Norbert F. Schaaf

Afghanistan, Srebrenica & zurück


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hundert Leute verhaftet. Lager Lapovo.“

      Der Gesichtsausdruck des Greises blieb unverändert. Als hätte ich von einem Flugzeugabsturz in den Anden berichtet, dachte Anica. Berührt es ihn nicht? Oder ist er bemüht, keinerlei Regung zu zeigen aus Furcht, für einen Anhänger der falschen Seite gehalten zu werden? Wer weiß, für wen sein Herz schlägt? Man sah nicht hinter die Stirnen der Menschen, vermochte nicht in ihren südländischen, verbrannten Gesichtern zu lesen, welche Gedanken und Gefühle sich verbargen hinter ihrer äußerlichen Gleichmütigkeit, die sich jäh in hitzige Rage verwandeln konnte. Generationen von sogenannten Balkan-Experten haben ihre mageren Weisheiten für die hochentwickelten Industrieländer zu Geld gemacht auf Kosten des hiesigen Vermögens, das bis vor kurzer Zeit selbst erhebliche Entwicklungshilfe in den noch privilegloseren Ländern rund um den Globus geleistet hat. Sind die Gutsituierten mit ihren Sonden und Satelliten jemals bis unter die Haut dieser Region gedrungen? Sie fliegen zum Mars und wollen das Universum erkunden, von den Gefühlen und Regungen der erdverbundenen Menschen „vor ihrer Haustür“ verstehen sie nichts.

      „Ich lebe noch nicht so lange auf dem Balkan“, sagte sie, „vielleicht berührt mich deshalb alles noch stärker. Vor allem bin ich Reporterin und habe über den Krieg hier zu berichten. Manchmal gerate ich freilich in Situationen, in denen es mir schwerfiel, mich zu beherrschen. Am liebsten griffe ich mir dann eine Waffe.“

      Der Greis blickte sie überrascht an. „Das tut man nur, wenn man sich auf eine bestimmte Seite stellt. In Ihrem Beruf scheidet das aus, soweit mir die Spielregeln bekannt sind.“

      „Ich stehe immer auf der Seite der Gepeinigten“, erwiderte Anica, „und es gibt Spielregeln, die einem den Respekt vor sich selbst nehmen können.“

      Der Alte lächelte schwach. Sieh an, eine kritische Deutsche. Ein Phänomen. Ich bin zu alt, um zu wissen, dass es so etwas gibt. „Ich kann Ihre Gefühle verstehen“, krächzte er hüstelnd, „es ist nicht leicht, mit ansehen zu müssen, wie Leute umgebracht werden, ohne dass man etwas dagegen tun kann. Und Sie sind Deutsche.“

      „Ich bin ein Mensch.“

      Der Alte schwieg, sah sich nach links und rechts um.

      „Bosnische Serben, kroatische Bosnier, Muslimanen, Restjugoslawen“, zählte Anica auf. „Wer wird letztendlich gewinnen?“

      Wieder sah der Greis zur Straße hin. „Ja, Gospodjice“, murmelte er, „Kreuz und Halbmond, alle sind wir in der Hand unseres Schöpfers...“

      Der weißhaarige Greis war freundlich und hilfsbereit, beabsichtigte aber offenbar nicht, sich weiter in ein Gespräch über die Macht von Gott oder der Welt einzulassen. Die Journalistin erahnte, was in dem Alten vorgehen mochte. Nie wusste man in diesem Land, zu wem man sprach, wenn es sich um Ausländer handelte. Hinter ihren glatten, weißhäutigen Gesichtern verbargen sich die Angst vor den kämpfenden Völkern und das gierige Interesse an den eigenen Belangen, das sich an wirtschaftlichem Erfolg orientierte. Am besten trat man den Fremden höflich entgegen und ohne seine Gedanken zu offenbaren, solange sie versuchten, diese Gedanken mit Kapital in ihrem Sinne zu verändern oder mit tödlichen Waffen zu bekämpfen. Die Zeit des echten, ehrlichen Dialogs lag mehr denn je in weitester Ferne.

      „Ich habe Ihnen eine Flasche Campari mit Soda aufs Zimmer gestellt, Gospodjice“, sagte der Alte. Seit Anica ihn einmal darum gebeten hatte, fand sie stets die eisgekühlte Bitterspirituose vor, ob sie spätabends heimkam oder am frühen Morgen. Sie bedankte sich freundlich, stieg unter den trüben Blicken des Greises die Treppe hinauf.

