Kurt F. Neubert

Karl Hellauers Wandlung im Zweiten Weltkrieg


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prüfte gerade die Papiere von drei Burschen, die vor Karl und Harry angekommenen waren. Rechts vom Fenster hockten zwei müde Landser, die gelangweilt aus dem Fenster blickten. Aus einem Nachbarraum kam ein Unteroffizier in das Wachlokal. Seine Augen kniffelten gefährlich über die Gesichter von Karl und Harry. Schon zuckte seine Stimme scharf wie ein Schwert: „Warten Sie gefälligst vor der Tür, bis Sie herein gerufen werden!”

      Im Handumdrehen standen beide draußen. In Harrys Augen flackerte Mißmut. „Treffsicherer”, zischelte er, „konnte wohl meine Prophezeiung über den Barras nicht sein! Oder?”

      Karl schwieg verdutzt. Er begriff: Mit diesem Vorgesetzten war bestimmt nicht gut Kirschen essen. Aus dem Wachlokal brüllte eine Stimme: „Die Nächsten!” Unsicher betraten beide das Wachlokal. Die abgefertigten Rekruten huschten fast lautlos an ihnen vorbei. Es war stickig und heiß. Der Gefreite prüfte die Gestellungsbefehle anhand einer Liste. Dann teilte er ihnen mit, sie gehörten der zweiten Ausbildungskompanie an und sie hätten sich dort bei dem Unteroffizier vom Dienst (UvD) zu melden.

      Sekunden später verließen sie die Wache. Noch immer spürte Karl den giftigen Blick des Unteroffiziers im Nacken. Was dieser in seinen Bart murmelte, konnte Karl nicht verstehen. Sofort begaben sie sich ohne Eile zum Kasernenblock der zweiten Kompanie. Tief durchatmend betraten sie das riesige Gebäude. Im dämmrigen Flur schlug ihnen der Geruch von Teer und Pissoir entgegen.

      Fast am Ende des Flures stand eine Zimmertür offen. Das helle Sonnenlicht, das aus dem Zimmer fiel, zeichnete ein leuchtendes Viereck auf die geriffelten Fliesen. Stimmen drangen an ihr Ohr. Bevor sie das Zimmer mit der offenen Tür erreicht hatten, stürmten zwei Rekruten heraus und gingen zur hinteren Flügeltür. Das Zimmer des UvD war schmal und lang. Durch das offene Fenster flutete helles Licht.

      „Sind wir hier beim Unteroffizier vom Dienst der zweiten Kompanie?” fragte Karl energisch. Der untersetzte Unteroffizier, Mitte zwanzig, mit Halbglatze, erhob sich von seinem Stuhl, wölbte seine Brust vor, lächelte freundlich und sagte mit einer Bassstimme: „Herzlich willkommen! Ich begrüße Sie in der zweiten Ausbildungskompanie. Ich hoffe, Sie werden gute Panzersoldaten.” Er strich zufrieden sein Kinn und fügte lächelnd hinzu: „Ich bin Unteroffizier Marks, Gruppenführer im vierten Zug.” Er setzte sich. Karl und Harry gaben ihm die Gestellungsbefehle. Mit seinem dicken Zeigefinger fuhr der Unteroffizier über die Namensliste. Er blickte hoch. „Kleinschmidt, Harry!”

      „Das bin ich.” Harry trat an den Unteroffizier heran.

      „Ah”, murmelte der und betrachtete dabei schmunzelnd Harry von Kopf bis Fuß. „Ein bisschen schmächtig geraten, was?” Gleich darauf bemerkte er, „das macht nichts Kleinschmidt, die Hauptsache, Sie können nach Abschluss der Ausbildung die Kampfwagen-Kanone bedienen.”

      Er schaute nochmals auf die Liste und sagte: „Kleinschmidt, Sie gehören zum zweiten Zug und zur dritten Gruppe. Ihr Zimmer ist 314. Verstanden?”

      „Klar”, erwiderte Harry, ohne die Stimme anzuheben.

      „Das heißt: Jawohl, Herr Unteroffizier! Merken Sie sich das, Kleinschmidt! Sie sind kein Zivilist mehr, der sich äußern kann, wie es beliebt. Begriffen?”

      Sich widerstrebend zusammenreißend, entgegnete Harry: „Jawohl, Herr Unteroffizier.”

      „Sehen Sie, es geht doch.” Der Unteroffizier grinste. Nun war Karl an der Reihe. „Hellauer, Karl”, murmelte der UvD. „Und woher stammen Sie?”

      „Aus der Provinz Sachsen. Aus einem Dorf, das bei Eisleben liegt.”

      „Eisleben”, sinnierte der Unteroffizier, „ist da nicht dieser Luther geboren worden?”

      „Dort ist er auch gestorben.”

      „So, so”, murmelte er, „auch dort gestorben … Ach, hatte dieser Luther nicht auch in Eisleben irgendwelche Thesen an eine Kirchentür genagelt?”

