Norbert F. Schaaf

Afghanistan, Srebrenica & zurück


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Bart, sah Anica mit dem Bajonett hantieren, sich bücken, und sie traute ihren Augen nicht: Der unmenschliche Kerl gefiel sich wahrhaftig darin, sich stolz mit dem gerade abgehackten Kopf seines Opfers ablichten zu lassen.

      Als die Reporterin die Kamera zur Hand nahm, hinderte sie der Offizier daran, indem er das Objektiv herunterdrückte und mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf schüttelte. Dass sie die Kleinstkamera in ihrer Handtasche mit frischem Tape laufen ließ, bemerkte er nicht.

      Die Nacht war mondlos, schwarz, und nur der weiße Schein der Lichtkegel aus den Stablampen hob immer wieder entsetzte, verzweifelte Gesichter und die auf sie herabsausenden Gewehrkolben geisterhaft aus der Dunkelheit hervor, die lackierten Stahlhelme und die zum Schlag erhobenen Soldatenhände. Die Szenerie hatte etwas Gespenstisches, Unwirkliches, eine grausige Licht- und Schattentragödie spielte sich ab, und das grell gellende Wehgeschrei der gefolterten Menschen wirkte in Anicas Ohren schmerzhaft, alarmierend und gleichzeitig blockend, betäubend.

      Über das Funkgerät befahl der Hauptmann die Lastwagen herbei. Unter Anschreien und Prügel trieben die Uniformierten die Menschen auf die Pritschen. Aus den Führerhäusern ließen sie die Lichtkegel ihrer Stablampen tanzen über das, was sie zurückließen: zerbrochenen Hausrat, zertretene Lebensmittel, zerstörte Hütten und Zelte, dazu eine Vielzahl Kleiderreste und -fetzen, sowie zerschundene Schwerverletzte und auch Tote.

      Die unvermittelt eintretende spukhafte Stille lähmte Anica. Nur die Wellen des Flusses klatschten rhythmisch an die Ufersteine. Hoch über der Schlucht stiegen schwache Dunstschleier auf, die Sterne erblassten darunter, ihr Flackern am Horizont über dem Hochkamm des Gebirgsmassivs ließ nach, und der eben noch pechschwarze Hintergrund des Himmels, auf dem sie geleuchtet hatten wie Diamanten auf dunkler Rohseide, hellte sich ein wenig auf, weil die fahle Scheibe des Dreiviertelmondes hinter dem Berg auftauchte.

      Dies- und jenseits des Wassers lag die Stadt im Dunkel verloschener Neonlichter. Nur an den Spitzen der höchsten Gebäude glühten rote Signallampen, die die Anflugschneise für das Aerodrom Vojkovic markierten. Die Luft wurde plötzlich empfindlich kühl, den Morgen ankündigend, aus der Ferne waren sich nähernde Geräusche einer Flugmaschine zu vernehmen.

      Anica stieg über das Geröll zu den verwüsteten Behausungen. Die Soldaten hatten die Bretterwände auseinandergerissen, unter ihren Füßen knirschte zerschlagenes Geschirr. Eine gefleckte Katze flüchtete vor ihr, rettete sich mit einem gewagten Sprung über einen Uferfelsen. Asche aus umgestürzten Kochöfen lag verstreut über Schlafmatten und Tüchern. Wie betäubt wendete sich die Journalistin ab. Sie saugte die scharfübelriechende Luft ein, stieß den Atem heftig aus und schloss für einige Augenblicke die Augen. Ekel überkam sie und ließ sie einen Schritt schneller gehen. Am plätschernden Ufer der Miljacka verhielt sie, wechselte mechanisch die Bandkassetten ihrer Kameras.

      Anica war in dieses Land gekommen, nach drei Wochen Aufenthalt im Konfliktgebiet Afghanistan, als die UN Bosnien-Herzegowina überstürzt als eigenständigen Staat anerkannt hatten. Sie wusste aus Erfahrung: Überall dort auf der Welt, wo sie ihre Interessen und ihren Einfluss berührt sahen, schufen die Mächtigen Fakten. Damit fanden sich in der Regel die Betroffenen natürlich nicht ab, sondern setzten sich dagegen zur Wehr, stießen auf Gegendruck, erlitten erneute Pression, derer sie sich letztendlich mit Waffengewalt zu entledigen suchten. Was Anica hier mit dem Objektiv registrierte, war die Niederlage der bodenständigen Menschen, die als Vielvölkergemisch über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte leidlich gut zusammen gelebt hatten. Das Widersprüchlichste in dieser Situation sah die Journalistin darin, dass jede Volksgruppe, jede Religionsgemeinschaft den Sieg für sich reklamieren wollte. Niemand mochte sich damit abfinden, als Unterlegener zu gelten und behandelt zu werden. Deshalb bediente man sich gepanzerter Fahrzeuge, Infrarotgewehre und elektronisch gesteuerter Raketen und bevorzugte nächtliche Kampfeinsätze mit Leuchtspurmunition, um der irrsinnigen Abstraktion der Gemetzel zu entfliehen. Anica zeichnete mit der Kamera Geschichte auf, eine grauenerregende Historie aus vermeintlichen Siegen und uneingestandenen Niederlagen in einem Kampf, der ihrer Meinung nach lange von der übrigen Welt vorauszusehen, in seiner Tragweite missdeutet, jedoch nach Kräften geschürt worden war. Dann waren die unvermeidlichen Appelle gefolgt, die Völkergemeinschaft müsse eingreifen, und man nannte die Kriegseinsätze unter dem blauen Helm friedenserhaltende Maßnahmen. Die Menschen empfanden diesen Militärapparat gleichwohl als Angriff auf ihre Selbstbestimmung und als bewaffnete Erpressung, von der sie sich in die Knie zwingen lassen sollten. Dass Erfolg den Aggressor ermutigte, war eine alte Erkenntnis im Land der Partisanen, die bis heute organisiert waren in Veteranenverbänden, um die Erinnerung an erlittene Schmach wachzuhalten, und als Mahnung, dass der Versuch, den Aggressor beschwichtigen zu wollen, anstatt ihm mit Bestimmtheit entgegenzutreten, noch niemals honoriert worden war. Musste indessen der Angreifer, der sich über alle rechtlichen Gegebenheiten und selbstverständlichsten Gesetze der Menschlichkeit hinwegsetzte, eine militärische Niederlage einstecken, erlitt nicht nur des Gegners Prestige, sondern vor allem sein Eroberungsdrang einen empfindlichen Schlag. Doch nichts konnte wirklich dazu beitragen, die Kriegsgelüste zu dämpfen, wenn alle Seiten die Rechtmäßigkeit ihres Handelns ausschließlich für sich in Anspruch nahmen. Das Land war ein Flickenteppich der gegensätzlichsten und widersprüchlichsten Interessen und Ansprüche, die oft ethnisch oder religiös begründet wurden, im Grunde hingegen vorwiegend materiell ihren Ursprung hatten: Es ging um Besitz und Macht und die Menschen, die daran hingen – direkt als Eigentümer oder im Abhängigkeitsverhältnis von ihnen.