      15 Videobilder

      Die Reporterin fertigte einen Kurzbericht über die Gelynchten an und machte sich dann gleich daran, die Aufnahmen der vergangenen Nacht auf ein zweites Tape zu sichern und die Bilder zu sichten. Noch war sie aufgewühlt, in Schlaf würde sie trotz heftig verspürter Müdigkeit jetzt nicht finden. Sie beobachtete den Monitor, war mit der Qualität ihrer Videoaufnahmen nicht unzufrieden, sie bereitete den Text für die Nachvertonung vor und markierte bereits passende Schnittstellen. Schließlich kontrollierte sie zum letzten Mal einen Beitrag, der via Satellit nach Deutschland überspielt werden sollte. Die Bilder zeigten eine Straße, auf der sich ein unvorstellbares Drama abspielte. Ein LKW stand quer auf ihr und brannte. Andere hatten nicht rechtzeitig anhalten können und waren aufeinandergeprallt. Eine Reihe Granatgeschosse detonierte auf dem Fahrdamm und neben der Landstraße; etliche Männer warfen sich aus dem Führerhaus und von den Pritschen, sie stürzten in Gräben, rannten panisch übers Feld. Aus Panzern wurden sie von Geschützen und Maschinengewehren beschossen. Ein Tank mit der Aufschrift KRALJICA SMRTI, „Königin der Todes“, fuhr auf die Straße und rollte an der Kolonne entlang. Knirschend schob er einen LKW nach dem anderen in den Straßengraben, zermalmte die von den Wagen springenden Männer unter seinen Ketten. Von Schützenpanzerwagen, die den Tanks folgten, sprangen MPi-Schützen ab, schwärmten aus und schossen mit den Maschinenpistolen aus der Hüfte auf alles, was noch Leben zeigte.

      Du weißt, wie das ist, dachte Anica, du willst hinsehen und du willst nicht hinsehen. Sie sah mit jener unauslöschlichen Schärfe, mit der solche Erinnerungen oftmals im Gedächtnis aufblitzten, die vietnamesische Kriegsbilder aus ihrer Jugendzeit in der Kinowochenschau, später im Fernsehen, wo Tote gezeigt wurden, viele Tote, die eng beieinander auf einem Feld oder einer Straße lagen, oft so dicht beisammen, als klammerten sie sich aneinander. Und genau das gleiche absonderliche, halszuschnürende Gefühl überkam sie bei den Illustriertenfotos: Selbst wenn die Bilder gestochen scharf und vollkommen klar waren, war irgendwas überhaupt nicht klar, etwas Verdrängtes, das die Bilder verengte und ihre eigentliche Information verdeckte. Das mochte ihre morbide Faszination gerechtfertigt haben, die sie so lange hinsehen ließ, immer und immer wieder. Damals hatte sie keine Erklärung dafür, doch heute erinnerte sie sich der Scham, die sie empfunden hatte, als betrachte sie ihren ersten Porno.

      Die nächste Einstellung zeigte die von den Serben aufs Korn genommenen, meist waffenlosen Männer über die Straße irren. Nur einige von ihnen gaben, bevor sie selbst tot zusammensackten, verzweifelt ein paar Schüsse ab, doch die meisten von ihnen starben unbewaffnet, der letzten herben Genugtuung eines Soldaten beraubt, im Sterben wenigstens selbst noch zu töten. Flohen sie, schoss man ihnen in den Rücken, hoben sie die Hände, wurden sie in die Brust getroffen.

      Weitere Bilder zeigten Männer, die total von Sinnen herumliefen. Ein Mann kroch auf alle vieren und kotzte eine übel aussehende rosa Masse aus, ein anderer, in Großeinstellung zu sehen, lehnte an einem Baum mit dem Rücken zu der Richtung, aus der immer noch geschossen wurde, und zwang sich, auf das Unglaubliche zu blicken, das gerade seinem Bein zugestoßen war: Knapp unterhalb des Knies war es ungefähr einmal um sich selbst gedreht wie ein groteskes Vogelscheuchenbein. Er sah weg und dann wieder hin, jedes Mal schaute er ein paar Sekunden länger darauf, schließlich starrte er etwa eine Minute hin, schüttelte den Kopf und verzog die Miene zu einem Lächeln, bis sein Gesicht ernst wurde und er endlich umkippte.

      Es war wie bei den Bildern ihrer Jugend: Sie hätte hinsehen können, solange sie wollte, bis ihr die Augen zufielen, und sie hätte immer noch nicht den Zusammenhang gelten lassen zwischen einem abgetrennten Bein und dem übrigen Körper, den Posen und Stellungen, die immer vorkamen – heute wusste sie, dass das „Reaktion-auf-Treffer“ genannt wurde –, Körpern, die zu schnell und gewaltsam in unglaubliche Verdrehungen gezwungen wurden, in absoluter Unpersönlichkeit des Massentodes, der sie einfach irgendwo und irgendwie so liegen ließ, wie er sie verlassen hatte, über Stacheldraht hängend oder wahllos über andere Tote geworfen oder in die Baumkronen hochgeschleudert wie Endzeit-Akrobaten: `Seht her, was der Mensch kann!´

      Auf den letzten Bildern waren die serbischen MPi-Schützen zu sehen, die über drei im Straßengraben liegenden Leichen standen. Ein serbischer Oberleutnant presste ein blutdurchtränktes Taschentuch an seine von einer Kugel zerfetzte Wange, bückte sich und betrachtete interessiert und voller Stolz die Majorsaufschläge des bosnischen Offiziers, der sterbend zu seinen Füßen lag.

      Selbst in der schrecklichsten Vision konnte ein Mensch keine erbarmungslosere Verantwortung empfinden als dieses notgedrungene, dadurch jedoch keinesfalls minder entsetzliche Pflichtbewusstsein, das der Journalistin Anica Klingor jetzt mit der Publizierung dieser Bilder zugefallen war. Ihr war bitterernst zumute,