Norbert F. Schaaf

Afghanistan, Srebrenica & zurück


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gehen ließ, legte sie sich bäuchlings aufs Bett und beobachtete das Rieseln der astralfarbenen Körnchen in der kleinen Sanduhr ihres Geliebten. Die obere Kugel lief leer, in der unteren lag still die kleine, glänzend bläuliche Düne. Obgleich die wirkliche Zeit in der grenzenlosen Weite der Kugel des Kosmos ihren Lauf fortführt, überlegte sie. Spielerisch drehte sie sich auf den Rücken, ließ den Kopf über die Bettkante baumeln. Und was sie dann sah, kam ihr sehr sonderbar vor: Der Sand begann aufzusteigen. Langsam, aber stetig rieselte er aus der unteren Kugel in die obere, als würde die Zeit zurücklaufen. Die Sandkörner schienen schneller zu rinnen, schneller und immer schneller...

      16 Djmal, der Hotelpage

      Ein rollendes, sich näherndes Geräusch war zu hören. Anica schreckte auf. Das leichte Poltern kam vom Flur her von einem Frühstückswagen. Das Dienstpersonal hatte mit der Arbeit begonnen. Größer konnte der Kontrast zwischen Hotelzimmer und Front nicht ausfallen, dachte sie, stellte die Sanduhr mit zwei halb gefüllten Kugeln auf den Nachttisch und öffnete nach einer ereignislosen Weile die Tür. Unmittelbar vor ihr stand der Hotelpage. Dreist sah Djmal ihr in die Augen.

      „Von Unerzogenheit zeugt es“, sagte Anica, „wenn ein Mensch an der Tür horcht.“

      „Schwer ist es für einen stillen Mann“, erwiderte Djmal mit einem leicht unverschämten, aber nicht unsympathischen Grinsen, „ein geschwätziges Weib zu ertragen.“

      „Du kennst also die Heilige Schrift, Djmal“, sagte sie, hob eine Augenbraue hoch. „Na, dann komm erst mal rein.“

      „Mir ist das heilige Buch bekannt“, sagte Djmal und zog die Tür hinter sich zu, „und auch Isa Syrah, von dem diese Verse stammen. Aber ich glaube nicht mehr daran.“

      „Zasto ne? Warum nicht?“

      „Es passt nicht mehr in die heutige Zeit. Das heilige Buch verbietet Abbildungen des Menschen, so wie Sie das machen. Sie schaffen wohl Bilder, jedoch keine Seelen dazu. Nach dem Buch müssten Sie dann im Jenseits zu all den Bildern mühselig die Seelen erschaffen. Würden Sie das etwa glauben?“

      Anica wusste, dass der Islam die regionalen Naturreligionen abgelöst hatte; Mohammed hatte als Erstes die Vielzahl der Götzenbilder zerstören lassen und Abbilder von Lebewesen verboten. Die Journalistin schüttelte den Kopf und zückte den Camcorder. „Wo hast du das gelernt?“ erkundigte sie sich. „In der Schule?“

      „Komme ich ins Fernsehen?“ fragte Djmal aufgeregt zurück, und als die Reporterin hinter der Kamera nickte und unvermerkt das Mikrophon zuschaltete, begann der Junge zu erzählen: „Meine Mutter lehrte mich, als ich klein war: `Wenn du das heilige Buch mit schmutzigen Händen anfasst, wirst du ein Medjed, ein Bär werden´. Ich konnte nächtelang nicht schlafen, grübelte darüber nach, wie es sein würde, ein Medjed zu sein, wie es sich wohl lebe unter dieser Pelzhaut, und dass es vielleicht schön wäre, soviel Kraft zu besitzen. Und dann, nach zögerlichem inneren Entschluss, fasste ich das heilige Buch mit den schmutzigsten Händen an. Meine Enttäuschung war groß, als nichts geschah. Ich wurde kein Bär. Doch böse wurde der kleine Djmal.“ Er hielt inne, fragte: „Komme ich auch wirklich ins Fernsehen?“ Und als die Reporterin heftig nickte, fuhr er fort: „Und böse ließ der kleine Djmal seine bauschige Hose herunter und setzte sich mit dem Hinterteil auf die heiligen in Gold und Schwarz verschlungenen Buchstaben. Mit ernstem und erhabenem Gefühl saß ich da und wartete auf die unvermeidliche Reaktion, auf die Herausforderung Allahs. Und da wiederum nichts geschah, brach ich in jener Stunde mit Allah und seinem Kreis.“

      „Und woran glaubst du nun?“

      „Dass ich so bald wie möglich mithelfe, Bosnien von den Besatzern zu befreien.“

      „Geh du erst mal wieder brav in die Schule.“ Sie musterte ihn von oben bis unten, sein hageres Gesicht mit den spitzbübischen Augen, die schmalen Schultern, den zartgliedrigen Körperbau.

