der Uniform des Soldaten bin ich gezwungen, das zu tun; erbarmungslos soll ich den angeblichen Feind niedermetzeln.”

      Karls Zorn und seine Wut waren plötzlich abgeflaut. Ihm war jener Onkel eingefallen, von dem er stets ähnliche Ansichten vernommen hatte. Niemand aber hatte ihn bisher verraten oder denunziert. Auch Karl war kein Judas! Mit tiefem Bedauern sah er auf den Dresdener. In dessen Adern floss eben kein Blut fürs Militär, er war ein Hasenherz mit traurigen Augen. In seiner Brust war kein Heroismus, kein Wille für Heldentaten. Karl lächelte in sich hinein: ,Dieser Junge ist eben ein Filzpantoffelheld! Vielleicht ein sentimentaler Romantiker’.

      „Gehen wir weiter”, rief Karl Harry zu. „Gewiss bist du ein guter Mensch, aber ein Angsthase, ohne kalte Entschlossenheit. Die Wehrmacht muss dich umformen. In ihrer Atmosphäre wird Saft und Kraft in dein Herz fließen. In der Ausbildung, Harry, werden deine wunderlichen Vorbehalte wie Schnee in der Sonne schmelzen. Und ich werde an deiner Seite stehen. Warte ab, bald wirst auch du die schwarze Uniform der Panzertruppe tragen und mit allen singen: ,Steige hoch, du roter Adler’ …, wie es in einem brandenburgischen Lied heißt.”

      Der Kleine stand noch immer bewegungslos, wie festgenagelt vor dem Zaun. Er schüttelte traurig den Kopf. „Karl, es geht um sinnlose Opfer für einen Götzen. Und der Adler auf der Uniform ist ein Geier, unter dessen Schwingen wir den Helm festbinden und anderen Völkern den Todesstoß versetzen sollen.”

      Karl schüttelte den Kopf. Sah dieser junge und kluge Mensch denn nicht, wie er die Realitäten der Zeit verkennt. Er hatte so großartig über seine Heimatstadt berichtet; konnte er da nicht begreifen, dass der Führer mit großer Geschicklichkeit die Ehre Deutschlands wieder hergestellt und mit dem vortrefflich gewappneten Heer, der Marine und Luftwaffe das deutsche Volk in den Zenit seiner Erfolge geführt hatte. Warum gingen diese Erfolge nicht in sein Hirn?

      Plötzlich fragte Karl: „Sag mal, warum hast du bei deinen Ansichten den Wehrdienst nicht verweigert?”

      Harry lachte laut auf und sagte, nachdem er sich beruhigt hatte: „Dann hätten mich die Wehrmacht festgesetzt und vor ein Kriegsgericht gezerrt. Und selbstverständlich wäre ich erschossen worden. Und niemandem hätte ich sagen dürfen, wie ich über dieses mörderische System denke. Auch dir nicht.”

      Karl blickte bewegt in Harrys Augen. Dieser schlug vor Verlegenheit seine Lider nieder. Seltsam, dachte Karl, das Schicksal hat mich mit diesem Burschen zusammen geführt und mir die Pflicht auferlegt, fest an seiner Seite zu stehen. Ihm muss die Wurzel des Übels aus dem Hirn gerissen werden. Daher durfte ihm Harry nicht gleichgültig sein. „Sieh es mal so”, erklärte Karl und legte seine Hand auf Harry’s Schulter, „wer soll unsere Heimat vor feindlichen Angriffen schützen, wenn nicht wir Soldaten. Denke einmal an die jungen Helden von Langemarck. Sie opferten ihr blühendes Leben für den Lorbeer des Sieges. Und es ist nun mal ein Naturgesetz: Der Überlebenskampf fordert Opfer.”

      Harry blickte Karl fest an. In seinen Augen stand ein seltsames Glitzern. Fast anklagend erwiderte er: „Denkst du auch an die Mütter, an die Ehefrauen, an die Bräute und Kinder, die durch das gnadenlose Abschlachten ihrer liebsten Angehörigen so bitteres Leid erfahren; und unendlich seelischen Schmerz erleiden?”

