Klaus Hammer

Artikel 20.4


Скачать книгу

Anfang 2015 Europa überziehe eine Gefahr erwacht, die man nicht mit Parteipolitischem klein klein begegnen könne. Daher hatten sich auch die eher kämpferischen Linken nicht zur Aufstellung eines Gegenkandidaten durchringen können.

      Ihm konnte das heute egal sein. Er würde wieder auf einer Kanzel stehen und konnte zu seinen Schäfchen reden. Fast so wie die Predigten, die er in seinem Leben vor dem Präsidentenamt gehalten hatte. Es hatte eine kleine Debatte in der Öffentlichkeit gegeben dass er, anstatt des Bundestagspräsidenten, die Eröffnungsrede halten sollte. Als jedoch der amtierende Bundestagspräsident Lammert ausdrücklich betonte, dass es ihm eine Ehre sei das Privileg der Eröffnungsrede an ihn abzugeben, waren die Debatten darum schnell wieder beendet gewesen.

      Er schritt zwischen den Reihen der Parlamentarier hindurch, geradewegs auf das Rednerpult zu. Hinter sich den Haupteingang mit seinen großen Glastüren, vor denen heute wie an jedem Sitzungstag, Wachleute standen um zu verhindern, dass jemand unbefugt in den Plenarraum eindringen konnte. Geradeaus sah er das Rednerpult auf das er sich zubewegte. Davor befand sich noch der leicht gebogene Tisch mit den vier Arbeitsplätzen der Protokollanten. Diesen musste er leicht links liegen lassen um zum Rednerpult zu gelangen. Insgeheim schmunzelte er über diesen kleinen Wortwitz, wobei dieses Schmunzeln seinen Auftritten immer eine so menschliche Note gab, wie er meinte.

      Die Regierungsbank, von ihm aus gesehen links neben dem Platz des Bundestagspräsidenten war selbstverständlich noch leer. Eine Regierung würde die Koalition aus CDU/CSU und der SPD in den nächsten Tagen bilden. Dann käme auch auf ihn wieder Arbeit zu. Er würde die Kanzlerin und die Minister vereidigen.

      Direkt hinter und oberhalb des Platzes des Bundestagspräsidenten, hing der zweieinhalb Tonnen schwere Bundesadler. Fast wie in einer Kirche, dachte Gauck sich. Die Symbolik ist etwas anders, aber die Anordnung ist ähnlich. Am Fuße des Bundesadlers standen die Bundes- und die Europaflagge.

      Er hatte das Pult erreicht und legte sein Redemanuskript ab. Ein Mitarbeiter des Bundestages hatte ihm bereits ein Glas Wasser auf das Pult gestellt,so dass er während seiner Rede einen trockenen Hals würde bekämpfen können. Wenigstens das ist besser als bei den Predigten. Da hatte er damals nicht einfach ein Schluck Wasser trinken können, wenn sein Rachen trocken wurde.

      Er sah auf das Rednerpult hinab. Dann tippte er auf die Tasten für die Höhenverstellung um das Pult auf die für ihn ideale Höhe ein zu stellen.

      Sein Blick schweifte leicht umher. Vor ihm befanden sich die Reihen der jüngst gewählten Parlamentarier. Oberhalb davon befanden sich die Plätze für die Zuschauer. Von der Tribüne aus konnten die Menschen dem parlamentarischen Treiben zusehen. Hinter den Zuschauern, auf dem Rundgang für den Zugang zu den Tribünen befanden sich jeweils rechts, links und in der Mitte Kameras, die das Geschehen in die weite Welt hinaus transportierten. Zuständig für die Aufzeichnung und die Verbreitung war das Parlamentsfernsehen der Deutschen Bundestages. Nach einem Bundestagsbeschluss von 1991 wurde das Parlamentsfernsehen aufgebaut und startete 1995 als parlamentarischer Dokumentationskanal seinen Sendebetrieb. Sämtliche Plenardebatten sowie öffentliche Sitzungen und Anhörungen von Ausschüssen werden live, unkommentiert und in voller Länge übertragen. Darüber hinaus befanden sich verschiedene Reporter der Print- und TV Medien auf diesem Rundgang. Sie würden sich eigene Bilder machen. Direkt unterhalb der Tribünen befanden sich links und rechts neben dem Haupteingang die Kabinen der Mitarbeiter des Parlamentsfernsehens und der technischen Dienste, die z.B. die Mikrofonlautstärke und die Beleuchtung im Saal steuerten.

      Gauck nahm langsam seine Lesebrille aus der Jackentasche seines Jacketts, setzte sie auf und rückte noch einmal die Seiten seines Manuskriptes zusammen. Sein Redenschreiber hatte die Rede von vor vier Jahren als Vorlage genommen und sie leicht angepasst. Das würde wahrscheinlich niemandem auffallen. So wenig wie vor vielen Jahren den Menschen aufgefallen war, das die Neujahrsansprache des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl aus der vorherigen Legislaturperiode von dem damaligen und jetzigen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert stammte.