      „Ich weiß genug, um mitkämpfen zu können“, betonte der Junge mit fester Stimme. „Ich habe mich freiwillig gemeldet; ich muss MP-Schütze werden. Sobald ich vierzehn bin...“

      „Und was sagen deine Eltern dazu?“

      „Die sind lange tot. Eine Bombe...“

      „Das tut mir leid. Hast du denn gar keine Angst, dass dir auch etwas zustoßen könnte?“

      „Und wenn schon! Vielleicht sehe ich ja dann meine Mutter wieder...“ Draußen auf dem Gang rumpelte der Raumpflegewagen vorbei. „Ich muss jetzt wieder“, flüsterte Djmal hastig. „Ich darf mich niemals durch Gäste von meinen Pflichten abhalten lassen.“

      „In Ordnung, Sir“, befand die Journalistin grinsend. „Ich möchte noch etwas schlafen, bevor ich einen Freund besuche. Bitte mich in zwei Stunden zu wecken.“

      Der Junge nickte beflissen. „Gewiss, Madam, bis um zehn gibt es noch Frühstück“, antwortete er. „Und vergessen Sie nicht mir zu sagen, wann ich ins Fernsehen komme.“

      Anica lächelte, als der Junge hinaustrat. Er ist schon in Ordnung, dachte sie, aber da soll sich einer auskennen, was in den Köpfen dieser jungen Leute vorgeht.

      Eine angenehme Besucherin, dachte Djmal auf dem Flur, eine die sich nie betrank und beinahe immer freundlich war. Ab und zu besuchte sie ein Mann. Es war stets derselbe. Und selbst wenn ihr Freund lange ausblieb, suchte sie mit keinem anderen zu schlafen, nicht einmal mit einem der Pagen, die für Dienste dieser Art kleine Geschenke nahmen, während man den Zimmermädchen harte Devisen dafür bot. Manchmal sah sie aus, als ob sie Sorgen hatte. Doch da konnte man sich irren. Wer kannte sich schon in den Gesichtern der Fremden aus. Sie schauten lächelnd beim Töten zu und weinten, wenn sie glücklich waren.

      Anica indes nickte ein. Was sie träumte, war erstaunlich klar. Die Vorgänge liefen rasch hintereinander ab, und sie erinnerte sich hinterher nicht mehr an alle. Doch anscheinend war eine Schlacht gewonnen worden, und der von anderen Würdenträgern begleitete Fliegergeneral reichte ihr die Hand. Ihr wurde der Generalsrang angeboten, sie akzeptierte, fand sich in einer Uniform mit goldenen Sternen wieder. Die Montur war neu, das Hemd frisch gestärkt und die Hose himmelblau und sehr lang, mit goldenen Streifen versehen. Die Jacke mit den fünf Goldsternen auf den Schultern empfand sie als zu eng. Und eine Mütze mit Goldkordel gehörte selbstverständlich dazu. Es war eine Luftwaffenuniform – sie war jetzt Pilotin. Ihr Auftrag schien höchst logisch zu sein. Sie wurde auf einem Tornado eingesetzt, selbstverständlich ein deutscher Kampfjet. Ihr wurden die Bordwaffen erklärt und das Ziel, das auf dem kleinen Bildschirm über dem Steuerknüppel konkret eingezeichnet und beschriftet war. Die Kanonen ihres Jets sahen aus wie übergroße Teleobjektive, wie sie von Fotoreportern und Paparazzi benutzt wurden. Anica flog in einem Geschwader von verschiedenen Flugzeugen unterschiedlicher Nationalität, jedes hatte einen bestimmten Zweck, eine bestimmte Spezialität, einen bestimmten Auftrag. Allmählich wurden die Flugzeuge kleiner. Das nächste vor ihr war nurmehr ein kleiner Segelflieger aus Holz. Die erläuternde Stimme über ihren Kopfhörer wurde zu einem Flüstern: „Kampfmöwen“, raunte die Stimme. „Eine Geheimwaffe. Sehen Sie?“ Sie sah die Tiere, jedoch waren es Tauben, ein ganzer Schwarm Tauben, die gemächlich ihren Jet umkreisten. Sie erkannte ihre entzündeten Augen und ihre verkrüppelten Füße. Die Stimme teilte ihr weitere Einzelheiten mit: Die Tiere seien äußerst intelligent, vortrefflich ausgebildet und mit elektronischen Geräten ausgerüstet.

      Doch dann befand sie sich wieder allein im Cockpit, wo sie rauchte und nachdachte. Irgendetwas beunruhigte sie. Sie konnte keine Kampfpilotin sein, sie wusste, das war unmöglich. In einem unvermittelten Szenenwechsel stand sie wieder vor dem Fliegergeneral. Er grüßte schneidig, nannte seinen Dienstgrad. Dann belobigte er sie für ihren journalistischen Einsatz. Sie erhielt je einen Orden für spezielle Kameraperspektiven, gelungene Schnappschüsse sowie anrührende Porträts von verwundeten Soldaten und zivilen Kriegsopfern; obendrein bekam sie die attraktivsten Veröffentlichungsmöglichkeiten in Aussicht gestellt. Zuletzt entschuldigte sich der General, dass er nicht um Genehmigung gebeten hatte. Seine knappen Worte waren vage und unverständlich, schienen Anica gleichwohl treffend, sinnfällig. Sie sah ihn zu Boden starren und erst den Blick heben, als sie befahl: „Abtreten!“

      Nun verwandelte sich