      Unwillkürlich musste Karl lächeln. „Die 95 Thesen über den Ablasshandel, Herr Unteroffizier, hat Luther am 31. Oktober 1517 an der Pforte der Schlosskirche zu Wittenberg angebracht. Daher wird jährlich zum 31. 0ktober das Reformationsfest begangen.”

      „Ist ja toll”, bemerkte der Unteroffizier respektvoll, „was Sie so alles wissen. Sie haben wohl im Religionsunterricht immer gut aufgepasst?”

      „Stimmt!”

      „Na gut, lassen wir der Kirche, was der Kirche gehört. Aber dumm scheinen Sie keinesfalls zu sein. Und das ist gut für die Wehrmacht.” Von der Liste aufblickend, sagte er: „Hellauer, Sie gehören wie Kleinschmidt zum zweiten Zug, sind aber der zweiten Gruppe zugeteilt und liegen auf Stube 317. Sie liegen mit sechs Mann auf einer Stube, und zwei Stuben bilden eine Gruppe. Ihr Gruppenführer ist Gefreiter Windmüller. Alles klar?”

      „Jawohl, Herr Unteroffizier”, erklärte Karl mit fester Stimme.

      Während Karl und Harry die Treppe zum dritten Stock emporstiegen, fluchte Harry leise. Karl fragte, welche Laus ihm über die Leber gelaufen sei. Bissig antwortete Harry: „Ich hatte gehofft, mit dir auf einer Stube liegen zu können. Leider hat der Barras was dagegen.”

      „Das ist doch uninteressant”, suchte Karl ihn zu besänftigen, „die Hauptsache, wir gehören zum selben Zug und liegen auf dem selben Flur. Alles andere erledigt sich doch von selbst.” Schnell nutzte Karl noch die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass der Unteroffizier sehr anständig mit ihnen gesprochen habe und bestimmt ein netter Kerl sei. „Dieser Unteroffizier”, sagte Karl, „müsste doch all deine Zweifel am Barras, wie du die Wehrmacht bezeichnest, ausgeräumt haben.”

      Harry blieb stehen und erwiderte trocken, wobei seine Nasenflügel leicht bebten: „Noch ist nicht aller Tage Abend, Karl. Und wenn ich an den Unteroffizier von der Wache denke, kommt mir der Kaffee hoch.”

      Als beide kurz darauf in der dritten Etage die Flügeltür öffneten, quietschte sie frostig.

      Stube 317

      Einen Augenblick blieb Karl vor der Tür stehen. Plötzlich hatte er ein seltsames Kribbeln im Bauch. Unruhe beschlich ihn. Hinter dieser Tür würde endgültig und unabwendbar für ihn ein neuer, aber doch mit leidenschaftlicher Ungeduld erwarteter Lebensabschnitt beginnen. Was würde er bringen? Es war nur eines sicher: Karl hatte das Abenteuer selbst gewollt und heraufbeschworen, und keiner kannte dessen Ausgang.

      Er gab sich einen Ruck und öffnete mit klopfendem Herzen und kräftiger Hand die Tür. Auf der Schwelle blieb er stehen. Mit gemischten Gefühlen betrachtete er sein künftiges Quartier. Zwei Doppelstockbetten und zwei einzelne Betten, wie sieben Spinde standen eng beieinander im Raum. Um einen Eichentisch standen sechs Hocker. Mit fünf Kameraden hieß es künftig in Gut und Böse zusammen zu leben. Ob das gut ging, aus den verschiedenen Persönlichkeiten mit ihren unterschiedlichen Charakteren in der kurzen Ausbildungszeit eine Kampfgemeinschaft, einschließlich der Kameraden der anderen Stube, zu formen.

      Noch immer stand Karl wie angewurzelt an der Tür und starrte auf den Tisch in der Stubenmitte. Zwei Rekruten lagen auf ihren Betten. Vor dem offenen Fenster stand ein schwarzhaariger, sehr adrett wirkender junger Mann von vielleicht zweiundzwanzig Jahren. Er trat freundlich lächelnd zu Karl. Der Bursche, etwas größer als Karl, hatte eine sportliche Figur. Seine rehbraunen Augen leuchteten auf, als er Karl wie einem alten Bekannten die Hand reichte. Mit Berliner Einschlag sagte er: „Grüß dich, Kamerad. Ich bin Werner Sanftleben aus Berlin-Grunewald.”

      Er verzog sein Gesicht zu einem breiten Grinsen und sagte: „Nun tritt schon ein. Hier bist du unter Gleichen, denen in den nächsten Wochen die Hammelbeine langgezogen werden.”

      Karl rümpfte die Nase, denn balsamische Düfte von einem süßen Parfüm entstieg der Bekleidung Sanftlebens. Karl nannte seinen Namen und erklärte seine Herkunft.

      „So, so”, murmelte Werner, „du kommst aus dem Mansfelder Land, wo Kupferschiefererz abgebaut wird. Bist du etwa Bergmann?”

      „Nein, ich bin Klempner und Installateur von Beruf.”

      Werner zog