      Der Sommer ist schnell vorbei, dachte Anica. Noch drei Monate oder etwas mehr, dann setzten die ersten Herbstregen ein. Erst jedoch kam die Bora, ließ die Menschen erstarren unter ihrem orkanartigen, kalten Fallwind. Dann würden schwere, graue Wolken über das Land treiben, es aufweichen und manche Wege unpassierbar machen, bis der Winter alles in erzene Kälte goss: die bizarre Topografie des Landes, mehr noch aber die Gemüter seiner Bewohner. Dennoch würde es genug Menschen geben, die weiterhin mit erkalteten Herzen ihre Waffen auf ihre Nachbarn abfeuerten, oft als Heckenschützen feige aus der Deckung von Beton und Fels. Kein Autokonvoi, kein Transportflugzeug mit Hilfsgütern würde vor den Männern sicher sein, die aus dem Hinterhalt kamen, ausgenommen die Nachschublieferungen an Waffen und Munition. Die Militärmacht der Vereinten Nationen würde ein zerschlissenes Netz bleiben von bedrohten Stützpunkten, hinter deren Wällen und Panzerwagen die fremden Soldaten dieses Land verfluchten, seine Bewohner und sein Klima, seine Hitze und seine Kälte, seine Flüsse und seine Schluchten, seine verhängnisvollen Tage und unerbittlichen Nächte.

      12 Lynchmord

      Was Anica dann hinter der nächsten Flussbiegung erblickte, vertrieb jäh jeden Gedanken aus ihrem Kopf. Sie zuckte zusammen, erschrak und erstarrte, ihre Augen blieben gebannt nach oben gerichtet. Man hatte vier Menschen, drei Männer und eine Frau, an einem Galgengerüst aufgehangen. Einige der Soldaten beleuchteten die schaurige Szene mit Scheinwerfern, damit andere Fotos von den bedauernswerten Opfern machen konnten. Der Hauptmann stand daneben, rieb sich die Hakennase und sah zu. Als er die Journalistin bemerkte, gab er hastig einen Befehl, und Anica beobachtete mit Schauder, wie die Soldaten die Erhängten von diesem gesetzwidrigen, jedem Rechtsempfinden hohnsprechenden Hochgericht herunterholten.

      Anica löste sich aus ihrer Erstarrung und zerschnitt das vierfach zusammengedrehte Fernsprechkabel, an dem die Frau hing, genauer gesagt, das Mädchen, denn nach dem jungen, porzellanweißen toten Gesicht zu urteilen, handelte es sich wirklich noch um ein Mädchen. Mit einem Messerschnitt durchtrennte die Reporterin den letzten der vier Kabelstränge, ließ sich die Tote in die Arme gleiten und legte sie ins Gras. Zaghaft berührte sie mit zwei Fingern die zerbrechlich wirkende Stirn des Mädchens und streichelte zart die feine durchsichtige Haut. Anica traten Tränen in die Augen. Armes Mädchen, trauerte sie, was ist das für ein Leben, das dich zu einem solchen Ende geführt hat? Alles, was mit diesem Augenblick verbunden war, die Gedanken, das Gesehene, die Gefühle, der Kummer, alles prägte sich Anica gewiss für alle Zeit ins Gedächtnis. Die Mädchenleiche trug einen dunkelblauen Mantel aus grobem, dünnen Baumwolltuch, auf der Brust aufgeknöpft, darunter kam eine gestrickte Bluse zum Vorschein; ein Bein steckte in einem knallroten, oben ungleichmäßig abgeschnittenen alten Gummistiefel mit einer halbabgerissenen, durch eine Schnur festgebundenen Sohle, während das andere nur mit zerschlissenem Nylon bestrumpft war, in Kniehöhe klaffte ein großes Loch, durch das die weiße, leblose Haut