      „Auch daran denke ich”, antwortete Karl hart, „die Liebe zum Vaterland ist das höchste Gut, das wir im Herzen tragen. In diese Liebe schließen wir den Führer fest ein, denn er verkörpert heute die Staatsmacht. Wer kein vaterlandsloser Geselle sein will, trägt die Waffe der Wehrmacht voller Stolz und kämpft bis zum Endsieg mit, auch den Tod in Feindesland nicht fürchtend.”

      „Vielleicht”, erwiderte Harry, der sich den Schweiß von der Stirn wischte, „liegt die Kompliziertheit darin, dass du aus anderem Holz geschnitzt bist als ich. In deiner Unbekümmertheit möchtest du ein Held werden, ich aber nicht. Ich liebe den Frieden und die Schöpfung, mein Dresden und die Pracht der Schlösser, der Paläste und Kirchen, samt ihrer Kultur-und Kunstschätze.”

      Während Harry leicht vorgebeugt gesprochen hatte, empfand Karl dunkel, was die Seele des Dresdeners fest einschnürte: die Angst! Der Urtrieb zum Kampf war in seiner Seele verschüttet. Solche Typen liebten den Genuss von Speise und Trank, liebten die Kunst und sich selbst. Sie wichen dem Lebenskampf aus; sie waren sanftmütig, nachgiebig und hassten, wenn es sein musste, die Fehde.

      Schon sprach Harry weiter. „Sieh mal, Karl, du hast dich vom gegenwärtigen Regime einlullen lassen. Hitler und seine Parteigänger nutzen deine Leichtgläubigkeit und deine Gefühle für ihre menschenfeindlichen Ziele. So hast du Partei ergriffen, ohne mit dem Verstande die Tatbestände im Reich zu überschauen. Du hast noch nicht gelernt, in die Tiefe einer Sache zu blicken. Du klebst an der Oberfläche, erkennst nicht, was tatsächlich in der Politik gespielt wird. Der Enthusiasmus für dieses Reich wurde dir wie ein Gift eingespritzt. Begreife, wir werden verkauft um den Preis unseres Lebens.”

      Tatsächlich, dieser Bursche zeigte Farbe. Jedenfalls, so glaubte Karl, wusste er nun, woran er mit Harry war. Der Respekt vor dem Charakter anderer war ihm in der Familie anerzogen worden. Er glaubte, das Zusammentreffen mit Harry war vom Schicksal vorher bestimmt worden. Er dachte mit der Sicherheit eines Berauschten: ,Ich habe den Zufall der Stunde zu nutzen, um ihm die heilige, militärische Mission, die wir Deutschen zu erfüllen haben, nahezubringen. Das ist gut und richtig. Es gilt, den Freund zu überzeugen’. Kurz vor dem Kaserneneingang packte Harry Karl am Handgelenk und flüsterte heiser: „In den Tagen nach der Einberufung wurde mein Schlaf oft von Alpträumen zerrissen. Mich jagten Feldgendarmen. Sie legten mich in Ketten, knebelten mich, stülpten mir einen Kartoffelsack über den Kopf, ich erstickte fast. Dann schlugen sie erbarmungslos auf mich ein. Ich bin laut schreiend erwacht und war in Schweiß gebadet. In solchen Nächten saugte mir die Angst das Mark aus den Knochen.”

      Mitleid stieg in Karl auf. Er wollte diesem Burschen ein wirklicher Freund sein. Wie seltsam! Karl fielen jäh die Worte des gütigen Christus ein: „Seid barmherzig, wie auch eure Väter barmherzig waren. Und richtet nicht, so werdet auch ihr nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet auch ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.” (Lukas 6.36-37)

      Kasernenmilieu

      Schweigend waren sie am Kasernentor eingetroffen. Vor dem Schilderhäuschen stand ein Wachposten. Der Stahlhelm drückte dem jungen Soldaten die Augenbrauen nieder. Sein Gesicht war in Schweiß gebadet.

      Freundlich grüßten beide, zogen ihre Gestellungsbefehle hervor und hielten sie dem Posten unter die Nase. Er murmelte kaum vernehmbar: „Im Wachlokal melden!”

      Gleich