      „Heute, liebe Abgeordnete, konstituiert sich zum 19. Mal ein Deutscher Bundestag, der aus allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Wie immer man das Wahlergebnis vom 6. August beurteilen mag: Dies allein ist ein eindrucksvoller Beleg für die politische Stabilität dieser deutschen Demokratie, die inzwischen mehr Legislaturperioden aufzuweisen hat, als die Weimarer Demokratie an Jahren erlebt hat.“

      Er sah im Plenarsaal in die Runde. Der Großteil der Abgeordneten nickte oder schloss und öffnete zustimmend langsam die Augen.

      Es folgte eine historische Würdigung dieses 16. Augusts sowie Danksagungen an ausgeschiedene - und eine Begrüßung der neu in den Bundestag gewählten Abgeordneten.

      „Sie alle übernehmen heute ein Mandat, und den meisten wird bewusst sein, dass dies nicht ein Beruf wie jeder andere ist. Nicht alle Abgeordneten werden die gleichen Aufgaben und Funktionen wahrnehmen, aber alle haben die gleiche Legitimation und die gleichen Rechte und Pflichten. Wir sollten das eine so ernst nehmen wie das andere, die Rechte wie die Pflichten.“

      Irgendetwas war merkwürdig. Es roch als ob jemand hier im Plenum rauchen würde. Wenn das so wäre, das wäre das eine Ungeheuerlichkeit.

      „Mit der Konstituierung des Bundestages endet auch die Amtszeit der Regierung, die ihre verfassungsrechtliche Legitimation aus der Wahl des Kanzlers bzw. der Kanzlerin durch das Parlament bezieht. Auch während der Dauer der Koalitionsverhandlungen ist die Handlungsfähigkeit von Parlament und Regierung gesichert. Und selbstverständlich bedarf eine geschäftsführend amtierende Bundesregierung nicht weniger parlamentarischer Kontrolle als eine neue gewählte.“

      Gauck lies seinen Blick über das Plenum gleiten.

      Nichts.

      Dann suchte er auf den Zuschauerrängen nach verdächtigen Anzeichen dafür, dass jemand rauchte.

      Auch nichts.

      Dieser Brandgeruch begann ihn zu irritieren.

      „Niemand wird deshalb ernsthaft erwarten dürfen, dass der Bundestag seine Arbeit erst nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen aufnehmen wird.“

      Die ihm direkt gegenüber sitzenden Parlamentarier der CDU begannen langsam die Augen auf zu reißen, als ob sie etwas furchtbares sehen würden. Immer mehr Abgeordnete schienen etwas zu sehen, dass sich hinter ihm befand.

      „Beide Verfassungsorgane, Regierung wie Parlament, müssen und können ihre Aufgabe wahrnehmen. Zur Verantwortungsübernahme durch das Parlament gibt es keine überzeugende Alternative.“

      Inzwischen starrten ihn alle Abgeordneten aus großen Augen an. Er konnte nicht mehr anders. Er drehte den Kopf gerade so weit nach rechts, dass er hinter sich die Rauchsäule aufsteigen sah.

      Hinter den leicht erhöhten Sitzplätzen des Bundestagspräsidenten und der Plätze der Regierung und der Ländervertreter befand sich eine etwa zwei Meter hohe, leicht gekrümmte, Wand. Daneben standen zwei weitere Wände die etwa drei Meter hoch waren. Diese Wände stellten die Rückwand des Plenums dar und trennten den Plenarsaal auch optisch von den dahinter liegenden Saal ab.

      Genau hinter der mittleren Wand trat eindeutig eine hellgraue Rauchwolke hervor und suchte sich ihren Weg nach oben. Joachim Gauck drehte sich vollkommen um. Er riss die Augen auf. Anhand der Reflektionen an den Glastrennwänden hinter der Präsidiumswand und dem Flackern der Flammen unter dem Bundesadler konnte man erkennen, dass direkt hinter der Wand ein scheinbar nicht kleines Feuer offen brannte.

      Den Zuschauern auf den Tribünen war der Rauch und das Feuer auch nicht entgangen. Es brach Panik los.

      *

      9:30h Feueralarm

      Die offensichtlich durch Lautsprecher verstärkte Stimme drang durch den gesamten Plenarsaal.

      „Meine Damen und Herren, bitte verlassen Sie den Saal langsam und geordnet über den Zugang, über den Sie das hohe Haus betreten haben! Bitte verhalten Sie sich ruhig. Es besteht kein Grund zur Panik. Folgen Sie bitte den Anweisungen der Ordner!“

      Durch den gesamten Saal drang die gellende Alarmpfeife der Brandmeldeanlage. Ihr Ton